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Die Umsetzung des Ostseeraumschwerpunkts an der Universität Greifswald.

„Schwerpunkt“ ist ein Wort mit vielen Bedeutungen. Der geometrische Schwerpunkt, einer dreieckigen Platte beispielsweise, ist derjenige Punkt, „der unterstützt werden muss, um die Platte in Balance zu halten.“ Dass es sich bei dem mit „Ostseeraum“ betitelten Schwerpunkt unserer Universität um etwas anderes handelt, dürfte jedem klar sein – doch einige Parallelen zu der geometrischen Form des Dreiecks lassen sich vielleicht dennoch ziehen. Inwiefern muss auch der Schwerpunkt der Uni unterstützt werden, um sie „in Balance“ zu halten – sodass sie nicht kippt?

Die Konzentration auf den Ostseeraum beruht auf langen Traditionen: Schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurde der Grundstein für eine umfassende Beschäftigung mit nordeuropäischen Ländern in Greifswald gelegt. Als schließlich der Wende folgend nach möglichen Schwerpunkten für die Uni gesucht wurde, habe man sich an den bereits bestehenden Stellenstrukturen und außerdem an der geographischen Lage Greifswalds orientiert, berichtet Rektor Rainer Westermann. Nicht zuletzt wollte man sich in Mecklenburg-Vorpommern und auch in ganz Deutschland profilieren: „So einen Schwerpunkt gibt es an keiner anderen Universität in Deutschland!“ Die „Weiterentwicklung des Schwerpunktes Ostseeraum zu einem Alleinstellungsmerkmal in Forschung und Lehre“ ist auch im Leitbild sowie in der Zielvereinbarung der Universität von 2006 verankert.

Doch Worte sind bekanntlich noch lange keine Taten. Inwieweit hat die Universität nicht nur auf dem Papier ihren Schwerpunkt auf den Ostseeraum umgesetzt, sondern füllt diesen auch inhaltlich aus? Wie sieht das Verhältnis zwischen Anspruch und Verwirklichung aus?

Betrachtet man Institut für Institut, lässt sich die Umsetzung des Ostseeraumschwerpunkts noch gut nachvollziehen:Einige Abteilungen, wie die Nordistik und die Baltistik, sind durch die angebotenen Studienfächer und Sprachen in gewisser Weise automatisch am Schwerpunkt beteiligt. Die Baltistik bietet neben ihrem Bachelor auch den binationalen Masterstudiengang „Baltische Regionalstudien / Baltijos regiono studijos“ an, ein in Deutschland einmaliges Gemeinschaftsprojekt mit der Universität Vilnius (Litauen). Wer sich für das Programm entscheidet, soll ein Jahr in Greifswald und eins in Vilnius verbringen und einen doppelten Abschluss erhalten. Doch gerade einmal zwei Studenten belegen derzeit diesen Master.

Ähnlich gestaltet sich die Situation bei den Masterstudiengängen in der Nordischen Abteilung. Doch dass die Master-Plätze unbesetzt bleiben, ist offensichtlich eher ein generelles Problem. So sind Skandinavistik und Fennistik mit insgesamt 600 Studenten sonst recht gefragte Fächer, im Gegensatz zu den derzeit 35 Baltisten. Professor Stephan Kessler sieht die Ursache für die geringe Nachfrage in dem eher negativen Image des Baltikums innerhalb von Europa im Vergleich zu dem der skandinavischen Länder.

Dass die Nordische Abteilung insofern eine besonders zentrale Rolle für den Schwerpunkt einnehmen sollte, steht im Kontrast zu der geringen Beteiligung an Forschungsprojekten zum Ostseeraum. Abgesehen von kulturellen Veranstaltungen wie dem „Nordischen Klang“ finden hier momentan keinerlei Zusatzaktivitäten statt. Abteilungsleiter Professor Joachim Schiedermair begründet dies damit, dass sich das Institut zurzeit „in Erneuerung“ befindet und mehrere Lehrstühle in der Vergangenheit nicht besetzt waren.

Dass zu den Ostseeanrainern neben den skandinavischen und baltischen Ländern auch Polen und Russland zählen, gerät schnell in Vergessenheit. Doch die Slawistik in Greifswald beteiligt sich durch lebhafte Partnerschaftsbeziehungen unter anderem zu Kaliningrad, St. Petersburg und Stettin rege am Ostseeraumschwerpunkt. Dabei handelt es sich keineswegs nur um die üblichen Austauschprogramme für Studenten; auch Lesungen von Autoren und Dozentenaustausche bereichern die Lehre für Slawisten.

Sowohl in Forschung als auch in Lehre werden am Historischen Institut besonders engagiert Akzente zum Schwerpunkt gesetzt. Von den acht Lehrstühlen haben vier im weitesten Sinne Bezug zur Ostseeregion. Das Studium der nordischen Geschichte wird unterstützt durch regelmäßige Gastvorträge, Dozentenaustausche und Workshops. Exkursionen zu Originalschauplätzen geschichtlicher Ereignisse in Skandinavien lassen den Schwerpunkt hier, sollte man sich für eine Spezialisierung auf die Geschichte des Ostseeraums entscheiden, bereits sehr lebendig und anschaulich werden.

Doch nicht nur die Philosophische Fakultät ist an der Umsetzung beteiligt: Auch das Institut für Geographie und Geologie bringt sich mit SOKRATES-Intensivprogrammen mit Partneruniversitäten in Finnland, Schweden und den Niederlanden in den Forschungsschwerpunkt ein. In der Rechts- und Staatswissenschaftlichen Fakultät wurde für die Bereiche Jura und Wirtschaft je ein Stiftungslehrstuhl mit entsprechendem Schwerpunkt eingerichtet. Im Diplom-Studiengang BWL können sich die Studenten in Greifswald für das Wahlpflichtfach „Kultur-, Landes- und Wirtschaftskunde des Ostseeraums“ entscheiden. Dabei ist einer der Schwerpunkte Baltistik, Skandinavistik, Fennistik oder Slawistik zu wählen, innerhalb dessen sowohl Sprachkenntnisse als auch landeskundliches Wissen der entsprechenden Region zu erwerben sind.

Eine solche Konzentration auf den Ostseeraum hält der verantwortliche Lehrstuhlinhaber Professor Jan Körnert für sehr nützlich: „Jährlich drängen tausende BWL-Studenten auf den Arbeitsmarkt und man kann sich mit dem Ostseeraum eine interessante, die Aufmerksamkeit erregende Nische erschließen. Ein solch individuelles Profil wird vom Arbeitsmarkt honoriert.“ Dazu hat er auch gleich ein einleuchtendes Beispiel parat: „So wäre es vermutlich nicht schlecht, wenn man bei Geschäftsverhandlungen mit Nokia weiß, was das Kalevala ist, ob es schon einmal einen finnischen Nobelpreisträger gab und man sich womöglich in der Landessprache grob verständigen kann.“ Dennoch fehlt es dem Großteil an Studenten wohl dennoch an Interesse (oder an Mut?) für eine internationale Orientierung; dies jedenfalls lässt die geringe individuelle Nachfrage nach diesem Angebot vermuten.

Doch damit man tatsächlich von einer Gesamtausrichtung der Universität sprechen kann, die auch das Potential hat, eine Identität zu stiften, bedarf es mehr als dieser zahlreichen Einzelinitiativen lediglich auf Institutsebene. Es bedarf der Zusammenarbeit, Projekte auch über mehrere Fächer und Fakultäten hinweg. Eine stärkere „Vernetzung“ der Aktivitäten fordert beispielsweise auch Professor Ulrike Jekutsch von der Slawistik. Das gilt auch für die rein formale Begründung eines Forschungsschwerpunktes: „Zu einem Forschungsschwerpunkt wird ein Bereich erst dann, wenn es mindestens ein gefördertes Verbundprojekt gibt“, erklärt Rektor Westermann. Dieses Verbundprojekt hat die Greifswalder Uni Professor Michael North vom Historischen Institut zu verdanken, der zu Beginn des Jahres das internationale Graduiertenkolleg „Grenzräume in der Ostseeregion: Der Wandel kultureller und mentaler Grenzen im Ostseeraum“ („Baltic Borderlands“) nach Greifswald geholt hat und leitet.

In dem Kolleg forschen über 20 Doktoranden und mehrere Postdoktoranden aus verschiedenen Ländern gemeinsam in interdisziplinärer Perspektive zum Thema Grenzräume in der Ostseeregion. Neben Greifswald wird das Kolleg durch die Universität Lund in Schweden und die Universität Tartu in Estland getragen. Die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) fördert das Projekt mit rund zwei Millionen Euro. Die Bedeutung des Kollegs für die Uni Greifswald ist nicht zu übersehen: Der proklamierte Forschungsschwerpunkt „Ostseeraum“ wird allein von dem Graduiertenkolleg getragen und institutionalisiert.

„Dass man so den Schwerpunkt sichtlich etablieren konnte, ergibt einen großen Vorteil in der Wahrnehmung Greifswalds in der Öffentlichkeit“, erklärt der Koordinator des Kollegs Dr. Alexander Drost vom Historischen Institut dazu. Auch die internationalen Dimensionen des Projektes tragen wesentlich zu einer Stärkung der Philosophischen Fakultät bei: „Um die Finanzierung durch die DFG zu erreichen, musste Greifswald eine exzellente Doktorandenausbildung im internationalen Vergleich vorweisen und auch als Forschungsuniversität auf Weltniveau wahrgenommen werden.“ Zur Bedeutung für die Umsetzung des Ostseeraumschwerpunkt erklärt Drost weiter: „Mit der Etablierung des Graduiertenkollegs hat man es geschafft, dass der Ostseeraumschwerpunkt auch fassbar wird!“

Zweifelsohne ist der Schwerpunkt auf diese Weise sichtbar repräsentiert und „fassbar“: Für die DFG, für die Wahrnehmung Greifswalds in Mecklenburg-Vorpommern und in der deutschen Hochschullandschaft. Aber was ist mit den Studenten? Die Projekte und Tagungen des Graduiertenkollegs, die öffentlich sind, werden kaum von ihnen wahrgenommen. Das Interesse an dem Projekt aus studentischer Sicht ist mehr als dürftig; dass mit den siebenstelligen Förderungsbeiträgen der DFG auch die Lehre gestärkt wird, indem man so beispielsweise Professoren an die Universität binden kann, bleibt unbemerkt. Ob das Profil, das die Uni mit dem Schwerpunkt herzustellen versucht, für die Studenten ebenso sichtbar wird, bleibt daher fraglich.

Ein Weg dorthin würde vielleicht über die Etablierung von weiteren Aktivitäten führen, indem man noch deutlich mehr fächerübergreifende Projekte auch für Studenten aufstellt: „Wir haben einen deutlichen Mangel an größeren Verbundprojekten, abgesehen von dem Graduiertenkolleg“, meint auch Rektor Westermann. „Da sind andere Unis erfolgreicher; wir müssen in Greifswald noch einiges tun in der Hinsicht.“ Einen weiteren Weg sieht er in der Konzeption eines integrativen Studiengangs „Ostseeraum-Studien“, der verschiedene Studiengänge der Skandinavistik, Fennistik, Baltistik und Slawistik verbinden soll. Seit vielen Jahren seien dazu bereits Vorschläge gemacht worden, doch diese wurden immer wieder wegdiskutiert. So fehlt bisher eine „identitätsstiftende, gemeinsame Aktivität zwischen den verschiedenen Instituten“, wie sie sich Westermann wünscht.

Ob man mit einer derartigen Ausgestaltung des Schwerpunkts tatsächlich Studenten anlocken kann, bleibt fraglich: Die geringe Frequentierung von Studiengängen wie Baltistik macht das eher geringe studentische Interesse am Ostseeraum im Vergleich zu anderen Sprachen und Regionen deutlich. Doch wenn sich die Ostseeregion im Profil auch nicht als Magnet für junge Leute herausstellt, besteht immer noch die Chance, Studenten, die es bereits nach Greifswald verschlagen hat, vor Ort für den Ostseeraum zu interessieren. Gerade Studenten aus anderen Fakultäten als der Philosophischen, wie Wirtschaftswissenschaftler, könnten die Möglichkeiten in Greifswald nutzen, um sich hier für den auf dem Arbeitsmarkt zu spezialisieren. Doch um solche Kandidaten zu erreichen, bedarf es tatsächlich eines lebendigen Schwerpunktes, der das Interesse auf sich zieht – und nicht zuletzt auch des Mutes dieser Studenten gerade für die ungewöhnlichen Nischen.

Die Konzentration auf einen bestimmten Schwerpunkt trägt immer zur Profilierung bei, zur Herausbildung von einzigartigen Besonderheiten, zur Abhebung vom Mittelmaß. Ein solches Alleinstellungsmerkmal ist heute sowohl für arbeitsuchende Absolventen im individuellen Lebenslauf wichtig, als auch für die Universität Greifswald und die Begründung ihrer Daseinsberechtigung. Gerade in Zeiten, in denen diese nicht mehr über eine gesicherte Stellung in der Hochschullandschaft verfügt und möglicherweise einen „Anker“ in ihr braucht. So wie bei einem Dreieck, dessen Schwerpunkt unterstützt werden muss, um es vor dem Kippen zu bewahren.

Ein Bericht von Christiane Müller mit einem Bild von Reinhard Kraasch via wikimedia.org