Auch wenn ich das Filmprogramm wieder nur in bruchstückhaften Auszügen wahrnehmen konnte, so schien darüber in diesem Jubiläumsjahr der Grundtenor von „Gefangenschaft“ und „Befreiung“ zu schweben. Sei es der konkrete Umgang mit der dem Motiv der Haftanstalt, oder die Skizzierung sozialer Normen und Schranken, gegen die die Protagonisten ankämpften, an denen sie scheiterten, die sie überwanden.
„Und sperrt man mich ein
Im finsteren Kerker (…)“
Der norwegische Wettbewerbsbeitrag „En ganske snill mann“ („A somewhat gentle man“) von Hans Petter Moland stellte dabei mit seinem grotesk-lakonischen Humor eine gewisse Ausnahme dar, da die tragische Situation des entlassenen Schwerverbrechers – so viel sei verraten – in einem gewissen „Happy End“ der Frühlingssonne ausklingt. Um dem Klischee zu folgen, dass Verbrecher meist „Ausländer“ seien, besetzte Moland die Hauptrolle mit dem Schweden Stellan Skarsgård, der hier in seiner gebrochenen Vaterfigur an den „Fluch der Karibik“ erinnert.
Den digitalen Arabesken aus untotem Seemannsgarn steht hier aber die nüchtern-realistische Welt Skandinaviens gegenüber, die jedoch mit ihren schrägen Charakteren und „desperate housewives“ ebenso zu Amüsement und Gruseln einlädt: Dieser Film ist wärmstens für den „Nordischen Klang“ zu empfehlen!
In puncto Realismus ging der Rumäne Florin Şerban in „Eu cand vreu sa fluier, fluier“ („Wenn ich pfeifen will, dann pfeife ich“) noch einen Schritt weiter. Für die Geschichte eines jugendlichen Sträflings, die fast ausschließlich in der Barackenlandschaft einer Zuchtanstalt mit „agrarischer Ausrichtung“ spielt, wurden teils echte „Knastbrüder“ und Wärter eingesetzt.
Die Intimität mit der die beengte Lebenswelt des jungen Mannes (George Pişereanu) beleuchtet wird, führt einem den tagtäglichen Kampf um Essentialitäten vor Augen, denen wir augrund der vermeintlichen Selbstverständlichkeit kaum noch Beachtung schenken. Die Erniedrigung, die der Protagonist in Kauf nimmt, nur um sich ein Handy-Telefonat mit seinem kleinen Bruder zu erbitten, wirkt ähnlich intensiv, wie die Begegnung mit einer jungen Psychologiestudentin (Ada Cordeescu). Ebenso kalkulierbar wie die sexuelle Energie, die diese Konfrontation zweier Welten freisetzt, so menschlich-irrational wirkt der emotionale Ausbruch mit dem er sie als Geisel nimmt. Doch auch in den animalischsten Reaktionen werden hier Züge der Achtung des Gegenüber zum Vorschein gebracht. Während die Mithäftlinge den Flüchtenden grölend zur „Sache“ animieren, ist er bestrebt durch ein „Zeichen“ – auch wenn es nur eine gemeinsame Tasse Kaffee ist – einen Ritus zu schaffen, der als Erinnerung über den Nihilismus seiner Situation hinaus Bestand hat.
„Dies alles sind nur
Vergebliche Werke (…)“
Gerade zu reziprok dazu scheint „The killer inside me“ von Michael Winterbottom zu sein – den ich mir nicht antat. Während der Brite zuvor seinen Realismus nutzte, um politische Missstände anzuprangern („The road to Guantanamo“, 2006), hat er sich hier darauf konzentriert, den Sadismus eines amerikanischen Polizisten (Casey Affleck) in den 1950er Jahren zu sezieren. Da die Geschichte von Jim Thompson 1976 schon einmal verfilmt wurde, scheint diese Drastik, unter der auch die nette Jessica Alba zu leiden hat, als vermeintliches „innovatives Moment“ betrachtet zu werden – doch dem Hoffen auf den kathartischen Effekt steht die latente Gefahr der Trivialisierung, oder gar Übernahme der Gewalt gegenüber. (Dazu ein Zitat eines Kommilitonen: „Filme machen nicht verrückt, aber Verrückte kreativer.“)
Auch wenn mir das Schicksal des Protagonisten nicht bekannt ist, so scheint er doch ein idealer Kandidat für die mysteriöse Anstalt in Martin Scorseses „Shutter Island“ zu sein. Die hier wieder routinierten Sehgewohnheiten Hollywoods geben in der anfänglichen Konstellation, auch visuell, direkte Bezüge zu Jean-Jacques Annauds „Der Name der Rose“, die dann jedoch in einer Dekonstruktion begriffen sind, die sich nur bedingt wieder zu einem stimmigen neuen Bild zusammensetzen lässt.
Während hier die überladene Mehrschichtigkeit – sei es bewusst oder unbewusst – zur Verwirrung führt, mag die Parallelität der einzelnen Handlungsstränge in „Howl“ („Geheul“) von Rob Epstein und Jeffrey Friedman zunächst etwas nüchtern erscheinen. Die Rezitation dieses epischen Gedichtes durch den Autor Allen Ginsberg (gespielt von James Franco) in einem verrauchten Club wird mit einem späteren Interview sowie einer Gerichtsverhandlung über die vermeintliche Obszönität des Werkes verwoben, wobei jeder Teil als eigenständiges Narrativ stehen bleibt. Als eine vierte Ebene kommt jedoch eine computeranimierte Illustration der rezitierten Zeilen hinzu. Man mag es als Errungenschaft des digitalen Zeitalters oder als Verlust des literarischen Abstraktionsvermögens bewerten, wenn die ebenso plastischen, wie transzendentalen Zeilen in ekstatischen Bildern hervorbrechen. Ihre Homosexualität mag zwar etwas befremden, jedoch bewegen sie in ihrer, von kulturell-religiöser Tiefe durchdrungenen, Sehnsuchtsbekundung das Herz jeden Romantikers.
Mit diesem dritten Beitrag zu den amerikanischen 1950er Jahren wird deren Übergang vom kommunikativen zum kulturellen Gedächtnis manifestiert. Die hier aufgezeigte geistig-soziale Welt macht einem die direkten Traditionslinien in eine Zeit deutlich, die uns Deutschen längst in verklärte Sphären entschwunden ist: die urbane Kultur der „Goldenen 20er“.
(weiter im text und zur Berlinale-Galerie auf der nächsten Seite)
meine güte, der webmoritz wird ja langsam richtig cineastisch!