Unwillige Einwanderer, dumme Unterschichtler und „Judengene“: Thilo Sarrazin nimmt alle mit  in seinem Debatten-Rundumschlag. Er liebt die Provokation – vor allem, wenn alle mitmachen.

Schafft Deutschland sich selbst ab?

Der „Spalter der Nation“ (Der Spiegel) hat geniest. Laut und sehr unhöflich – wie immer. Keiner ist bereit, ihm ein Taschentuch zu geben. Angeekelte Gesichter meiden ihn, Unverständnis, erstes kritisches Gemurmel macht sich breit. So etwas macht man einfach nicht in der Öffentlichkeit. Nicht vor den Kindern. Nicht so – das hat Konsequenzen. Der Mann muss weg.

Sarrazin – Biologe, Bildungspolitiker, Eugeniker? Ernährungsberater, Bundesbanker, Sozialdarwinist, Rassist? Ausländerbeauftragter? Auf jeden Fall: Sarrazin gegen den Rest der Welt.

Der 65-jährige hält nicht still, muss andauernd Zustände kommentieren – ob aus fundierter Sachkenntnis, egozentrischer Überzeugung oder vielleicht sogar einer gewissen Erheiterung gegen vorhandene und scheinbare Tabus vorzugehen. Warum also nicht aus jemanden mit großer Klappe Profit schlagen?
Denn neben dem Autor kann sich auch der Bertelsmann-Konzern über den erfolgreichen Bestseller freuen. Eine Auflage von über 650 000 Exemplaren ist erreicht. Unkommentierte Auszüge im Spiegel und eine voreilige oberflächliche Kritik durch die Politik helfen gerne. Kanzlerin, Bundespräsident und der SPD-Parteivorsitzende reihten sich schnell in die immer größer werdende Kritikerschar ein. Die Pressewelt kann sich durch Sarrazin über starke Auflagen freuen. Eine Medienkampagne hat erfolgreich funktioniert. 

Deutschland schafft sich ab – so die Leitthese seines 460 Seiten starken Buches. Ein Fünftel davon voll gepackt mit Tabellen, Statistiken und Beispielrechnungen. Der Mann will überzeugen – und das tut er in vielen Bereichen. Aber nur, wenn man seinen Quellen vertraut und nicht zu den relativierenden „Gutmenschen“ gehören möchte, welche er als weiteres Problem für den festgestellten miserablen Zustand Deutschlands ausmacht. In diese Schublade dürften die oft von ihm strapazierten Alt-68er auch fallen. Diese haben auch größtenteils die Hauptschuld an der verspäteten Debatte um Geburtenrückgang und verfehlter Integration vom Einwanderern. Differenzierung – größtenteils Fehlanzeige. Der Autor sieht sich als Mann der klaren Worte.

Die Erklärung, warum er als Finanzsenator von Berlin seine eigenen Möglichkeiten bei weitem nicht ausgeschöpft hat, bleibt er dem Leser schuldig.
Kleine verschleierte Mädchen lehnt er ab und arbeitsscheue Menschen auch. Von braunen Deutschlandphantasien grenzt er sich nicht stark genug ab. Er ist sich der „Empfindlichkeiten“ mancher von ihm angesprochenen Punkte bewusst, welche den Vorwurf des Rassismus, der Diskriminierung und der Intoleranz hervorrufen.

Aber seine Zusammenfassung und Feststellungen brauchen Zeit, Zeit um gegen geprüft zu werden. Seine Vorschläge und Ideen sollten debattiert und diskutiert werden. Denn wenn es auch klingt wie am Stammtisch, in vielen Punkten könnte er Recht haben und damit ist nicht nur sein Recht auf freie Meinungsäußerung gemeint. Arnulf Baring oder Roland Koch lassen grüßen.

Seine klare Sprache vereinfacht und verflacht kontroverse Themen auf Bauernweisheiten. Das ist attraktiv, leicht verständlich und liest sich unkompliziert. Eine Prüfung der vielfältigen Statistiken wird da schon schwieriger. Die umfassende Bandbreite seiner Themen umfassen neben den in den Medien fokussierten, auch die nötige Umwandlung des deutschen Bildungssystems und sein Lieblingsreizthema Hartz IV.

Seine ständigen Einschübe zur Intelligenzforschung und Vererbung müssen genau gelesen und geprüft werden. Allgemeinplätze nützen hier niemanden, vorgefertigte Meinungen auch nicht.

Kurze biografische Einschübe zum unkomplizierten funktionierenden Leben des jungen Sitzenbleibers Thilo Sarrazin, welcher unter anderem durch Grimm und Bibel seine Lebensbasis gelegt haben will, lockern das Thema auf und geben Einblicke in seine konstruierte Wahrnehmung. Oder vielleicht auch Ausblicke auf seine gewünschte Wirklichkeit.

Trotz der Menge an auswertbaren Daten, Fußnoten und Beispielen, stellt er die vielen angeschnittenen Sozialbereiche doch teils zu simpel dar. Durch die anfängliche Berichterstattung und unreflektierten Abwehrreaktionen von verschiedenen (un-)gefragten Politikern hat sich ein nicht kleiner Teil der deutschen Bevölkerung noch vor der Lektüre ihr Urteil gebildet, fühlt sich bestätigt oder lehnt seine Thesen ab.

Ein pauschales Urteil führt aber zu pauschalem Handeln. Wenn zeitnah zur Veröffentlichung des Buches die Greifswalder Moschee mit „Muslime raus“ beschmiert wird, geht es nicht mehr um eine öffentliche Debatte, die Sarrazin anregen wollte. Dann findet dummer Fremdenhass wieder einen vorgeschobenen Anlass.

Auch dass die „Invasion“, wie paranoide Nationalisten die Migration nennen, in Mecklenburg-Vorpommern bei nicht mal fünf Moscheen wohl kaum stattfindet, sollte einleuchten. Eine bundesdeutsche Sicht sei Sarrazin aufgrund seiner jahrelangen Funktionen und Aufgaben ohne Frage zugestanden. Aber das technokratische Hantieren mit volkswirtschaftlichen Größen, Leistungstabellen und Statistiken verschleiert den Blick auf ein sozial-psychologische Zusammenhänge – und lässt scheinbar auch die eigene Verantwortung vergessen.

In den Dankesworten zu seinem Buch schreibt er, nur seine persönlichen Ansichten zu äußern, unabhängig von beruflichen Tätigkeiten. Die holten ihn dann aber umso schneller ein: „Hic Rhodus, hic Salta!“ lautet sein gerufenes Schlusswort an die Politik. Diese verkannte seinen Aufruf zum dringenden Handeln und versuchte lieber ihn ungelenk aus dem Vorstand der Bundesbank zu entfernen. Der freiwillige Rücktritt rettet seine Kritiker vor einer Blamage vor dem Arbeitsgericht und beschert Sarrazin zwar keine Abfindung, aber eine aufgestockte Pension von monatlichen 10 000 Euro.
Das Problem um Sarrazin ist so vielschichtig, wie die artikulierten Meinungen: Wenn die alte verwirrte Rentnerin von nebenan meint, Sarrazin habe recht und man dürfe das aber wegen Auschwitz nicht sagen. Wenn der allwissende Kommilitone einem die Falschaussagen des Buches aufzählt, ohne dies je in den Händen gehalten zu haben und ohne dies je überprüft zu haben. Wenn sich die breite Öffentlichkeit der Medienwelt reflexartig auf die scheinbar „gefährlichen“ Themen stürzt, als ob das Buch nur drei Kapitel hätte. Meist haben sie das Buch, wie die Kanzlerin und viele andere Befürworter und Kritiker, nicht gelesen. Das sollte jeder, der sich einbringen will, wenigstens tun. Die Debatte hat erst begonnen.

Ein Kommentar von Daniel Focke