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Am Institut für Geografie nutzt ein Professor seine Studenten aus.

Ein Bericht von Alexander Müller

vlnr: Prof. Wilhelm Steingrube, Müritz, Institut

In diesem Jahr lief der Ostersonntag für Stefan Richter* anders ab, als in den Jahren zuvor. Zehn Stunden hat der 21-Jährige an seinem Checkpoint im Müritz Nationalpark verbracht. Von dem Zeitpunkt an, als der blaue Transporter ihn am frühen Morgen dort absetzte, war Menschen zählen und befragen seine Aufgabe. „Wie viel haben Sie für sich und Ihre Mitreisenden ausgegeben?“, fragte er die spärlich vorbeikommenden Besucher immer wieder. Solange bis der Bus ihn am Abend wieder dort abholte. An diesem Tag hatten sich nur wenige Menschen an seinen Checkpoint verirrt. Zehn Stunden auf jemanden warten der vielleicht nie kommt, das kostet Nerven.

Stefan würde seine Zeit an solchen Tagen lieber mit Freunden und Familie verbringen, aber dennoch wird er auch an Pfingsten wieder an seinem Checkpoint sitzen und warten. Ebenso wird der Geografiestudent so manche Vorlesung während der Woche für die zeitaufwendige Befragung ausfallen lassen müssen. Stefan nimmt an der Umfrage im Müritz Nationalpark nicht freiwillig teil; er macht es, weil er sonst Angst vor einer schlechten Note haben muss.

Am Anfang des diesjährigen Sommersemesters trafen sich die Bachelorstudenten aus der Wintervorlesung „Methoden der empirischen Sozialforschung“ im Büro des Geografieprofessors Wilhem Steingrube. Das Testat, mit dem die Vorlesung eigentlich hätte abgeschlossen werden müssen, wurde nicht geschrieben. Nun sollte der Professor seinen Studenten erklären, wie die Note stattdessen zu Stande kommen solle.Durch die Teilnahme an einer Umfrage, die er im Auftrag des Müritz Nationalparks zur Erfassung des Kaufverhaltens der Besucher durchführe, sollen die Studierenden ihr erlerntes Wissen anwenden. Und das nicht zu knapp. Von insgesamt zwanzig Terminen, sollen die Studenten mindestens zehn wahrnehmen. Abfahrt sieben Uhr morgens, Wiederankunft abends um neun. Pro Termin insgesamt 14 Stunden, davon zehn Stunden reine Arbeitszeit.

Für jeden teilgenommenen Termin, erklärt Professor Steingrube, könne die Note um ein Zehntel aufgewertet werden. Wie die zu Grunde liegende Note zu Stande kommt, sagt er nicht. „Das ist ein Witz, Professor Steingrube kennt nicht einmal alle unsere Namen“, erzählt Stefan resigniert. „Ich bekomme dort eine Bewertung nach Sympathie und wie oft ich zu den Umfragen renne.“ Beim Professor beschweren tut er sich allerdings nicht; er hat Angst am Ende durchzufallen, wenn er negativ auffällt.

Mit dieser Einstellung ist er nicht allein. Steingrube hat in seinen Lehrveranstaltungen ein System der Unsicherheit geschaffen, zu intransparent ist seine Bewertung, zu undurchsichtig seine Bemerkungen. Gleich zu Beginn des Studiums stellte er bei den frischen Erstsemestern klar: rauchende und Knoblauch essende Studenten kann er nicht leiden. Auch rothaarige Frauen hätten bei ihm einen schweren Stand. Und so rennen Stefan und seine Kommilitonen lieber zu den vielen Umfragen, verbringen Stunde um Stunde an ihren Checkpoints, nur um nicht den Missmut des Professors zu erwecken.

Beim Fachschaftsrat Geografie weiß man von den Besonderheiten Professor Steingrubes. Auch bekannt sei jedoch, dass man nicht alles ernst nehmen dürfe, was er sagt. Wenn die Studenten ein Problem haben, müssten sie allerdings auf den Fachschaftsrat zu gehen. Andernfalls könnten sie nicht aktiv werden. Dass die Studierenden Angst haben, dass ihre Namen trotzdem am Ende bei Professor Steingrube landen und ihnen dadurch Nachteile entstehen könnten, können die Studentenvertreter nicht verstehen.

Als Dr. Ursula von der Gönne-Stübing, Leiterin des Prüfungsamtes, durch den moritz von den Vorwürfen hört, ist sie zunächst sprachlos. „So etwas schreckliches hat es in meiner gesamten Laufbahn noch nicht gegeben“, erklärt sie schockiert. Gleichzeitig rät sie jedem Studenten ab, sich persönlich zu beschweren. „Der beste Ansprechpartner in so einem Fall ist der Prorektor für Studium und Lehre.“

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Auch im Müritz Nationalpark zeigte man sich von den schweren Vorwürfen überrascht. Ulrich Meßner, Leiter des Parks, erklärt, er wisse zwar, dass zur Datenerhebung studentische Kräfte eingesetzt werden. In welcher Form der Einsatz erfolge, sei allerdings Sache Professor Steingrubes. „Das Nationalparkamt Müritz legt jedoch Wert darauf, dass die Studie unter akzeptablen Bedingungen erarbeitet wird“, heißt es in einer schriftlichen Stellungnahme.

Wilhelm Steingrube selbst kann all die Aufregung nicht verstehen. Die Verbesserung der Note um ein Zehntel pro Umfragentag sei nur eines seiner vielen „abenteuerlichen Denkmodelle“ gewesen. „Wenn ein Student mir so etwas glaubt, dann tut er mir leid und hat an einer Universität nichts verloren. Er bekommt mit Sicherheit auch keinen Schein von mir“, erklärt der Professor sarkastisch. Neben der Tatsache, dass in einem Bachelorstudiengang keine Scheine mehr vergeben, sondern Prüfungen geschrieben werden, muss sich seine Aussage für Stefan und seine Kommilitonen wie der blanke Hohn anhören.

Das System Steingrube, ein System der Unsicherheit, wird wieder deutlich. Warum soll ein Student, der seinen Professor ernst nimmt, die Prüfung nicht bestehen? Warum denkt der Professor vor seinen Studenten dermaßen laut und nachdrücklich? Sollte der Eindruck eines Zusammenhangs zwischen der Anzahl der Teilnahmen an der Umfrage und der Endnote entstehen? Und vor allem: wenn nicht die Umfrage bewertet wird, was dann? Ein Testat wurde nicht geschrieben, auf ihre Noten warten die Studierenden bis heute.

„Die Notenvergabe ist eine Sache, die niemand von außen etwas angeht“, erklärt Steingrube. „Die Studierenden haben mehrheitlich abgestimmt, dass sie statt eines Testats an einer Umfrage teilnehmen wollen. Dieser Mehrheit muss ich mich fügen.“ Stefan zu Folge ist diese Abstimmung jedoch im letzten Winter gewesen, zu einem Zeitpunkt, an dem das Ausmaß der Umfrage noch überhaupt nicht klar war. Außerdem hätte es mehrere Gegenstimmen gegeben und einige Studenten wären gar nicht anwesend gewesen. Wenn es nach Prüfungsamtleiterin von der Gönne-Stübing geht, wird über Prüfungen überhaupt nicht abgestimmt. „Es wird gemacht, was in der Prüfungsordnung steht“, stellt sie klar.

Für den Prorektor für Studium und Lehre, Michael Herbst, spielt noch ein weiterer Aspekt eine wichtige Rolle. „Bei der Teilnahme von Studierenden an Forschungsprojekten muss das in den Modulen genau festgelegte Workload beachtet werden. Es darf keine hemmungslose Ausbeutung stattfinden“, erklärt er. In dem entsprechenden Modul „Methoden I“ sind 330 Arbeitsstunden für insgesamt vier Veranstaltungen mit vier Testaten in zwei Semestern vorgesehen. Würde ein Student die geforderten zehn Umfragentage erfüllen, wären bereits 140 Stunden des Workloads für das gesamte Modul verbraucht, allein für die Datenerhebung. Dazu kommen noch Seminarzeiten, Vor- und Nachbereitung des Lernstoffes, Prüfungsvorbereitung für drei weitere Veranstaltungen und so weiter. Das ist in der vorgegebenen Zeit nicht zu schaffen.

Eine besonders pikante Note bekommt die ganze Angelegenheit bei näherer Betrachtung der Auftragslage der Umfrage. Wie der Müritz-Nationalpark bestätigt, wurde der Auftrag an das „Steinbeis Transferzentrum für Freizeit-, Tourismus- und Regionalforschung“ vergeben, welches zur privaten Steinbeis Stiftung mit Sitz in Stuttgart gehört. Der Geschäftsführer des Greifswalder Zentrums ist Wilhelm Steingrube.

Die Steinbeis Stiftung ist ein Netzwerk aus 778 Transferzentren in ganz Deutschland. „Die einzelnen Transferzentren sind nicht in die Universitäten integriert, ihre Leiter sind aber in der Regel an Hochschulen beschäftigt“, erklärt Professor Reinhard Zölitz, ebenfalls Leiter eines eigenen Steinbeis Transferzentrums in Greifswald. „Ziel ist es, das Know-how einer Universität Unternehmen zur Verfügung zu stellen.“ Wenn ein Auftrag erfolgreich verlaufe, verdiene am Ende der Geschäftsführer des Zentrums. Im Jahr 2009 hat die Stiftung einen Gesamtumsatz von 118 Millionen Euro erzielt.

Dass er Studenten unter Prüfungsdruck für seine privaten Aufträge einspannt, ist für Professor Steingrube kein moralisches Problem. „Die Umfrage ist eine direkte Anwendung des in der Vorlesung erlernten Stoffes. Außerdem werden die Daten auch für andere Zwecke verwendet, wie Diplomarbeiten und Aufsätze“, erklärt er.

Tobias Reinsch, wissenschaftlicher Mitarbeiter beim Justitiariat der Universität erläutert, dass eine solche Vermischung rechtlich denkbar sei, aber auf den konkreten Einzelfall angewendet werden müsse. „Der Auftrag müsste im Zusammenhang mit der Forschung des Institutes an der Universität stehen.“ Bei Umfragen zum Kaufverhalten der Besucher des Müritz Nationalparks darf dies zumindest leise bezweifelt werden; einen unangenehmen Beigeschmack hinterlässt eine solche Vorgehensweise allemal. Zumal sich im Winter zunächst keine Freiwilligen für das Projekt finden ließen.

Im Prüfungsamt denkt man nun über weitere Schritte nach. Prorektor Herbst hat den Fall an die Rechtsabteilung der Universität weitergegeben, die zunächst die rechtlichen Grundlagen prüfen muss. Herbst erklärt: „Sollten wir keine Lösung für das Problem finden, muss ich ein Gespräch mit Herrn Steingrube führen.“

Mittlerweile ist es Mai und die Befragungen gehen unaufhörlich weiter. Zwölf Stunden hat Stefan wieder an seinem Checkpoint gesessen und gewartet. Gewartet, gezählt und befragt. Zu Hause in Greifswald fanden die Vorlesungen ohne ihn statt. Und wie es aussieht, wird er jetzt auch noch ein Testat schreiben müssen.

* Name von der Redaktion geändert.

Bilder: Patrice Wangen (Gebäude), Andre Schnuhr (Prof. Steingrube) und user „Niteshift“ via wikimedia.org (Müritz, cc-by-sa3.0).