Eine Straße, ein kleiner Wald und dann: eine versteckte Jugendanstalt, hinter sechs Meter hohen Mauern. Gewaltverbrecher, Drogendealer, Wiederholungstäter – aber alles junge Menschen. moritz berichtet vom Leben hinter den Gittern.
Der erste Eindruck von Neustrelitz ist ein ruhiger, nahezu friedvoll. Ein gepflegter Bahnhofsplatz umgeben von restaurierten Häusern und ersten grünenden Bäumen. Als der Begriff „Jugendanstalt“ fällt, weiß die Angestellte der Ortsinformation, die direkt neben dem Bahnhof ist, erst nicht, was gemeint ist. Mit dem Wort Gefängnis allerdings verweist sie an den Taxiverband. Rund drei Kilometer Entfernung liegen zwischen Neustrelitz und der Jugendanstalt, wo momentan 220 Insassen, davon neun Mädchen, inhaftiert sind. „Natürlich bringe ich auch Verwandte zu Besuchszeiten in die Einrichtung“, erzählt der Taxifahrer aufgeschlossen während der Fahrt. „Erst letzten Sonntag hatte ich eine Mutter, die mir viel von ihrem Sohn erzählte, der dort einsitzt.“
Am Neustrelitzer Ortsende erstreckt sich ein Wald, in welchen das Schild „Jugendanstalt“ den Weg weist. Das Gespräch mit dem Taxifahrer endet als ein wuchtiger, weißer Gebäudekoloss zu Tage tritt. Ein Parkplatz mit zahlreichen Autos der Bediensteten und Schranken, welche die zwei Welten voneinander trennen – die eine hinter der Mauer, die andere davor. Dieser weiße Koloss ist eine der beiden Jugendanstalten in Mecklenburg-Vorpommern und hat Platz für 297 Menschen. Separiert wird das Gelände von einer sechs Meter hohen weißen, glatten Mauer, die mit Hochsicherheitsdraht und mehreren Sicherheitsschleusen versehen wurde. Eine graue, schalldichte Stahltür versperrt den Weg nach drinnen zu dem großen modernen Gelände. Seit nunmehr zehn Jahren läuft die Arbeit mit straffälligen Jugendlichen auf den 155.000 Quadratmetern.
Die Begrüßung erfolgt durch Steffen Bischof, Anti-Aggressivitäts-Trainer vor Ort und verantwortlich für die Öffentlichkeitsarbeit der Anstalt. Ein kühl wirkender Mann, der bereits vor dem Neubau in der vorherigen Neustrelitzer Anstalt gearbeitet hat – klar und offen ehrlich in dem, wie er die Jugendlichen und seine Arbeit einschätzt. Gleich zu Anfang der Begehung des Geländes stellt er mit deutlicher Stimme klar: „Wir beschäftigen die Jugendlichen – sonst beschäftigen sie uns.“ Das Durchschnittsalter der jungen Menschen, die hier inhaftiert sind, liege bei rund 21 Jahren. Meistens sei auch das Elternhaus ein Faktum dafür, dass sie straffällig geworden seien; Scheidung, Alkoholismus und Gewalt sind nur drei Erklärungen dafür. Viele, die hier einmal waren, kämen wieder, seien vorbestraft, konstatiert er in abgeklärtem Ton. Nachdem das sterile Verwaltungsgebäude hinter einer weiteren schweren Stahltür durchquert ist, beginnt der eigentliche Teil des Gefängnisses. Durch keine der Türen kommt ein Häftling ohne einen Beamten – und durch keine ohne den typischen großen Schlüsselbund, den Bischof bei sich trägt. Dieser dient dazu, um jede einzelne dieser Türen zu öffnen – für Außenstehende bleibt nur vage zu vermuten, was dahinter kommt.
In Erscheinung tritt ein endlos langer Gang, links und rechts versehen mit Gitterabsperrungen, die sich an ihm entlang hangeln. Die Vögel zwitschern, es ist einer der ersten schönen Frühlingstage in diesem Jahr. Am Himmel ziehen vereinzelt Wolken ihre Bahnen, während der Stacheldraht das Sonnenlicht reflektiert. An einer der Seite des Gangs offenbart sich ein Garten mit Teich, hinter den Gittern werden Blicke geworfen von jungen Männern in blauen Latzhosen, die gerade an einem Beet werkeln. Im Hintergrund offenbart sich die immer gegenwärtige weiße Mauer – und durch die Sonnenstrahlen scheint sie in manchen Momenten nicht derart einschränkend, wie sie es an einem regnerischen Sonntag tun würde. Bischof sagt, er sei froh, dass die Mauer da ist: „Die gibt Sicherheit.“ Im Durchschnitt verbringen die Inhaftierten eineinhalb Jahre im Vollzug. „Meiner Meinung nach ist das viel zu kurz“, erläutert er seine langjährigen Erfahrungen. Es ergebe sich daraus keine gewinnbringende Sozialisierung für die Jugendlichen, die häufig wegen gefährlicher Körperverletzung oder Diebstahl inhaftiert sind.
In der Neustrelitzer Anstalt haben sie die Möglichkeiten, Haupt- und Realschulabschluss nachzuholen, insgesamt 23 Ausbildungsoptionen stehen ihnen hier zur Verfügung. Verschiedene moderne Werkstätten tauchen nach und nach im Gang auf: Malerei, Küchen für Kochlehrlinge, Holzwerkstätten. Man glaubt es Steffen Bischof aufs Wort, wenn er die Prozedur für Jugendliche beschreibt, wenn jene gegen Vorschriften verstoßen: „Wer diese Möglichkeiten nicht in Anspruch nehmen will und sich weigert, bekommt ein Gespräch mit dem Sozialarbeiter.“ Neben den Ausbildungsmöglichkeiten werden auch Kurse zur Schulung sozialer Kompetenzen angeboten. Theater und Gefangengenchor, Sucht- und Schuldenberatung, Anti-Aggressivitäts-Trainings: Was draußen zu kurz gekommen ist, soll hier schnellstmöglich nachgeholt werden.
Einer der Ausbilder in der Jugendanstalt ist Ingo Brassen. Seit sechs Jahren arbeitet er als Tierpfleger mit Jugendlichen und Hunden aus dem ortsansässigen Tierheim zusammen. Zuvor war er ebenso als Ausbilder tätig – im Kosovo bei der Bundeswehr. Seine vorherige Arbeit sei hilfreich gewesen für die jetzige Tätigkeit, dort musste auch „Zucht und Ordnung herrschen“, erklärt der trainierte 44-Jährige in grüner Arbeitsbekleidung. In seinem Job wolle er keine Wärter-Häftlings-Beziehung aufbauen: „Die Jugendlichen betrachte ich als meine Lehrlinge. Ich schaue nicht in die Akte des Jugendlichen rein, der zu mir kommt.“ Mithilfe der Hunde sollen die Jugendlichen lernen, verantwortungsvoll zu agieren und dadurch weitere soziale Kompetenzen zu erlangen. Brassen hat in der Zuweisung von Jugendlichen zu Hunden ‚seine eigene Reihenfolge.‘ „Natürlich kann ich keinem ruhigeren Jugendlichen gleich einen Hund geben, der auffällig ist, sondern der Junge soll auch gern zu dem Tier kommen“, erklärt er mit geduldiger Stimme. Jeder Jugendliche soll irgendwann soweit sein, dass er mit jedem Hund umgehen kann.
Der Hof der Jugendanstalt, auf dem sich fünf große, bungalowähnliche Gebäude befinden, in denen jeweils rund 50 Jugendliche untergebracht sind, erstreckt sich hinter den Werkstätten. Ein außerordentlich großer Pausenhof könnte man meinen – an den Wegesrändern Bänke und neu gepflanzte Bäume mit anschließendem großen Sportfeld. Hinter den zweistöckigen Hafthäusern liegt der Tierhof, auf dem unter anderem Ziegen, Ponys und Schweine gezüchtet werden. Es ist gerade Mittagspause, die ersten Sonnenstrahlen schenken Wärme, einige Hunde bellen lauthals aus ihren Zwingern. Neben einem kleinen Bauwagen zwischen den einzelnen Gehegen sammeln sich indessen ein paar Menschen zu einer kurzen Kaffeeauszeit.
Einer von den Pausierenden ist Toni*, der wegen gefährlicher Körperverletzung zu drei Jahren Haft verurteilt wurde. Vorher ist der sportliche 23-Jährige schon mehrmals straffällig in Erscheinung getreten. So steht es in seiner Akte, in der ebenso vermerkt ist, dass er wegen „guter Führung“ ab August die Jugendanstalt vorzeitig verlassen darf. Als Haus- und Hofhandwerker arbeitet er auf dem Hof der Tierzucht, mit seinem markanten Kinn und Tätowierungen am Arm macht er einen sehr resoluten Eindruck. Draußen machte er eine Lehre zum Bäcker, er arbeitete, hatte ein Auto und eine Freundin. „Am Anfang als ich hier drin war, war alles scheiße. Mit dem, was man getan hat, muss man erstmal selber fertig werden“, zieht er trocken sein Resümee. „Wenn die Beamten, mit denen man zu tun hat, merken, dass man an sich arbeiten will, dann gehen die gleich anders mit einem um“, stellt er selbstbewusst fest.
Das erste, was er machen will, wenn er draußen ist? „Dann werde ich erstmal Schlagzeug spielen.“ Auch vor seinem Aufenthalt in Neustrelitz hatte er eine Band. Seine Freundin, Freunde und Familie stärken ihm während seiner Haftstrafe den Rücken. Jeder in der Jugendanstalt macht sein eigenes Ding, so etwas wie „Freunde“ könne man seiner Meinung nach nicht in der Jugendanstalt finden: „Wenn, dann nur gute Bekannte, aber davon auch nur wenige.“ Wenn Toni ab August die Haftanstalt verlässt, soll das Kapitel für ihn abgeschlossen sein. Für viele seiner Mitinsassen sieht Toni allerdings schwarz, wenn es darum geht, nicht noch einmal straffällig zu werden: „Die meisten haben nichts im Kopf, die denken nicht weiter. Denen ist es scheißegal, was mit ihnen passiert“, zieht Toni hemmungslos ehrlich seine Bilanzen.
Im Gegensatz zu Toni lässt Philip* nicht mehr Kontakt mit den Beamten zu als nötig: „Ich mach, was ich denke, dazu bin ich alt genug.“ Er ist 21 Jahre jung, Ende Juni darf er die Jugendanstalt nach einem Jahr und sieben Monaten verlassen. Bereits vor seiner Haftstrafe war er mehrmals vorbestraft. Er fuhr ohne Führerschein, besaß rechtsextreme Musik und andere Gegenstände mit gleichem Hintergrund. Der auslösende Moment für seine halbjährige Untersuchungshaft und dem danach kommenden Aufenthalt in der Jugendanstalt war die gefährliche Körperverletzung am leiblichen Vater. Dieser hatte sich bis zum 18. Lebensjahr nicht um ihn gekümmert, „dann wollte er mir vorschreiben, wie ich zu leben habe“, rattert er seine Geschichte herunter. Vorher hat Philip mit seiner Mutter alleine gelebt und eine Lehre zum Tiefbaufacharbeiter gemacht. Es fällt ihm scheinbar nicht schwer von seinen Delikten zu erzählen, denn seine Beschreibungen sind sehr lebhaft.
Der erste Eindruck, den Philip erweckt, hebt sich schnell auf: Als schlanker, nahezu hagerer junger Mann mit schmalem Gesicht und einem kahlrasierten Kopf ist es kaum vorstellbar, dass er einen älteren Mann mittels eines Totschlägers ins Koma prügelte. „Ich hab einfach immer wieder zugeschlagen.“ Zwei Mittäter, Freunde von Philip, waren damals mit dabei – die Gruppe existiert allerdings nicht mehr, wie er gefasst erklärt. Einer davon sei verstorben, der andere habe psychische Schäden davon getragen. Manche seiner Taten bereue er, andere wiederum sah er als notwendig an, „um zu zeigen, dass ich mir nicht alles gefallen lasse.“ Zur Situation zwischen ihm und seinen Vater sagt er unverfroren nur so viel: „Hätte ich während der Gerichtsverhandlung keine Fußfesseln gehabt, wäre das nochmal ausgeartet.“ Wenn er wieder draußen ist, ab diesem Sommer, möchte er selbstständig sein, arbeiten gehen und eine eigene Wohnung haben. Das Anti-Aggressivitäts-Training während seiner Haftstrafe habe ihm geholfen, mit Konflikten umzugehen, ansonsten macht er fernab vom Vollzug lieber sein eigenes Ding. „Ungefähr 70 Prozent aller Leute, die hier sind, kann ich nicht leiden.“
Während Philip noch bis Ende Juni warten muss, um die weiße, sechs Meter hohe Mauer hinter sich zu lassen, verabschieden sich die Beamten der Jugendanstalt untereinander mit einem Gruß ins Wochenende auf dem Parkplatz. Zurück in der Welt ohne Akten und Auflagen, zurück auf der anderen Seite der Mauer.
*Namen von der Redaktion geändert
Eine Reportage von Luisa Pischtschan mit Fotos von Daniel Focke