Auch dieses Jahr wurde die Greifswalder Bachwoche ihrem Status als größtes Festival geistlicher Musik im Norden Deutschlands mit über 10.000 Besuchern mehr als gerecht. Nach einem ersten Erlebnisbericht über einige Veranstaltungen der Bachwoche, die auch klassik-fernen Besuchern gut zugänglich waren, folgt nun der zweite Teil, der sich den Konzerten zum Kern des diesjährigen Themas „Bach und Russland“ widmet; Bachs Matthäuspassion und die Passion nach Johannes von Sofia Gubaidulina.

Matthäuspassion

Den Auftakt bildet Bachs Matthäuspassion, die auf Grund ihres „opernhaften“ Charakters zunächst fast 100 Jahre unbeachtet und unaufgeführt blieb. Erst die Aufführung von 1829 unter der Leitung des 20- jährigen Felix Mendelssohn Bartholdy sorgte für eine Wiederentdeckung, Aufarbeitung und Würdigung der Bachschen Werke, die bis heute Bestand hat. Mittlerweile gilt die Matthäuspassion verdientermaßen als ein Höhepunkt im musikalischen Schaffen Johann Sebastian Bachs. Unter der Leitung von Kirchenmusikdirektor (KMD) Modeß fand am Dienstag, dem 1. Juni, eine Aufführung der Frühfassung der Matthäuspassion im Dom St. Nikolai statt.

Künstlerischer Leiter der Bachwoche: KMD Modeß

Diese unterscheidet sich von späteren Versionen durch eine sogenannte Continuogruppe, die die Funktion hat, beide Chorstimmen als eine Art Brückenstimme näher aneinander heranzuführen und auf einander zu beziehen, so dass den verschiedenen Stimmen ein organisches Gerüst verliehen wird. Besonders an den Stellen, an denen beide Chöre gleichzeitig im Forte sangen, machte sich diese zusätzliche Gruppe bemerkbar. Hier spielten Orgel und Kontrabass harmonisch zusammen und liefen zu keiner Zeit Gefahr, von den gewaltigen Chorälen verschluckt zu werden, ganz im Gegenteil.

Im Gegensatz zu Süskinds einsamen Bassisten ohne Ausdrucksmöglichkeiten bildeten die Kontrabässe an diesem Abend einen donnernden Rückhalt, der stellenweise, durch stimmgewaltiges Orgelspiel unterstützt, das Mark erschütterte und Tragik und Monumentalität des textlichen Hintergrunds am eigenen Leib erfahrbar werden ließen. Auf dem erwähnten stimmlichen Fundament der Bässe waren auch die Solisten jeder Zeit in der Lage, den textlichen Hintergrund, der das Wirken Jesus Christus’ bis zu seiner Kreuzigung behandelt, ausdrucksstark zu darzubieten. Besonders die von Thomas Wittig vorgetragenen Jesusworte stachen, ihrer textlichen Bezugsperson entsprechend, klar und imposant hervor, und charakterisierten Jesus nicht nur als Sohn Gottes, sondern als dessen Inkarnation.

Dass die Aufführung angesichts ihres gewaltigen Hintergrunds nicht aus den Bahnen lief und im Chaos endete, ist nicht zuletzt der feinfühligen Leitung durch KMD Modeß zu verdanken, der das Orchester mal einfühlsam und dezent im Rücken eines Solisten inszenierte, nur um es an anderer Stelle gewaltige Kaskaden hinauf zu peitschen.

Bayan und Violoncello

Beschaulicher ging es bei den insgesamt 17 Kammermusikkonzerten zu, die musikalisch aber nicht weniger eindrucksvoll waren. Eine Brücke zwischen der barocken Musik Bachs und der modernen Musik Sofia Gubaidulinas schlug das Kammermusikkonzert „Bayan und Violoncello“, das am Samstag dem 5. Juni in der Katholischen Kirche St. Josef stattfand. Die mehrfach preisgekrönten Musiker Nicolas Altstaedt am Violoncello und Elsbeth Moser am Bayan, der russischen Variante eines Akkordeons, boten Epochen übergreifend Stücke von Guillaume de Machaut (1300-1377), Johann Sebastian Bach (1685-1750) und Sofia Gubaidulina (*1931) dar.

Preisgekrönter Cellist: Nicolas Altstaedt

Bereits mit dem ersten Bogenstrich hatte sich eine intime Atmosphäre in den Hallen der St. Josef-Kirche eingestellt, die durch das „Schnaufen“ des Bayans und das hörbare Atmen Altstaedts mit jeder Sekunde an Intensität gewann. Seinen Anfang nahm das Konzert im Mittelalter mit Machauts fremdartig anmutendem Stück „Ma fin est mon commencement“ („Mein Ende ist mein Anfang“), dessen Harmonie- und Stimmgestaltung fernab „klassischer“ Konventionen gehalten ist.

In Gubaidulinas Stück „De Profundis“ für Solo-Bayan wurden dann im Anschluss die klanglichen Möglichkeiten des russischen Akkordeons virtuos durch Elsbeth Moser eingesetzt. So stellten nicht nur herkömmliche Töne Teile der Komposition dar, sondern auch das „Schnaufen“ des Bayan wurde wesentlich in die Komposition integriert und zeigte neue Perspektiven der Darstellungsmöglichkeiten in der Musik auf.

Mit Bachs berühmter Cello-Suite No.1 in C-Dur folgte dann eines der wohl berühmtesten Werke für Violoncello. Die von Nicolas Altsteadt beeindruckend vorgetragene Interpretation blieb dabei dicht am Original und tauchte die Kirche in ein majestätisch-erhabenes Licht, in dem der Musiker in einen zarten und innigen Tanz mit seinem Instrument verfiel, der Zeit und Umstände in einander auflöste und vergessen ließ.

Abgeschlossen wurde der atmosphärisch dichte Abend durch die gemeinsame Interpretation von Sofia Gubaidulinas „In Groce“, bei dem beide Musiker unkonventionelle Tonleitern, Akkorde und Melodieführungen konzentriert und leichthändig in Harmonie und Wechselgesang zu einander brachten. Seine Krönung fand der Abend schließlich in der Begeisterung, mit der die anwesende und eigentlich öffentlichkeitsscheue Sofia Gubaidulina beiden Musikern für die Aufführung ihrer Stücke und diesen magischen Abend dankte.

Passion nach Johannes von Sofia Gubaidulina

Auch wenn die Matthäuspassion und das Kammerkonzert von Bayan und Violoncello bereits angedeutet hatten, was einen am 6. Juni um 19 Uhr im Dom St. Nikolai hätte erwarten können, so blieb dieser Abend doch ein Ereignis, wie es der Dom wohl nur selten erlebt hat.

Selbst mit Klangsegel stellte das Orchester die Solisten in den Schatten

Unterstützt durch das gesamte(!) Ensemble BRASSCUSSION bot sich den knapp 700 Besuchern ein immenser Orchesterapparat dar, für den die eigentliche Bühne sogar um einen Anbau erweitert werden musste. So befanden sich letzten Endes neben zwei Chören, den Streichern und Solisten noch Xylophone, Glockenspiele, Pauken, sowie Gong und eine mannshohe asiatische Trommel auf der Bühne.

Klangen Gubaidulinas Werke am Vorabend bereits in minimalistischer Instrumentierung experimentell und ausdrucksstark, so erschlugen sie den Hörer in dieser immensen Orchesteraufführung. Das Öffnen der Sieben Siegel im sechsten Teil der Johannespassion, die den Auferstehungsprozess Jesus Christus zu Ostern darstellt, wurde durch einen gewaltigen Schlag auf der asiatischen Trommel nach jedem Siegelbruch dargestellt, der selbst den Dom in Vibration versetzte und die Bedeutung dieser Tat jenseits aller Gewohnheit verdeutlichte. Ähnlich verhielt es sich auch mit allen weiteren Einsätzen der Pauken und Trommeln.

Notation des Bayans in Sofia Gubaidulinas "In Groce"

Leider wurde der Dom für derartige Klänge nicht konzipiert und so überdeckten Orchester und Perkussion häufig die Rollen der Solisten, die ausnahmslos hervorragend sangen, mit dem gewaltigen Orchesterarsenal jedoch zu keiner Zeit, trotz Akustik-Segels über der Bühne, Schritt halten konnten. Es blieb einzig der Blick ins Programmheft und Lippenlesen der Mundbewegungen.

Ein weiterer Wehmutstropfen kündigte sich dem neugierigen Konzertbesucher schon am Eingang an, wo kleine Zettel auslagen, auf denen der Besucher um Entschuldigung dafür gebeten wurde, dass die angekündigte Aufführung des zweiten Teils der Johannespassion, Johannes-Ostern, auf Grund zeitlicher Probleme bei den Probeaufführungen des Gesamtorchesters erst im nächsten Jahr aufgeführt werden kann. Dennoch blieb der Abend eine unvergessliche Erinnerung, die einen Einblick in die komplexe und visionäre Kompositionskunst der russischen Komponistin Sofia Gubaidulina verlieh, von derer Musik die preisgekrönte Professorin für Akkordeon, Elsbeth Moser, mit leuchtenden Augen nach einer kurzen Suche nach Worten sagt: „Diese Musik kann man nicht begreifen, das ist eine ganz andere Dimension“.

Bilder –  Foto(Modeß): Veranstalter; alle übrigen Fotos: Felix Kremser; Logo-Startseite: Jakob Pallus (mit Material der Veranstalter)