Johannes ist Schüler der achten Klasse. Am Freitag geht er bis mittags in die Schule, dann hat er eine kurze Pause, und während andere Kinder bereits ihr Wochenende genießen, macht sich Johannes noch einmal für vier Stunden auf den Weg in die „Kiste“. Jeden Freitagnachmittag sitzt er dort von 15.00 bis 19.00 Uhr im Grundkurs Öffentliches Recht für Jurastudierende.
Johannes hat einen IQ von 130 und besucht eine Hochbegabtenklasse des Alexander-von-Humboldt-Gymnasiums in Greifswald. Seit diesem Jahr genießen die Schüler dieser Klasse nicht nur eine spezielle Förderung ihrer Fähigkeiten durch die Schule, sondern haben auch die Möglichkeit, an der Universität ein so genanntes Juniorstudium aufzunehmen. Dazu schloss das Gymnasium eine Kooperationsvereinbarung mit der Universität Greifswald ab. Diese beinhaltet ein Angebot von Lehrveranstaltungen, an denen die Kinder ab der achten Klasse teilnehmen können. In diesem Jahr fand zunächst ein vierwöchiger Testlauf statt, für den die Juniorstudenten in der Zeit, die sie zur Universität gingen, noch freigestellt wurden. Entscheiden sie sich für eine Fortsetzung dieses Experimentes in den nächsten Jahren, so studieren sie ab der zehnten Klasse parallel zum Schulunterricht ein komplettes Fach und können ihre ersten Scheine erwerben oder Punkte sammeln. Auf diese Weise können sie zeitgleich mit dem Abitur ein komplettes Grundstudium abschließen, so das langfristige Ziel.
Bei den möglichen Lehrveranstaltungen handelt es sich um ein breites Angebot aller Fakultäten, hauptsächlich um Einführungsveranstaltungen für Erstsemester. Die meisten der 22 Juniorstudenten entschieden sich jedoch eher für schulnahe Studienfächer wie Mathematik oder Physik als beispielsweise für Medizin.
Viele Außenstehende ahnen nicht, dass Hochbegabung, wenn sie nicht gefördert wird, oft sogar zum Problem für die „Betroffenen“ wird. Die permanente Unterforderung lässt die Begabung nicht nur verkümmern, sondern sorgt auch für mangelnde Motivation bei den Kindern. Dies führt mitunter zu sehr mäßigen Schulnoten bis hin zu Klassenwiederholungen und sozialen Problemen. Ähnlich verlief die Entwicklung von Johannes: „In der Schule, in der er vorher war, hat er immer relativ schlecht abgeschnitten, obwohl wir einen ganz anderen Eindruck von ihm hatten“, berichtet Johannes Vater. „Nachdem wir die Schulpsychologin gefragt hatten, wurde seine Hochbegabung an dieser Stelle bestätigt.“ In einem wissenschaftlichen Testverfahren konnte Johannes seine besonderen Fähigkeiten nachweisen und fand so den Weg in eine der Förderklassen am Humboldt-Gymnasium. Hier erhalten die Kinder nicht nur anspruchsvolleren Gymnasialunterricht, sondern auch individuelle Förderpläne und ein umfangreiches Angebot an Projekten und Arbeitsgemeinschaften. Wer sich dort auch mit der herkömmlichen Begabungsförderung noch unterfordert fühlt, hat nun durch das Juniorstudium die Chance, seine Studienzeit zu verkürzen und sich schon frühzeitig in eine Berufsrichtung zu orientieren.
Im diesjährigen Testlauf soll zunächst beobachtet werden, ob die Schüler tatsächlich dem Anspruch in den Lehrveranstaltungen gewachsen sind oder ob sie doch vom Hochschulniveau überfordert sind. In der Vorlesung für Öffentliches Recht fällt es ihnen nicht immer leicht, mitzukommen, wie einige der Achtklässler gestehen. Viele Fremdwörter und die fehlenden anderen Lehrveranstaltungen machen das Verständnis mitunter schwer. „Vieles in der Vorlesung baut zum Beispiel auf Strafrecht auf, das wir ja noch gar nicht haben“, berichtet Roland. Zudem fehlen ihnen die wichtigen vorlesungsbegleitenden Kolloquien, in denen an Beispielfällen der Stoff der Vorlesung vertieft wird. Auch die Lehrkräfte sind zum Teil skeptisch gegenüber dem Konzept. Professor Jürgen Kohler, der seinen Grundkurs Privatrecht ebenfalls für die jungen Talente öffnete, hat zwar „den Eindruck, dass sie etwas aus der Veranstaltung mitgenommen haben. Ob es allerdings mehr als ein Hineinschnuppern ist – wenn es denn überhaupt mehr sein soll – und etwas Konsistentes und Nachhaltiges erreicht wird, bezweifle ich. So stellt sich die Frage, ob die Junioren ihre Zeit nicht anders nützlicher einsetzen könnten.“
Johannes Vater unterdessen sieht keine Zusatzbelastung durch das Juniorstudium bei seinem Sohn: „Da es sich nur um eine Lehrveranstaltung handelt, ist die zusätzliche Arbeit nicht besonders groß. Johannes ist auch sehr interessiert an dem Fach und erzählt zu Hause öfter von Themen aus der Vorlesung.“ Johannes selbst ist sich noch nicht sicher, ob er das Juniorstudium in der neunten Klasse fortsetzen will: „Eine Veranstaltung in der Woche ist okay, aber wenn die Uni ab nächstem Jahr parallel zur Schule läuft, wird das ziemlich viel Aufwand werden. Das stelle ich mir schwierig vor.“
Fraglich bleibt außerdem, ob jeder Vierzehnjährige bereits so konkrete Vorstellungen von den einzelnen Studienfächern entwickelt hat, dass er sich schon in der achten Klasse auf einen Studiengang festlegen kann. Julius jedenfalls, der ebenfalls den Grundkurs „Öffentliches Recht“ besucht, fand Jura „ziemlich interessant“ und hatte ganz praktische Motive bei der Wahl seines Wunschfaches: „Schließlich ist es wichtig, dass man später im Leben keine illegalen Sachen macht. Außerdem wird man als Anwalt auch ganz gut bezahlt.“
Verantwortlich auf universitärer Seite für das Projekt ist das Team Studienorientierung von der Presse- und Informationsstelle der Universität – eine Gruppe von Studierenden, welche die Organisation in die Hand nahmen und die Achtklässler bei ihren ersten Schritten in den Hörsaal begleiteten. Björn Besser, einem der Mitorganisatoren aus dem Team, ist ein weiterer Kritikpunkt aufgefallen: „Durch das Juniorstudium wird man stark gefördert, aber man vergisst hier sehr schnell die soziale Komponente: Die Schüler befinden sich dann mit 16 nur zwischen 20- bis 24-Jährigen, während sie zur Uni gehen. Wenn sie dann ihr Studium beenden, sind alle ihre Kommilitonen schon mit Familienplänen und Wurzelnschlagen beschäftigt, während sie selbst gerade in der Blüte des Lebens angekommen sind.“ Neben dem Altersunterschied bleibt auch fraglich, ob ein Berufseinstieg direkt nach dem Abitur nicht verfrüht ist – ganz zu schweigen von der Frage, wer die 18-jährigen Absolventen einstellen würde.
Die Universität verspricht sich, durch das Projekt junge Menschen aus der Region, die es sonst bekanntlich gerne in die Fremde zieht, an die Hochschule zu binden. Geht das Konzept auf, so könnten auch beide Seiten daran gewinnen: die Universität, die auf diesem Weg viel versprechende Wissenschaftler für die Zukunft ausbildet und die Schüler, die ihre Potenziale sehr frühzeitig schon genutzt haben. Professor Uwe Kischel, der in seinem Kurs Öffentliches Recht drei der „Testschüler“ unterrichtet hat, formuliert es ganz treffend: „Das Juniorstudium ist eine ausgesprochen spannende Idee. Ich weiß aber nicht, ob sie funktionieren wird, insbesondere da die Studenten nicht aus der Oberstufe, sondern aus der Mittelstufe stammen. Doch lasse ich da gern die zukünftigen Fakten für sich sprechen.“ Wie viele der 22 ersten Juniorstudenten in vier Jahren tatsächlich nicht nur ihr Abitur, sondern auch einen Studienabschluss in den Händen halten, bleibt abzuwarten.
Ein Artikel von Christiane Müller
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