Jürgen Giebel (49), Professor im Institut für Anatomie und Zellbiologie, erzählt über seinen Weg, der ihn nach Greifswald gebracht hat und warum er nicht wieder gehen mag.
moritz Sie haben Biologie in Hannover studiert. Anschließend haben Sie an Ihrer Diplomarbeit gearbeitet, welche in die mikrobiologische Richtung ging und Ihre Promotionsarbeit ging dann in die Pharmakologie/Zellbiologie. Warum haben Sie die Fachrichtungen immer gewechselt?
Jürgen Giebel Als Biologe hat man ja nicht unbedingt einen richtigen Fahrplan. Da kann man ganz viel machen. Mich haben Bakterien interessiert und dann habe ich nach der Diplomarbeit noch ein Jahr beim Projekt „Seehundsterben“ mitgearbeitet. Darin wollte ich dann auch promovieren, aber meine damalige Chefin sagte, sie würde bald in den Ruhestand gehen. Also musste ich mir etwas anderes suchen und so bin ich in der Pharmakologie gelandet.
moritz Wie kamen Sie dann zur Anatomie?
Giebel Ich war auf einigen Anatomiekongressen und ich kannte damals schon einige Anatomen; außerdem wollte ich weiter morphologisch arbeiten und vor allem auf mikroskopischem Level. Da habe ich mich beraten lassen und mich anschließend bei einigen Anatomen beworben. Dann kam ein Brief aus Greifswald und nachdem ich zum Bewerbungsgespräch hier war, habe ich dann am 1. Februar 1993 in der Anatomie angefangen. Daran kann ich mich heute noch ganz genau erinnern, es waren bitterkalte minus 16°C hier!
moritz Kam das Wissen über die Anatomie dann mit der Zeit?
Giebel Ja, ich bin gleich am Anfang zu meinem Chef gegangen und meinte, ich kann viele Teilgebiete noch nicht. Ich hatte zwar Gewebelehre, also die Histologie und Zellbiologie, aber ich hatte nie makroskopische und mikroskopische Anatomie. Mein damaliger Chef meinte dann, ich müsse das erst lernen und wenn ich das wolle, könne ich das auch. Er erklärte auch, dass das kaum einer richtig kann, wenn er hier als Anfänger herkommt. So musste ich mir den großen Rest aneignen.
moritz Dann ist auch da noch nicht Schluss gewesen mit dem Studium?
Giebel Nein, das ist auch jetzt noch nicht so. Naja gucken Sie mal, hier liegen die Bücher rum und wissenschaftliche Artikel und hier sieht es aus wie Kraut und Rüben. Es gibt immer wieder neue Bücher und Publikationen mit immer wieder neuen Schwerpunkten und da steht der Verstand nicht still.
moritz Mir ist aufgefallen, dass es wenige Frauen im Institut gibt. Würden Sie sagen, die Anatomie ist eher eine Fachrichtung für Männer?
Giebel Nein, wir haben hier beispielsweise drei Frauen im Institut und früher waren es sogar noch mehr. Auch wenn ich mir andere Universitäten anschaue, da gibt es auch überall Anatominnen.
moritz Wären Sie in der heutigen Zeit gerne Student, gerade jetzt im Zuge des Bildungsstreiks, wo unter anderem ja die Bologna-Reform stark kritisiert wird?
Giebel Wenn ich das jetzt mal vergleiche, ich bin im April zum Semesterstart hingegangen und habe im Juli aufgehört. In den Semesterferien konnte ich dann arbeiten und habe gar nichts gemacht für die Uni. Das lag unter anderem auch daran, dass kaum etwas vorlag, es gab nur selten Praktika in den Ferien. Dies ist heute nicht mehr so. Ich konnte mich noch selbst finden, wenn Sie es so wollen. Schauen Sie mal, es gibt Statistiken und Untersuchungen darüber, wie viele Studenten Psychopharmaka konsumieren und das hört man auch immer mehr. Das scheint doch auf den ungeheuren Druck zurück zuführen zu sein. Sie müssen ihre Scheine möglichst schnell machen und können sich nicht mehr ausprobieren; das finde ich schade. Ich habe auch vor kurzem mit meinem Chef über die Verschulung des Humanbiologiestudiums gesprochen, diese Entwicklung bedauere ich auch.
moritz Welche Erinnerungen verbinden Sie denn mit Ihrer Studienzeit?
Giebel Das war relativ locker! Ich glaube nicht, dass sie heute diese Lockerheit haben. Es ist nicht so, dass wir nichts gelernt hätten, aber wir hatten viel weniger Stress. Trotzdem, soweit ich mich erinnern kann, bin ich nie durch eine Klausur gekracht.
moritz Also waren Sie ein richtig guter Student?
Giebel Was heißt richtig gut – man macht doch seine Sachen ordentlich.
moritz Sie sehen sehr jung aus, darf ich fragen wie alt Sie sind?
Giebel Ich bin 49. Das macht die Anatomie, die hält jung und das Formaldehyd konserviert. (lacht) Außerdem habe ich jeden Tag mit jungen Menschen zu tun, das hält auch jung.
moritz Sie führen hier am Institut einen Präparierkurs durch. Das bedeutet, Sie ermöglichen beispielsweise Medizinstudierenden ein praktisches Anatomiestudium. Haben Sie Tipps für die neuen Studierende bei Ihnen im Institut, welche noch nie mit einer Leiche zu tun hatten?
Giebel Als Mediziner werden sie früher oder später mit dem Tod konfrontiert, aber einen Tipp gibt es nicht.
moritz Wie haben Sie sich gefühlt, als sie Ihre erste Leiche sahen und wann war das?
Giebel Das erste Mal als ich eine Leiche gesehen habe, das war hier am Institut während des Präparierkurses. Ich war fix und fertig, das kann ich Ihnen sagen. Aber das ging dann bald wieder.
moritz Kippen denn viele Studierende um?
Giebel Vor ein paar Jahren sind einige umgekippt. Ich glaube aber nicht, dass es nur daran liegt, dass sie eine Leiche sehen, sondern an mehreren Faktoren. Natürlich ist man emotional aufgekratzt, aber es riecht auch nach Formalin und anderen Konservierungsmitteln und da wird einem manchmal schwarz vor den Augen. Aber bisher hat auch noch niemand den Kurs wegen dieser Gegebenheiten abgebrochen. Vor allem sieht jeder, wie sinnvoll das Ganze ist. Dann sieht man mal wie dick der Ischias-Nerv wirklich ist, da machen Sie sich ja als Nicht-Medizinerin gar keinen Begriff von. Der ist so dick wie mein kleiner Finger und kommt da hinten raus (Anm. der Redaktion: zeigt auf die hintere Beckenregion). Und der ist lang: Der zieht sich bis zum Fuß unten hin und versorgt fast das ganze Bein. Das ist doch abgefahren! Ehrlich!
moritz Was ist Ihr Lieblingsort in Greifswald?
Giebel Mein Garten, sowie der Botanische Garten und das Arboretum sind super. Ich gehe im Frühling auch gerne mit meiner Familie zu den Peene-Wiesen außerhalb Greifswalds, da müssen Sie auch mal hingehen. Dort finden sie relativ seltene Vögel, tolle Blumen und ab und zu fliegt da auch ein Seeadler herum. Aber leider fehlt mir meistens die Zeit.
moritz Haben Sie das Glück, dass Sie Ihre Frau und Ihre Kinder hier haben, oder müssen Sie Pendeln?
Giebel So etwas käme für mich gar nicht in Frage. Von daher bin ich sehr froh, dass meine Frau mitgekommen ist, und meine beiden Kinder sind waschechte Ostvorpommern.
moritz Wo sehen Sie sich in 15 Jahren?
Giebel Immer noch in Greifswald! (lacht) Ich komme hier nicht weg und ich will auch nicht wirklich weg, ich fühle mich wohl. Wenn Sie einen Job haben, den Sie mögen, und jeden im Institut schon lange kennen, dann ist das ein unschätzbarer Vorteil. Wir wissen alle, was wir an uns haben und das ist auch irgendwie schön.
moritz Herr Professor Giebel, wir danken Ihnen vielmals für das Gespräch.
Das Gespräch führte Ella Jahn