„Denn meine Gedanken

Zerreißen die Schranken (…)“

Dabei nimmt sowohl das Gedicht, als auch die Animation zu „Howl“ konkrete Reminiszenzen an jenen Film auf, der im Berlinale-Programm zum Großereignis stilisiert wurde: Fritz Langs „Metropolis“. Es wäre ein eigenes Thema, über diese genreprägende Gesellschaftsparabel weiter nachzudenken – zur Auffindung verschollengeglaubter Fragmente in Argentinien und die dadurch ermöglichte Urfassung von 1927 ist bereits viel gesagt worden. (Das lange Warten auf den Beginn des Films vor dem verschneiten Brandenburger Tor wäre als Studie kollektiven Sozialverhaltens interessant.)

Mit dem, von einem Dualismus aus Proletariat und „Oberschicht“ geprägten, Bild des urbanen Sündenpfuhls wird neben der Personifikation des Götzendienstes an der „großen Hure Babylon“ in der „Maschinenfrau“ auch die visuelle Grundlage für einen Strang der Zukunftsvisionen der folgenden Jahrzehnte gelegt. Der technokratischen Überhöhung Großstadt steht jedoch noch ein anderes Szenario gegenüber, dessen Titel eigentlich missverständlich, da nicht zum eigentlichen Kern zu Ende gedacht, ist: die sogenannte „postapokalyptische Welt“.

Die Aufführung von "Metropolis" am Brandenburger Tor eröffnete die 60. Berlinale

Mit seinem kleinen, aber feinen Werk „The boy who wouldn’t kill“ taucht der junge Berliner Regisseur Linus de Paoli in eben jenes Szenario ein, dass einem durch „Mad Max“ archetypisch vertraut und aktuell in „The book of Eli“ zu sehen ist: Die Reste der Menschheit, die einer globalen Katastrophe entronnen sind, haben ihre Sozialkompetenz auf archaische Grundzüge reduziert, mit denen sie ums blanke Überleben kämpfen. Für diesen Film spricht nicht unbedingt die Innovation der Grundidee, sondern die Qualität, mit der sie adaptiert wurde. Vom Kolorit bis hin zur musikalischen Epik fühlt man sich an Tarantinosche Maßstäbe der Genreparodie erinnert, wobei die in sich abgerundete Geschichte genügend eigene Tragkraft hat, um nicht in der Analyse von Querverweisen „gerupft“ (oder geköpft) werden zu müssen.

Der 25minütige Film, der, wie der Regisseur auf mein Nachfragen hin preisgab, in einem alten Tagebau bei Cottbus gedreht wurde, fand zusammen mit zwei weiteren Beiträgen der „Perspektive deutsches Kino“ seine Aufführung. Zum einen war es „Glebs Film“ von Christian Hornung, der geradezu antithetisch dazu keine großen Bilder zeigt, sondern einen weißrussisch-stämmigen Frisör in Hamburg porträtiert, der im Dialog mit seiner meist älteren Kundschaft ein potentielles Drehbuch entspinnt, das mit seiner Herz-Schmerz-Geschichte mehr oder minder subtil deren Sehnsüchte reflektiert.

Zum anderen war ich überrascht, hinter der Regie von „Hollywood Drama“ einen Herrn namens Sergej Moya zu finden. Während sein Film als Generalabrechtung mit den Befindlichkeiten der eigenen Branche doch zu zynische Züge annahm – beispielsweise, wenn der umjubelte Filmstar (gespielt von Clemens Schick) den deutschen Klischee-Nazi nicht nur spielt – war es aber gerade der Schauspieler Moya, der mir durch seine eindringliche Darstellung eines zutiefst verstörten Schülers in einem saarländischen „Tatort“, vor einigen Wochen, ins Gedächtnis kam. (Ob in dieser Rolle ein Verweis auf Heath Ledgers „Joker“ intendiert war, hatte ich ihn nach der Vorführung gefragt, was er zwar verneinte, aber zugab, die Frage schon öfters gehört zu haben.)

„(…) Und Mauern inzwei,

Die Gedanken sind frei.“[1]

Das Konzept, sich mit einer Collage von Kurzfilmen den Befindlichkeiten eines ganzen Landes zu nähern, hatte im letzten Jahr ja zu der doch eher pessimistischen Regiekooperation „Deutschland 09“ geführt. Auf ähnliche Weise näherten sich nun mit dem Projekt „Revolución“ 10 lateinamerikanische Regisseurinnen und Regisseure vor dem Hintergrund des hundertjährigen Jubiläums des Sturzes des mexikanischen Diktators Porfirio Días den heutigen Befindlichkeiten dieses Landes. Dabei wird die Suche nach der eigenen, „nationalen“ Identität häufig in der Relation zum großen Nachbarn USA thematisiert. So wie in Patricia Riggens Beitrag „Lindo y querido“ („Schön und geliebt“) für eine in Kalifornien lebende junge Frau die alte Pistole des Großvaters aus Revolutionstagen als „Reliquie“ zum Schlüssel für ein eigenes Herkunftsbewusstsein wird, so ist in Rodrigo Plás „30/30“ der Nachfahre eines Revolutionshelden zu einem Maskottchen für einen Lokalpolitiker geworden. Wenn in Mariana Chenillos “La tienda de raya” (“The estate store”) eine Verkäuferin versucht gegen den „Machester-Kapitalismus“ ihres Arbeitgebers anzukämpfen, erscheinen unsere Skandale von „Lidl-Stasi“ & Co. geradezu belanglos.

Doch trotz der Anklage der Zustände im Land kommt in den Beiträgen eine tiefe Bejahung dessen zum Ausdruck, was man als seine „Seele“ bezeichnen kann. Mit den erhabenen Zeitlupenbildern des letzten Kurzfilms, „La 7th y Alvarado“ von Rodrigo García, in dem die Helden von einst mit verstaubten Sombreros ehrfürchtig durch die belebten Straßen einer heutigen Großstadt reiten, könnte man die Betrachtung gesamten Festivalprogramms beschließen.

Doch da man als Greifswalder nicht um den alten Caspar David Friedrich herum kommt, soll als Finale das des Beitrages „Lucio“ dienen, den man zunächst Carlos Reygadas zurechnen möchte, der 2005 in „Battle in Heaven“ als bekennender „Friedrich-Fan“ eine ähnliche Bildsprache wählte, hier jedoch mit „Este es mi reino“ („Das ist mein Königreich“) von einer ausgelassenen Familienfeier(=Dorffest) berichtet. Lucio ist ein Junge, der die strenge Anbetung des Kruzifixus als Idolatrie empfindet und stattdessen als „Wanderer über dem Nebelmeer“ die pantheistische Weite einer Berglandschaft genießt. Damit überträgt Gael García Bernal sein Revoluzzer-Image auch hinter die Kamera und macht deutlich, dass der Mensch nicht nur physisch sondern auch im Geiste stets nach Freiheit strebt.

[1] „Lied des Verfolgten im Turm“ aus „Des Knaben Wunderhorn“

Bilder:

Fotogalerie – Arvid Hansmann

Aufführung „Metropolis“ – Arvid Hansmann

Filmplakat „A somewhat gentle man“ – Paradox Productions

The Killer inside me – Revolution Films

Szen „Howl“ – Pressematerial Berlinale