Auch dieses Jahr lud die Hans-Werner-Richter-Stiftung erneut talentierte Jungautoren zur Autorentagung „Junge Literatur in Europa“ ins Begegnungszentrum „Felix Hausdorff“ der Universität Greifswald ein. Auch wenn man aufgrund von Grippeerkrankungen und Terminüberschneidungen auf die Lesungen Mariana Lekys, Nuran David Calis‘ und Vladimir Vertlibs verzichten musste, zeigte sich Prof. Dr. Hans Dieter Zimmermann, Vorstandsvorsitzender der Stiftung, erfreut über die diesjährige Besetzung und das Wiedersehen mit ehemaligen Teilnehmern. So wolle man in der Tradition der von Hans Werner Richter organisierten Treffen der bedeutenden Gruppe 47 weder über ästhetische Grundfragen, noch politische Kontexte diskutieren, sondern lediglich „den Text zum Zentrum der Kritik“ machen.
Über drei Tage hinweg trugen die Künstler unter der Moderation von Literaturprofessoren, Lektoren oder Übersetzern halbstündige Auszüge aus ihren Prosawerken vor, die in einer anschließenden, ebenfalls halbstündigen Diskussion erörtert wurden. Das Publikum der Tagung variierte stark von Lesung zu Lesung. Waren bei den meisten Lesungen hauptsächlich die Autoren und ihre Moderatoren anwesend, so füllte sich der Saal bei den nordeuropäischen Schriftstellerinnen Leena Parkkinen, Asta Põldmäe und Amanda Svensson bis an die Grenzen seiner Kapazitäten mit Studierenden der Nordistik. Bei den vorgetragenen Texten handelte es sich nicht nur um bereits veröffentlichte Werke, sondern teilweise auch um unvollendete Manuskripte, deren weiterer Verlauf noch nicht abzusehen war. Daher waren die anschließenden Diskussionen und „besonders auch die privaten Gespräche nach den öffentlichen Lesungen, in denen der Umgang untereinander offener war“ wertvolle Rückmeldungen auf das noch glühende Metall, wie Jan-Peter Bremer verriet. Die Auswahl der Künstler erwies sich sowohl auf inhaltlicher als auch darstellender Ebene als facetten- und abwechslungsreiche Konstellation. So fanden die Organisatoren eine ausgewogene Mischung zwischen „schwerer“, nachdenklicher Literatur und humorvollen Darstellungsweisen nicht minder tragischer Personen und zwischenmenschlicher Verhältnisse.
Melancholisch-Schwere und…
In Andreas Schäfers Roman Wir Vier (2010) legt sich der Mord am ältesten Sohn bleiern über das alltägliche Leben einer vierköpfigen Familie. Dieser ist jedoch nur der Anstoß zu einer feinfühligen Darstellung der verschiedenen Haltungen der Verbliebenen zum Mörder, in denen sich auch die verschiedenen Bindungsebenen zum ältesten Sohn widerspiegeln. Ein intakteres aber kommunikativ ausbaufähigeres Familienleben zeigte Reinhard Kaiser-Mühlecker bei der Lesung aus einem noch namenlosen Manuskript auf. Hier projizierte er die eigenen Erfahrungen seines Zivildienstes in Bolivien und die Heimkehr zur Familie in die österreichische Provinz in ein literarisches Konstrukt, das über die nüchterne Beschreibung eines Bemerkens kultureller Unterschiede allerdings kaum hinausgeht. Den wohl ambitioniertesten Beitrag zum Thema „Familienschicksale“ steuerte Jen Petersen mit seiner Erzählung bei. In „Bis dass der Tod“ (2009) stürzt eine dem Wachkoma ähnliche Krankheit das intakte Leben von zwei Liebenden in den Abgrund. Entgegen aller Ratschläge lässt der Partner seine Geliebte nicht in ein Sanatorium einliefern, sondern beschließt, die Pflege seiner Frau in eigene Hände zu nehmen. In der vorgetragenen, deutlich von Cormac McCarthy (The Road) beeinflussten, Schlussszene stilisiert Petersen minutiös jedes Detail seiner Erzählung, vom Aussehen der handelnden Figuren bis hin zu deren karger Umgebung, die in einen modernen Epos über die Ambivalenz von Euthanasie alle Anwesenden sichtlich gefangen nahm.
Amüsant-Aufmerksame Literatur
Neben Erzählungen über die tragischen Abgründe des Lebens gab es auch humorvoll konotierte Auszüge zu hören. Patrick Hofmanns Roman Die letzte Sau (2009) beispielsweise thematisierte die Zwangsumsiedlungen ostdeutscher Gemeinden auf Grund geplanter Tagebauerweiterungen. Die von ihm inszenierte Familie sinniert jedoch nicht über die Unmenschlichkeit und Kurzsichtigkeit derartiger Baumaßnahmen, sondern plaudert in aufmerksam dokumentiertem Lausitzer Dialekt über Kriegs- und Nachkriegserlebnisse der Großeltern. Darüber hinaus wird die Familie, die das Schlachten einer Sau plant, weit mehr von der Ankunft der weiblichen Schlachterin als von den drohenden Abrissbaggern erschüttert.
Auch der Protagonist aus Jan Peter Bremers unveröffentlichtem Manuskript Der Amerikanische Investor, ein erfolgloser Schriftsteller, taumelt zwischen den Extremen psychischer Unzurechnungsfähigkeit und pointierter Selbstironie. In seiner Wohnung liegend praktiziert der Schriftsteller eine literarische Chaostheorie, die sich anhand rhetorischer und in ihrem Ausmaß fast schon neurotischer Fragestellungen ins Unermessliche steigert; und doch steckt hinter allen witzigen Kopfkino-Trailern die Ungewissheit in der eigenen Existenz, die Konstruktion und Dekonstruktion des Selbst. An deutsche Popliteratur im Stile Benjamin von Stuckrad-Barres erinnerte schließlich die Lesung aus Amanada Svenssons Debütroman Hey Dolly (2008), dessen Übersetzung durch Studierende und Lehrende des Skandinavistikinstituts der Univserität Greifswald erarbeitet wurde. Unter Zuhilfenahme vieler Zitate der modernen Popkultur, die im anschließenden Gespräch durch Prof. Schiedermair amüsant näher beleuchtet wurden, und unerwarteter Anekdoten schildert Svensson die Identitätssuche einer jugendlichen und gelangweilten Schwedin, die in schwedischen Literaturzeitschriften für großes Aufsehen sorgte.
…und Grenzgängerinnen
Am eindringlichsten verkörperte dennoch Lucy Frickes Roman Ich habe Freunde mitgebracht (2010) die Synthese aus Tragödie und Komödie. In einer beklemmend-lakonischen und desillusionierten Ausdrucksweise porträtiert sie, wie sich vier Freunde Mitte 30 in ihren gescheiterten Lebensentwürfen wiederfinden und nun mit der Frage nach dem eigenen Zukunftsentwurf konfrontiert sind. In der kurzen Formel „war’s das schon?“ schlägt sich die bittere Tragik der vier Existenzen wie ein Vorschlaghammer nieder. Die Erzählweise der jungen Wahlberlinerin offenbart zwar mit jedem Komma einen neuen Abgrund ihrer Figuren, doch verbergen sich in einigen Nebensätzen treffend zynisch-sarkastische Beobachtungen und Paradoxien der modernen Gesellschaft. Einen außergewöhnlichen Kontrast zu den „deutschen“ Schreibarten bot die estnische Schriftstellerin Asta Põldmäe mit ihrer Kurzprosa Briefe an die Schwalben (2009). In einer sehr sensiblen und naturalistischen Sprache gibt sie die Gedanken und Emotionen einer unerwiderten Liebenden wieder, deren einzige Gesprächspartner die am Himmel kreisenden Schwalben sind. Ihre lyrisch-prosaische Grenzwanderung besticht durch einfühlsame Anspielungen auf estnische Symbolizismen und wirkt neben den Selbstverständlichkeiten moderner Prosawerke, wie beispielsweise von Fricke oder Svensson, beinahe wie ein anachronistisches Faszinosum, das von den Wundern vergangener Tage und Welten erzählt.
Fazit
Auch Nicht-Germanisten bot die diesjährige Tagung „Junge Literatur in Europa“ einen umfangreichen Einblick in die Gegenwartsliteratur, der abseits der Lesungen auch vertiefende und lockere Gespräche mit den Autoren ermöglichte. Diese und die Moderatoren zeigten sich gegenüber allen Formen von Kommentaren und Fragen zu ihren Büchern interessiert und aufmerksam, sodass jeder Hauch von Elitarität im Keim erstickt wurde. Auf der Prämisse, es werde lediglich über den Text diskutiert, ruhte sich der eine oder andere Autor allerdings ein wenig zu sehr aus. So sorgte die naive Frage eines Besuchers, der offenbar nicht der Eröffnungsrede beiwohnte, nach einer ästhetischen Innovation des Genres und der Kolonialisierung Südamerikas für nervöse Schnappatmung, große Augen und hilfesuchende Blicke. Verständlich, denn wer kann schon von einem Schriftsteller erwarten, sich darüber Gedanken zu machen? Und letztlich standen bei fast allen Diskussionen Fragen bezüglich der Textgenese und Schreibmotivation im Vordergrund, die selten den Text als solchen thematisierten. Vermutlich muss man sich hier aber damit zufrieden geben, dass die Autoren, wie Jan-Peter Bremer meinte, in den öffentlichen Diskussionen mit Kritik zurückhielten, um diese im Privaten etwas detaillierter zu äußern. Nichtsdestotrotz bietet „Junge Literatur in Europa“ eine in Greifswald einmalige Möglichkeit, sich thematisch breit gefächerter Gegenwartsliteratur zuzuwenden, und wenn’s nur zum Signieren des eigenen Exemplars ist.
Fotos: Felix Kremser; Startseite: Sabine Schmutzler via jugendfotos.de;