Harry Rowohlt folgte am vergangenen Donnerstag dem Ruf des Koeppenhauses und der Buchhandlung Weiland in die Greifswalder Stadthalle. Imposante 180 Minuten feinste Kleinkunst voller Gesangseinlagen, Anekdoten und tiefschwarzen Witzen streichelten die kulturelle Kleinstadtseele. Auch wenn Rowohlt das geliebte „Saufen“ aufgrund der leidigen Polyneuropathie aufgeben musste. Gebremst hat ihn das kaum.

Im Jahr 1942 verprügelte ein noch jugendlicher Hitlerjunge einen bereits erwachsenen Polen mit grausiger Vehemenz und unter Zuhilfenahme seines Gewehrkolbens. Der Pole fleht, der Deutsche möge von ihm ablassen, schließlich werde er, der Pole, irgendwann Papst. Da grinst der Deutsche und sagt: „Und ich werde dein Nachfolger.“

Das Publikum lauscht gebannt den Worten aus dem Marx-Bart

Harry Rowohlt erzählt diesen Witz nach der Pause, während er sich mit ruhiger Hand Wasser nachschenkt. Das Publikum in der ausverkauften Greifswalder Stadthalle, bis dato zuverlässig lachend, bleibt weitestgehend ruhig. Das einzige Mal an diesem Abend. Harry Rowohlt sieht zufrieden aus, lächelt wissend und erzählt noch einen Witz, diesmal einen harmloseren.

Harry Rowohlt ist Übersetzer, Marxbart-Träger, Vorleser, „Punk-Ikone in Erfurt“, Schriftsteller und glänzender Imitator alternder Kulturprominenter von Günther Grass bis Marcel Reich-Ranicki. Den Abend beginnt er mit der plaudernd zelebrierten „Einschleimphase“, die Journalisten können ihre Fotos machen und er etwas Lokalkolorit zum besten geben. Es folgen vorgelesene Passagen aus dem von ihm aus dem Englischen ins Deutsche übersetzten Buch  „Sie sind ein schlechter Mensch, Herr Gum!“ von Andy Stanton.

Erfahrungen aus 40 Jahren Kulturbetrieb

Rowohlts zartes Urvieh von einer Männerstimme kriecht durch die Lautsprechermembranen in die zuhörenden Schädel, erzeugt dort wohlige und groteske Bilder in bunten Farben. Sekunden später schiebt er eine mehrminütige Episode in sein Vorlesen ein, das gediegene Lauschen ist unterbrochen. An seine Stelle tritt Erlebtes aus 40 Jahren Kulturbetrieb. Er kalauert über „eine der vielen Töchter von Joachim Gauck“, der erst während ihres Irlandaufenthaltes rote Haare und Sommersprossen wuchsen, erzählt von Audienzen bei Fidel Castro und als er während eines Empfangs im Schloss Bellevue zum Rauchen kurzerhand auf die Herrentoilette ging.

Eine Hamburger Bäckereifachangestellte („ein rassiger Klopfer mit ansehnlichem Migrationshintergrund“) verkauft ihm in Ekstase leckeres Schoko-Kirsch Gebäck, seine Jugendliebe ruft ihn aller zwölf Jahre besoffen an und erzählt ihm von ihrem Boxer-Hund oder er wird seine Rolle in der Lindenstraße als „Penner“ im realen Dasein nicht mehr los. Harry Rowohlt brummt den von ihm gelesenen Texten filigran Leben ein. Was er erzählt, ist komisch, keine Frage. Doch erst seine Aura als „Gesamtkunstwerk“ schafft es, dass sich die versammelte Schar graumelierter Bildungsbürger nebst Gattin von einem Lacher in den Nächsten kugelt.

In der Stadthalle

Ohne Bilder, Leinwand und Musik

Und das ist schön. Da sitzt ein bärtiger Mann Mitte Sechzig, flink mit Kopf und Zunge und unterhält einen Saal nur mit Hilfe seiner Stimme und beschriebenem Papier. Ohne Bilder, ohne Leinwand, ohne Musik, dafür mit beruhigender Professionalität. Rowohlt wäre nicht Rowohlt, würde er nicht auch den US-Imperialismus, einer Erscheinung die sich trotz ihrer Vitalität auf deutschen Kleinkunstbühnen stiefmütterlicher Behandlung erfreut, in seinen Erzählungen kurz hämisch streifen.

Der Abend endet mit einer viertelstündigen Longline, er presst sich eine Zigarettenschachtel als Handyersatz an sein Ohr und verliest eine Geschichte über eskalierte Allerweltsprobleme. Banal, brüllend komisch und wie von Loriot höchst selbst dem Leben abgerungen. Dann steht er auf, verlässt den Saal und alle gehen nach Hause. So einfach kann erbauende Kultur heute noch sein.

 

Fotos: Ole Schwabe