Paris und Ich. Dies ist keine Geschichte einer Romanze. Diese Geschichte erzählt vom Anfang meines Auslandsaufenthalts in Paris, den ich mir regelrecht erst erkämpfen musste und von meinem unfreiwilligen dreiwöchigen Nomadenleben.
Obdachlos und ohne Universitätszusage stand ich abends an der Gepäckausgabe des Flughafens Orly und starrte auf das Laufband. „Und was machst du, wenn das alles nicht klappt?“, wurde ich vor der Abreise für mein Erasmussemester häufig gefragt. „Ganz ehrlich? Ich habe nicht die leiseste Ahnung!“ Das war die Wahrheit. Als ich Anfang September letzten Jahres aus dem Flugzeug in Paris ausstieg, war ich mit der Klärung meines Problems auch nicht viel weiter. Wie naiv muss man eigentlich sein, hörte ich meine innere Stimme sagen, doch eine Lösung konnte sie mir auch nicht liefern. Ich war auf mich allein gestellt. In meiner Tasche verbarg sich eine Liste mit etlichen Hosteladressen. Doch innerlich sträubte ich mich gegen die bloße Geldverschwendung, da musste es doch noch einen anderen Weg geben.
Den Anfang machte der Optimismus. Drei jüngere Männer neben mir. Wenigstens sie schienen einen Plan zu haben. „Und was treibt euch so in die Stadt der Liebe?“, fragte ich sie mit einem hoffnungsvollen Blick, welcher mich prompt zum Ersatzmann des ursprünglichen Vierergespanns machte und demnach auch Gast für zwei Nächte im dekadenten Hilton Hotel. Dann bringt dieses „Denke Positives und dir wird Positives widerfahren“ ja doch etwas. Fantastisch. Ich gönnte mir das Wochenende um die Stadt, die ich schon ein wenig kannte, näher zu erkunden und mich auf sie einzulassen. Da sich sonst keiner mit mir unterhielt, übte ich meine bisherigen Französischkenntnisse an den Clochards (Obdachlose), die, wie man sich denken kann, allerhand zu erzählen hatten.
Der Gedanke unter der Pont Neuf (Brücke in Paris, Anm. d. Red.) zu residieren, keimte derweil in mir auf. Es wäre zumindest nicht die schlechteste Variante gewesen. Doch es ging auch anders. Tage später bestätigte sich: die Welt, ein Dorf. Erschöpft saß ich abends auf einer Bank bei der Metro Abbesses umzingelt von meinem vielen Gepäck, das ich permanent rumschleppte. Ich versuchte mir glaubhaft einzureden, dass alles schon seinen Lauf nehmen würde, aber die Realität sah anders aus. Es war halb neun und nach und nach leerte sich der kleine Platz. Ich wollte schon fast meine Übernachtungsliste rauskramen, da schweifte mein Blick kurz nach rechts. „Du? Hier?“, „Ja, dasselbe könnte ich dich auch fragen!“
Es war ein mir flüchtig bekanntes Gesicht aus Greifswald. Sie setzte sich zu mir und wir tauschten im schnellen Wechsel und immer noch etwas irritiert unsere bisherige Geschichte aus. Sie hatte sich auch für ein Erasmussemester in Paris entschieden, allerdings an einer anderen Universität. Als ich erwähnte, dass ich keine Unterkunft hätte, intervenierte sie: „Na, ist doch klar. du schläfst bei mir!“ Es war so surreal: Zwei Greifswalder in Paris, nichts voneinander wissend, begegneten sich. Den Tag darauf fand ich mich auf den Wiesen vor dem Eiffelturm wieder, mit Cidre auf den Geburtstag einer Schulfreundin anstoßend, welche zu diesem Zeitpunkt zufällig auch in Paris studierte. Plaudernd genossen wir die uns wärmenden Sonnenstrahlen, ignorierten die klimpernden Miniatureiffelturmverkäufer und tauschten die neusten französischen Erkenntnisse aus.
Wir einigten uns darauf, unseren Schimpfwortschatz zu erweitern, da es uns beiden schon passiert war, dass die Enge in der Metro schamlos ausgenutzt wurde. Der Konsens lag bei „Casse toi pauvre con!“ (Hau ab, Arschloch!). Ihre Freundinnen betrachteten verwundert mein vieles Gepäck und so fing ich an zu erzählen und erinnerte mich an meine erste Begegnung mit der Pariser Universität. Geduld würden es die Franzosen selbst nennen, aber ich nenne es schlichtweg Dreistigkeit, die mir dort begegnete. Zwei geschlagene Stunden saß ich vor Raum 106 und wartete, dass mir endlich Eintritt gewährt wird. Das einzige was ich wollte, war, die Absage in eine Zusage umzuwandeln. Schließlich gelangte ich in den ersehnten Raum, und mit mir drei andere deutsche Mädchen.
Madame war sehr unfreundlich, aggressiv und eher unkooperativ. Mit dem Finger auf jede Einzelne von uns zeigend, sagte sie: „Deutsch, deutsch, deutsch, deutsch. Mit den Deutschen gibt es immer so viele Probleme. Nur mit den Deutschen und ich weiß nicht warum.“ Ich nickte und lächelte nur. Im Innern war ich auch ein wenig stolz auf mich, denn unbestreitbar war es ein Abenteuer, das ich hier durchlebte. Die ganze Problematik mit dem Studieren lässt sich so zusammenfassen, dass anfangs falsche Dokumente an die Pariser Universität geschickt wurden und sie mir daraufhin eine Absage zukommen ließen. Da ich aber schon den Flug gebucht hatte, ließ ich es darauf ankommen und probierte mein Glück, indem ich stets penetrant vor Raum 106 lauerte, um doch noch den Status ‚Student‘ zu erhalten.
Manchmal lernt man aber auch erst seine persönlichen Grenzen kennen, wenn man die Dinge seinen Lauf nehmen lässt. So fand ich mich eines Nachmittags in einem 10 m² Zimmer in der Rue Avenue wieder, welches Marque – einem Wohnungsvermittler- gehörte. Ich witterte eine Chance auf eine sichere und baldige Bleibe, nur deshalb ging ich dieser Offerte nach. Das Zimmer, so stellte sich heraus, sollte ich aber mit einem jungen Mann teilen und, wie ich das richtig überblickte, auch das Bett. Bei Marques Satz „Ihr würdet ein schönes Paar abgeben“ konnte ich noch lachen, als es aber anfing persönlicher zu werden, wurden unsere Gespräche von purer Dubiosität umhüllt.
“Vielleicht musst du ja auch gar nichts zahlen, wenn du hier wohnen willst.“ Daraufhin entgegnete ich ihm schlichtweg, dass ich einen Freund hätte. Als Antwort bekam ich ein mit Stöhnen begleitetes „Oh Girl. The feeling and the body are two different things. You can love your boyfriend, but you are young and why shouldn’t you use your body?” Genug ist genug- vraiment! Fast eineindeutiger konnte sich die Dubiosität nicht äußern und sprengte somit definitiv meine Grenze. Mit einem gekonnt gestaunt gespielten Blick auf meine Uhr gab ich den universellen grenzrettenden Satz wieder: „Oh la vache. Je dois partir. J´ai encore un rendez-vous.“ – Oh mein Gott, ich muss gehen, ich habe noch eine Verabredung.
Doch es sollte nicht das letzte Zusammentreffen mit ihm gewesen sein. Ich brauchte einen Kaffee, sofort. Während ich vor einem Café saß und den Löffel in der Tasse lieblos kreisen ließ, starrte ich, trotz der viele Leute um mich herum, ins Nichts und konnte einen Gedanken in meinem Kopf nicht verdrängen. „Was machst du hier eigentlich in dieser Stadt?“ Ich bemerkte eine kleine Taube, welche mit ihrem hinkenden Bein auf der Suche nach Essensresten war. Ich brach ein kleines Stück meines Croissants ab und warf es ihr hin. „Du hast es dir auch irgendwie einfacher vorgestellt, nicht wahr?“
Paris, die Stadt. Die Leute schwärmen regelrecht von ihr. Sicherlich teilte ich einst ihre Faszination: die vom Jugendstil geformten Metroeingänge, die Arrondissements mit ihrem jeweils eigenen Charme, die scheinbare Leichtigkeit der Franzosen, welche mit einem frischen Baguette regelrecht durch die kleinen Straßen zu schweben scheinen und die Sprache, bei der sogar das abscheulichste Wort bei der Aussprache in süßen Zuckerguss gehüllt wird. Paris je t´aime – ich verfluchte zu diesem Zeitpunkt jene Person, die diesen Ausspruch geprägt hat und auch jene Personen, die dabei große anhimmelnde Babyaugen bekommen. Vermutlich erwartet man einfach zu viel von dieser Stadt. Sie hat zwei Gesichter. Manchmal kann sie unglaublich schön sein und dann, in einem anderen Moment, so unglaublich hässlich. Oder wir halten uns alle nur an dieser Illusion der Stadt der Liebe fest. Das klägliche Gegurre riss mich aus meinen Gedanken. Ich trank den Rest meines Kaffees, legte das Geld auf den Tisch und ging mit den Worten „Täubchen, du hast Recht!“ von dannen.
Jeder Tag war eine neue Herausforderung. Meist frühstückte ich auf einer Bank und schrieb mir eine utopische Tagesliste, die obersten Prioritäten waren stets Universität und Wohnung. Wobei ich nicht sagen konnte, was einfacher abzuhaken war. Dazwischen tummelten sich etliche Bekanntschaften. Da saß ich beispielsweise mit Abdel und seinem Cousin Kamel im Café und wir sprachen über die deutsch-französische Freundschaft. Lachen musste ich bei Ranjid, der sich eines Abends zu mir auf eine Bank setzte und mich nach gefühlten fünf Sekunden fragte, ob ich nun seine Freundin sei. Suchen verbindet. Vincent saß neben mir im Internetcafé und ging Wohnungsanzeigen durch. Wir teilten das gleiche Schicksal, doch er schien erfolgreicher. So kam es, dass ich mich zweimal in seiner Nomadenwanderung einklinkte.
Auch die Metro kann eine Kontaktbörse sein. Mein Kopf lief schon rot an und dennoch kam ich keinen Schritt vorwärts. Ich hing mit meinem Gepäck in einem der Metroausgänge fest. Genieren ist gar kein Ausdruck. Oscar kam mir jedoch zur Hilfe und kurz darauf zierte seine Adresse meine Hand. Die Optimismustheorie bewahrheitete sich eben oft. Und wenn Musik die Pariser Plätze und Straßen erfüllte, durchströmte mich Glückseligkeit und alles war für einen Moment perfekt und die Sorgen vergessen. So lauschte ich dem Straßenkünstler, als er auf den Treppen vor der Sacre Coeur die Menge mit seiner Gitarre und seinem Gesang begeisterte. Als ich hinabging, hörte ich ein näher kommendes „Bonjour, Madame“ – doch ich wusste nicht, dass es mir galt. Erst eine Hand auf meiner Schulter ließ mich umschauen und ich sah einen verrückt gekleideten Mann mit kleinen lustigen Locken und einem Brett in der Hand. Dino, so stellte er sich vor, fragte mich, ob er mich zeichnen könne. Ich willigte ein und so verbrachten wir einige amüsante Stunden zusammen. Letztlich konnte ich das Bild doch für mich behalten und es erinnert mich jedes Mal an die Zeit zurück.
Eines Abends saß ich, welch Überraschung, wieder einmal planlos herum, da erblickte ich Marque, den vermeintlichen Wohnungsvermittler. Ich meine mich zu erinnern, dass er berichtete, das Zimmer wäre nun frei, der Mieter hätte aber noch bezahlt und ich könne dort bis Ende des Monats wohnen. Umso verwunderlicher fand ich es, dass ich ihn, in der Wohnung angekommen, nicht so recht los wurde. Seinen Satz „Na, das ist meine Wohnung. Was dachtest du denn?“ fand ich äußerst ominös, zu erschöpft war ich jedoch, um mir jetzt noch eine andere Bleibe zu suchen, also blieb ich. Die Nacht über schlief ich aber nicht, sondern starrte die Wand an, an die ich mich zwängte und wollte wirklich nicht wissen, was sich neben mir so alles ereignete. Beim ersten Sonnenstrahl schlich ich mich hinaus. Nie wieder, sagte ich mir. Ermattet irrte ich herum und traf nachmittags auf Dino, meinen Retter. Er erlöste mich, indem er mich an seinen Freund weitervermittelte, bei dem ich eine Weile lang bleiben könne.
Im Nachhinein blieb ich nur zwei Wochen, denn ich zog darauf mit Luke, einem Kanadier, den ich vorher zufällig kennen gelernt hatte, zu einem Franzosen ins Haus. Vermutlich sollte das alles so geschehen, dachte ich mir. Innerlich wusste ich längst, dass dies kein typischer Erasmusaufenthalt werden würde, traurig war ich darüber aber nicht. Doch nun hielt ich endlich auch meinen Studienausweis in der Hand und war nicht mehr länger rastlos.
Ein tiefer erleichternder Seufzer, der Gedanke, dass auf tiefe Melancholie in dieser Zeit doch irgendwie immer stärkender Optimismus folgte und schlussendlich doch ein Lächeln auf meinem Gesicht.
Ein Reportage von Maria Strache