Das Landgericht Köln hat in seinem berühmten Urteil vom 7. Mai 2012 die religiöse Beschneidung als rechtswidrige Körperverletzung bewertet. moritz suchte in Greifswald nach verschiedenen Meinungen – diesmal von einem Juristen.

Professor Sowada, wann haben Sie von diesem Urteil zum ersten Mal gehört?

Ich vermute, dass ich Ende Juni davon in einer Tageszeitung gelesen habe. Also mit Einsetzen der Diskussion in den Medien und der Öffentlichkeit.

Ein Schöffengericht des Landesgerichts hat das Urteil gefällt – wie läuft so etwas ab?

Nachdem in der ersten Instanz das Amtsgericht den Vorgang als straflos bewertete und den muslimischen Arzt freigesprochen hatte, legte die Staatsanwaltschaft gegen dieses Urteil Berufung ein. Zuständig war hierfür die Kleine Strafkammer am Landgericht, die mit einem Berufsrichter und  zwei ehrenamtlichen Laienrichtern, den sogenannten Schöffen, besetzt ist, die keine Juristen sind. Das Gericht stellte eine rechtswidrige Körperverletzung fest, sprach aber den Beschneider frei, da er sich – wie wir Juristen sagen – im unvermeidbaren Verbotsirrtum befand.

Wie kommt so etwas dann in die Öffentlichkeit?

Teilweise können Gerichte ihre Entscheidungen in juristische Datenbanken einstellen oder an Fachzeitschriften zur Veröffentlichung einsenden. Im vorliegenden Fall ist aber auch die Fachwelt aus den allgemeinen Medien auf das Kölner Urteil aufmerksam geworden. Das könnte in der Weise in Gang gekommen sein, dass das Gericht oder die Staatsanwaltschaft entweder an einen Journalisten oder an einen Rechtswissenschaftler herangetreten ist, der sich zuvor für die Strafbarkeit der Knabenbeschneidung eingesetzt hat. Die juristische Fachdiskussion ist im Jahre 2008 in Gang gekommen; sie wurde vor allem durch einen Beitrag des Strafrechtsprofessors Holm Putzke in der Festschrift für seinen akademischen Lehrer, Professor Rolf Dietrich Herzberg, ausgelöst.

Holm Putzke ist auch medial präsent; wissen Sie warum ihn das Thema so interessiert?

Meines Wissens ist das Interesse an dem Thema aus einem Gesprächskreis um Professor Herzberg hervorgegangen. Hierbei könnte auch der Umstand eine Rolle gespielt haben, dass die gesetzliche Entwicklung zu einer Stärkung der Kindesinteressen und einer strengeren Beurteilung elterlichen Handelns geführt hat. Vor dem Hintergrund dieser Strenge mag man die fortdauernde Duldung der Beschneidungspraxis als ungereimt ansehen.

Inwieweit ist die Beurteilung elterlichen Handelns verschärft worden?

Im Jahre 2000 wurde mit der Änderung des §1631 Absatz 2 des Bürgerlichen Gesetzbuches, das Recht von Kindern auf gewaltfreie Erziehung festgeschrieben und bestimmt, dass körperliche Züchtigungen durch die Eltern nicht mehr erlaubt sind.

Gab es vor dem Kölner Urteil kein juristisches Interesse an diesem Thema?

Das war doch recht überschaubar. Es wurden einige Fachaufsätze veröffentlicht. Aber es ist wie immer – wo kein Kläger, da auch kein Richter. Wenn die Eltern mit dem betroffenen Jungen im Kölner Fall nach der Komplikation wieder zu dem muslimischen Arzt gegangen wären, hätte dieser das Kind sicherlich gut behandelt und sich aber auch nicht selbst angezeigt. Es muss erst zu einem kultur-übergreifenden Zusammenwirken kommen, bei dem irgendjemand sagt, das geht doch aus Sicht des Kindeswohls nicht. Wenn die Beteiligten kein Problem damit haben, wer sollte es dann auch anzeigen? Es ziehen ja keine Staatsanwälte durch Köln, auf der Suche nach Beschneidungsopfern, das versteht sich.

Welche Wirkung hat das Urteil jetzt eigentlich, wenn doch Gerichte nicht an dieses gebunden sind?

Juristisch hat es bloß die Konsequenz, dass der Arzt in dem konkreten Fall freigesprochen wurde, es hat keine rechtlich verbindliche Leitwirkung. Jedes Gericht in Deutschland müsste für sich seinen Fall anhand der gleichen Rechtsnormen bewerten und könnte natürlich zu einem anderen Urteilsergebnis kommen. Obwohl also eine juristische Bindungswirkung für andere Fälle fehlt, kommt dem Urteil aber dennoch eine gewisse faktische Ausstrahlungswirkung zu. Zunächst einmal wird die Beschneidungsdiskussion aus dem Bereich einer rein akademischen Kontroverse in die Rechtswirklichkeit gehoben. Und in der öffentlichen Wahrnehmung entsteht der Eindruck, durch dieses einzelne Urteil habe sich die Rechtslage in Deutschland gewandelt im Sinne eines Umschwenkens der Rechtsprechung von einem ehemals straffreien Zustand in die Strafbarkeit. Die Richter konnten damals aber nur den ihnen vorgelegten Fall für sich entscheiden und nicht mit Blick auf die Konsequenzen Rücksicht nehmen oder die Konsequenzen scheuen.

Hat Sie die Debatte zu diesem Thema überrascht?

Mich hat das Urteil überrascht. Bislang wurde es geduldet und das war auch internationaler Standard. Mir ist auch kein Urteil bekannt, das die Knabenbeschneidung explizit erlaubt. Das Thema war ein weißer Fleck auf der juristischen Landkarte. In der momentanen Phase nach dem Urteilsspruch ist es eine rechtliche Grauzone.

Der aktuelle Gesetzesentwurf bezieht sich auf das Sorgerecht der Eltern. Wurde aus Ihrer Sicht ein gangbarer Weg gefunden?

Erst einmal kommt die Religion als Rechtfertigungsgrund so nicht mehr vor. Sie ist der Anknüpfungspunkt gewesen, warum der Gesetzgeber überhaupt erst darüber nachgedacht hat. Nun wäre anzunehmen gewesen, dass der Gesetzgeber eine Beschneidung aus religiösen Gründen erlaubt. Inzwischen darf man das grundsätzlich aus allen Gründen. Es sollte so sicherlich der Eindruck einer religiösen Sonderregelung vermieden werden.

Was wäre aus Ihrer Sicht geschehen, wenn der Gesetzgeber sich für eine Strafbarkeit ausgesprochen hätte?

Vermutlich wäre die Zahl der Beschneidungen zurückgegangen, aber wohl nicht auf Null gesunken, was irgendwann ein Strafverfahren nach sich gezogen hätte. Dagegen würden dann die Betroffenen den Rechtsweg ausschöpfen und geltend machen, in ihrem Grundrecht auf Religionsfreiheit und in ihrem Erziehungsrecht beeinträchtigt zu sein. Und das würde ziemlich schnell zum Bundesverfassungsgericht kommen. Die umgekehrte Variante, die sich jetzt abzeichnet, ist ungleich problematischer. Denn wir haben zwar jemanden, der nachteilig betroffen ist – das ist das Kind. Das Kind hat diese Klagemöglichkeit nicht, oder nur vermittelt über die Eltern, welche diesen Schritt aber nicht gehen werden.

Würden Sie dem Urteil zustimmen?

Die Knabenbeschneidung erfüllt unzweifelhaft den Tatbestand einer Körperverletzung, die spannende Frage ist, ob es eine rechtswidrige Körperverletzung ist. Gewiss dürfen Eltern in medizinisch indizierte ärztliche Heileingriffe einwilligen. Um solche handelt es sich bei rein religiös motivierten Beschneidungen aber nicht, da ihnen jegliche Heilfunktion fehlt. Die oft genannten Empfehlungen der Weltgesundheitsorganisation für eine Beschneidung beziehen sich auf die HIV-Vermeidung. Sie können aber nicht als Argument für die Knabenbeschneidung herangezogen werden, da der sexuelle Übertragungsweg in diesem Alter noch gar nicht gegeben ist. Ein Aufschub wäre also bis zur Entscheidung des Jungen zu Beginn der Pubertät insoweit ohne Weiteres möglich. Nach meiner Einschätzung ist dieser Eingriff schwerer, als ich es früher wahrgenommen habe. Ich hielt es eher für einen „Sturm im Wasserglas“, wenn ich ehrlich bin. Und da würde ich heute sensibler herangehen. Aber ich halte es anderseits – im Gegensatz zur ganz eindeutig unzulässigen Genitalverstümmelung bei Mädchen – nicht für eine so evident schlimme Situation, dass ich sagen würde, es dürfe dort überhaupt kein Zugeständnis geben. Für die Entscheidung des Gesetzgebers spielen ganz sicher auch politische Überlegungen eine wichtige Rolle. In diesem Zusammenhang ist der gesamte Fragenkreis einer gelingenden Integrationspolitik berührt. Aber ein schlechtes Gefühl bleibt, da der Preis für die Toleranz, die wir den religiösen Vorstellungen der Eltern entgegenbringen, nicht von Ihnen oder mir, sondern von den betroffenen Kindern zu zahlen ist. Und es sollte auch nicht übersehen werden, dass die Kinder keine politische Stimme haben, ihre Grundrechte zu artikulieren.

 Ein Interview von Daniel Focke