Warum das Herausreißen von Bundeswehranzeigen aus moritz-Heften keine Gewalt beendet.

Im Schutz der Nacht konnten sie endlich ihrer Wut freien Lauf lassen, denn so etwas darf nicht ungestraft bleiben. „Das Verweigern von Dialog, hat praktische Konsequenzen“, schreibt Heiko Lange, der auf seinem Blog die Bilder zur Wut liefert. Verdächtig kurz nach dem Tatzeitpunkt. Nachdem der moritz im April zum zweiten Mal in Folge eine Anzeige der Bundeswehr veröffentlichte, rissen Unbekannte 700 Seiten aus den Heften und verteilten sie in einer Nacht und Nebel Aktion im Redaktionsgebäude.

Eine Drohung im Namen der Demokratie. Wer fern in Afghanistan unschuldige Menschen bombardiert, hat in unserem Studentenmagazin nichts zu suchen, so die klare Botschaft. Ein solches Handeln stößt in den Wochen und Monaten nach dem Tanklasterangriff von Kunduz auf unschuldige Menschen in Afghanistan auf Befehl der Bundeswehr und nachdem jeden Tag neue Hiobsbotschaften vom fernen Hindukusch über die Nachrichtenagenturen tickern, auf Zustimmung. Demokratie und Krieg, das gehört nicht zusammen.

Gewalt kann schlimmere Gewalt verhindern

Aber schon auf den zweiten Blick ergeben sich Zweifel an dieser so einfachen Wahrheit. Nicht nur, dass durch das Herausreißen unliebsamer Bundeswehranzeigen aus dem moritz die Demokratie mit intoleranten und aggressiven Mitteln verteidigt werden soll. Es gleicht der alljährlichen Schizophrenie am 1. Mai, an dem teils gewaltbereite Demonstranten der Staatsgewalt „Wir sind friedlich, was seid ihr?“ entgegen brüllen. Viel entscheidender ist, wie unterschiedlich die Wahrnehmung von Krieg und Gewalt für Menschen innerhalb einer demokratischen Gesellschaft und für die Soldaten eines Kriegsgebiets ist. Jemand der Werbung für die Bundeswehr verurteilt, lehnt Gewalt und Soldaten grundsätzlich ab. Für den Soldaten selber ist Gewalt aber Teil seines Berufs. Ist er deswegen ein schlechter Mensch?

Nirgendwo stellt sich die Frage nach Gut und Böse momentan mehr als in der Afghanistanproblematik. Ist es richtig, dass die Bundeswehr dort kämpft? Was haben deutsche Soldaten dort zu suchen? Für die deutsche Regierung wird die Afghanistanfrage zunehmend zu einem Dilemma: sie können der Bundeswehr keine unbegrenzten personellen Mittel zur Verfügung stellen, da jeder weitere Verlust vor der Bevölkerung schwer zu rechtfertigen ist. Der Gegner jedoch kämpft umso erbitterter, weil jeder deutsche Sarg den Sieg näher rücken lässt. In dieser Situation gibt es zwei Optionen: abziehen oder bleiben. Beide Möglichkeiten bringen Opfer, doch durch einen Abzug sterben mehr unschuldige Menschen.

Was passiert, wenn eine Friedenstruppe abzieht und die Bevölkerung ihren Schlächtern überlässt, hat ein Ereignis der Welt vor Augen geführt, bei dem die Menschheit ihre letzte Würde verlor: Ruanda. Fast eine Million Tote während des Völkermords 1994, weil die internationale Gemeinschaft keinen gemeinsamen politischen Willen aufbringen konnte und die dort stationierten Truppen abzog. Ein entschiedenes militärisches Eingreifen hätte dort eines der größten Verbrechen der Menschheit verhindern können. Doch nach dem Somalia-Debakel, war die tonangebenden USA nicht bereit für weitere Opfer. Zu groß war die Empörung über die 18 Särge junger GIs aus Mogadischu. „Ein Soldat schämte sich nicht, mir zu erklären, das Leben von 800000 Ruandern sei nicht mehr wert als das Leben von zehn amerikanischen Soldaten“, schreibt der Kommandant der Blauhelme in Ruanda, der Kanadier Romeo Dallaire, in seinem Buch über den Völkermord „Handschlag mit dem Teufel“.

Es gibt Situationen, in denen Gewalt und militärische Interventionen eine Möglichkeit sind, Millionen Menschen vor großem Leid zu bewahren. Die öffentliche Meinung, zu der auch Anzeigenherausreißer beitragen, sollte zwar kritisch, aber nicht vorschnell urteilen. Es sind solche brutalen Rechnungen, wie die des zitierten US-Soldaten, die aus der Kraft der öffentlichen Meinung entstehen, die doch eigentlich nichts anderes will als Frieden. Daher ist es wichtig, dass wenn eine demokratische Regierung sich für einen Krieg entscheidet, sie die Bevölkerung dafür sensibilisiert und ihre Entscheidung begründet. Denn nicht Soldaten entscheiden über Krieg und Frieden, sondern die Politik. Dazu gehört es vor allem, den Krieg in Afghanistan beim Namen zu nennen, mit all seinen Konsequenzen.

Öffentliche Meinung kann Kriege verlängern

Einen viel größeren Aufschrei der Entrüstung als beim Abdruck der Bundeswehranzeigen im moritz, löste ein von der Website Wikileaks veröffentlichtes Kriegsvideo aus. Die Banalität des Tötens zeigte sich gnadenlos aus der Perspektive eines US-Hubschraubers im Irak. Es ist zu sehen, wie amerikanische Soldaten ein Dutzend Menschen, darunter zwei Reuters-Reporter, töten und zwei Kinder in einem Transporter schwer verletzen. Nach getaner Arbeit beglückwünschen sie sich zu ihren Abschüssen: „Nice shot“. Nach Bekanntwerden dieses lange geheim gehaltenen Videos, ging eine Erschütterung um die Welt. Wie können Menschen so grausam sein und auch noch Freude daran empfinden?

Den Grund für diese Erschütterung sieht die Journalistin Beate Lakotta im Unverständnis einer demokratischen Gesellschaft für die irrationale Gewalt des Krieges. „Die Zivilgesellschaft nährt den Mythos vom sauberen Krieg, weil sie sonst Probleme bekommt mit ihrem Selbstverständnis, das Gewalt zum Tabu erklärt. Tatsächlich präsentieren westliche Streitkräfte ihre Aktionen vor der Weltöffentlichkeit zunehmend als humanitäre Hilfseinsätze. Aber der Kern des Krieges sind nicht das Brunnenbohren oder die Polizeiausbildung. Der Kern des Krieges ist das Töten“, schreibt Lakotta im Magazin DER SPIEGEL (Ausgabe 15/2010).

Es gibt also verschiedene Formen von Bewusstsein, die durch die Umwelt des Menschen konstituiert werden. In einer Demokratie ist es das Gewalttabu, im Krieg ist es die Gewalt als legitimes Mittel zum Zweck, unabhängig davon ob die Soldaten aus einem demokratischen oder autoritären Entsendeland kommen. Das Paradoxe ist aber, dass das sich dem Frieden verpflichtet fühlende demokratische Bewusstsein, moderne Kriege wie in Afghanistan am Laufen hält. Organisationen wie die Taliban wissen, wie Demokratien funktionieren und dass jedes Opfer, besonders jedes deutsche Opfer, den innenpolitischen Druck erhöht.

Der bekannte Politikwissenschaftler Herfried Münkler nennt das die Asymmetrie des Krieges. „Die einen müssen, wenn sie Erfolg haben wollen, die Köpfe und Herzen der Bevölkerung im Einsatzgebiet gewinnen; die anderen zielen vermittelst der getöteten Soldaten auf die Stimmungslage der Bevölkerung im Entsendeland, der die Fortführung des Einsatzes vergällt werden soll“, schreibt Münkler in einem Aufsatz im SPIEGEL (Ausgabe 44/2008). Es gäbe somit zwei Fronten, an denen um die Zustimmung der Bevölkerung gekämpft würde: eine in Afghanistan und eine in den westlichen Gesellschaften. „Das macht diese Kriege kompliziert und hat dazu geführt, dass in ihnen Bilder und Begriffe zu Waffen geworden sind“, erklärt er weiter. Münkler verwendet auch für den Kampf zu Hause bewusst militärische Begriffe, weil auch das Handeln im Entsendeland Teil des Krieges ist.

Die Kraft solcher Bilder sieht Münkler in der postheroischen Gesellschaft begründet. „Postheroische Gesellschaften sind durchaus bereit, sich auf militärische Pazifizierungsprojekte einzulassen, wie Bosnien, Kosovo oder Afghanistan. Aber sie sind darauf angewiesen, dass die Verluste in sehr engen Grenzen bleiben. Das aber weiß der Gegner inzwischen und hier hat er den Schwachpunkt der Interventen ausgemacht. Hier setzt er an und hier verläuft die entscheidende Frontlinie.

Die Anschläge in Afghanistan zielen auf die labile Psyche unserer postheroischen Gesellschaft. Die Soldaten werden getötet, um uns zu treffen.“ Nur so ist es möglich, dass militärisch völlig unterlegene Gegner immer weiter kämpfen und der Krieg weitergeht. Das Herausreißen von Bundeswehranzeigen aus dem moritz ist aus unserer demokratischen Perspektive vertretbar. Wir lehnen Gewalt im Alltag zur Konfliktlösung ab. Doch funktionieren solche Denkmuster auf internationaler Ebene nicht. Im Gegenteil. Sie tragen ihren kleinen Teil dazu bei, dass Kriege wie in Afghanistan eine nicht enden wollende Zahl an Opfern hervorbringen und es am Schluss nur Verlierer gibt. Letztendlich spielt jeder nur seine Rolle.

Ein Essay von Alexander Müller