Am Samstag, dem 21.11.09, einen Tag nach der feierlichen Eröffnung des „polenmARkT“, wurden Literaturfreunde Deutschlands und Polens sogleich mit einem Kabinettstück verwöhnt. Zwei Lyriker und Kenner beider Nationen, Hans Thill, und der gebürtige Pole, Andrzej Kopacki, stritten und bestritten zusammen mit Moderator Dr. Matthias Kneip Wege des Literaturbetriebs und lasen aus ihren Werken. webMoritz-Autor Marius Külzer sprach nach der Lesung mit dem polnischen Gast über die Wende in Polen und Deutschland, den Stellenwert der Übersetzung und die Zukunft der Literatur.

webMoritz: Herr Kopacki, Sie kommen gerade aus der Diskussion des Dichtertreffens hier im Koeppenhaus anlässlich des Polenmarktes in diesem Jahr. Vorab die Frage: Sind Sie das erste Mal in Greifswald?
Kopacki:
Ja, das ist mein erster Besuch in Greifswald.

webMoritz: Konnten Sie denn schon einen kleinen Eindruck vom Polenmarkt gewinnen?
Kopacki:
Nein, überhaupt nicht, ich bin heute Abend direkt zur Veranstaltung gekommen und morgen muss ich wieder weg. Also ich bin wirklich ein Flucht-Gast, das ist ein sehr kurzer Aufenthalt.

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Das Logo des diesjährigen PolenmARkTs

webMoritz: Offiziell soll der Polenmarkt einen kulturellen Austausch zwischen Deutschen und Polen darstellen.
Kopacki:
Ich kann nur sagen, wie es von meinem Standpunkt aus, dem eines Grenzgängers, aussieht. Ich befasse mich mit Deutschland, mit der deutschen Literatur und der deutschen Kultur, aber ich bin in Polen zuhause. Schreiben tue ich auf Polnisch. Und ich finde es wichtig, dass man auf beiden Seiten dafür arbeitet, was man als Transfer oder Austausch oder einfach eine Berührung von zwei Landschaften in Kultur und Politik und anderen Bereichen des sozialen Lebens versteht. So wie das hier gestaltet wird, scheint mir sehr sinnvoll: Dass die Insider von hier zu Veranstaltungen kommen, wo Leute aus Polen etwas zu sagen haben oder einfach auftreten – weil es eben ein wirklicher Gedanken- und Erfahrungsaustausch ist.

Wir haben in Polen kein Wort für „die Wende“

webMoritz: Das ist ja ein klares Bekenntnis zu sagen: da und da bin ich zuhause. Wir haben ja, um in ihre Poesie einzusteigen, ein Gedicht gehört, „Die Wende“, ein, wie sie selbst sagen, politisches Gedicht zur politischen Wende in Deutschland.
Kopacki:
Ich habe das anders gemeint. Das Gedicht heißt „Neue Zeiten“. 1989 und 1990 ist natürlich eine Wende gewesen für uns alle. In Deutschland bezeichnet man dieses historische Phänomen mit der Bezeichnung „Wende“. Es gibt eigentlich kein polnisches Wort dafür, was bei uns 1989 passiert ist. Man könnte sagen, das war eine Revolution ohne Gewalt, die für unsere Begriffe im Grunde genommen ein letzter Punkt war, von dem, was 1980 seinen Anfang nahm. Wir haben alle in Mittel- und Mittel-Ost-Europa dieses Gefühl gehabt, dass dies eine historische Veränderung ist. Und in diesem Sinne ist es eine große Wende gewesen. Das Gedicht bezieht sich mit dem Titel „Neue Zeiten“ auf diese Erfahrung, dass plötzlich etwas Neues anfängt für uns Mitteleuropäer. Damals aber wussten wir noch nicht, was das sein wird.

webMoritz: Wissen Sie das inzwischen?
Kopacki: Nun ja, es ist bereits 20 Jahre her. Wir haben natürlich diesen Weg hinter uns: der Aufbau, die Gründerzeit, egal wie wir das bezeichnen. Das ist eine Erfahrung der Freiheit im Rahmen einer demokratischen Ordnung, und mit der Eigentümlichkeit unserer Entwicklungen in Polen und in Ostdeutschland. Die beiden Wege sind natürlich etwas different.

webMoritz: Es soll uns ja um Literatur in Polen gehen und wenn wir das jetzt aus literarischer Sicht betrachten, was ist das Eigentümliche an dieser Entwicklung, wie Sie sagen?
Kopacki:
Das ist nicht die Frage der Literatur, das ist die Frage der gesellschaftspolitischen, der historischen Erfahrung. Die Literatur ist ein Spiegel davon.

webMoritz: Literatur ist ein Spiegel davon?
Kopacki:
Ja. In der polnischen wie in der deutschen Literatur gab es auch früher sehr viele Phänomene, die man aus Erfahrung kannte, die von Differenzen und Ähnlichkeiten zeugten und in literarischen Texten zum Ausdruck gebracht wurden. Und jetzt die Tatsache, dass wir eine andere Demokratie sind, ein etwas anderer Kapitalismus als Frankreich, England, Westeuropa, ist doch klar. Die Polen und die Ostdeutschen sehen ja ein, dass das europäische Zusammenwachsen nicht so ganz diese Unterschiede weggewischt hat. Die Eigentümlichkeiten sind natürlich da und es ist auch gut so. Und in der Literatur gibt es Widerspiegelungen davon, wie auch davon, dass wir doch eine große europäische Familie sind…

webMoritz: Das interessiert mich: Können sie diese prägnanten Momente nennen in der Literatur, die etwas Verbindendes, aber auch etwas Unterscheidendes haben?
Kopacki:
Es ist etwas verwunderlich, dass wir in Polen im Grunde genommen bis heute keine Werke besitzen, die nach 1989 entstanden wären und die diese wirklich große historische Erfahrung der Wende thematisieren würden – in dem Sinne, dass sie ein großes Zeugnis davon ablegten, was eigentlich passiert ist. Die anderen historischen Erfahrungen haben Zeugnisse in der Literatur. Wir finden in der Literaturgeschichte Zeugnisse davon, was der Hitlerismus oder Stalinismus war. Aber was diese neueste Freiheitserfahrung war, diese Erfahrung haben wir eigentlich nicht in der Literatur widergespiegelt bekommen. In diesem Sinne ist das schon ein Unterschied, weil die deutsche Prosa sich damit etwas auffälliger als die polnische auseinandergesetzt hat. Zum Beispiel in deutschen Romanen über den Mauerfall, abgesehen von ihrer literarischen Qualität, über die ich jetzt nicht sprechen will.

webMoritz: Aber über Ursachen?
Kopacki:
Wir ahnen die Ursachen, aber wie die Literatur darüber reflektieren könnte, das wird uns eigentlich nicht angeboten in der Prosa.

webMoritz: Ist das für Sie eine Aufgabe, darüber zu reflektieren?
Kopacki:
Für mich nicht, ich bin kein Romancier. Ich meine nur, es gibt in Deutschland seit Jahren ein Gejammer, dass die deutsche Prosa keinen zweiten Roman hervorgebracht hat „wie „Die Blechtrommel“ von Günter Grass. Das ist ein Roman, der eine wirklich große historische Erfahrung auf sehr interessante künstlerische Art und Weise verarbeitet hat. Wäre etwas Vergleichbares zum Thema Wende erschienen, hätten wir es sofort bemerkt und begrüßt.

Die Übersetzung ist eine literarische Gattung, vergleichbar mit dem Theater

webMoritz: An dem Beispiel Günter Grass, deutsche Literatur: Das Übersetzungsproblem wurde in der Diskussion angesprochen. Sie sind ja beruflich Übersetzer. Und ist Kulturaustausch aber in diesem Sinne auch ein Übersetzungsaustausch? Kann man das so sagen?
Kopacki: Auf jeden Fall. Es ist dabei festzuhalten, dass es in Bezug auf Übersetzung an Missverständnissen nicht fehlt, angefangen mit ihrem Status innerhalb des Literaturbetriebs. Man muss verstehen, dass die Übersetzung – das ist eine These, die ich aufstelle – eine literarische Gattung ist, vergleichbar mit Theater. Im Theater gibt es ein performatives Handeln, das ohne die literarische Grundlage nicht möglich ist, aber doch etwas, was sich als künstlerische Handlung verselbstständigt. Und die Handlung von Theaterautoren, von Schauspielern, von Regisseuren wird dann auch Widerhall finden in der Rezeption, weil sie beurteilt wird und rezensiert wird und so weiter. Übersetzer dagegen werden so oft einfach mit Schweigen übergangen.

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Andrzej Kopacki - Foto: Pressematerial PolenmARkT

webMoritz: Ich möchte noch ein anderes Thema ansprechen: Sie sagten, es werde auf jeden Fall zu viel geschrieben und zu wenig gelesen in Deutschland. Da frage ich mich: Wie kann man zuviel Schreiben?
Kopacki:
Das war natürlich als Witz gemeint. Es gibt immer mehr Probleme mit dem Lesen, das heißt, junge Leute gehen lieber mit visuellen beziehungsweise interaktiven Kulturträgern als mit Weltliteratur um. Auf der anderen Seite werden die Verlage mit Manuskripten überschüttet, weil Literatur immer noch eine große Attraktion ist.

webMoritz: Also ist es dann eher das Problem, dass zu viele Leute versuchen, erfolgreich mit Literatur zu sein.
Kopacki:
Dieser Ehrgeiz ist nicht verwerflich. Wenn man mit Schreiben beginnt und den Anspruch hegt, Schriftsteller zu werden, dann sollte man zumindest als Leser etwas mit der Literatur zu tun gehabt haben, das meinte ich.

Das Verschwinden der Printmedien bedeutet nicht das Verschwinden literarischer Texte

webMoritz: In den Medien wird ja immer wieder thematisiert, dass Literatur heutzutage über andere Medien als in der Vergangenheit rezipiert wird.
Kopacki:
Das ist richtig und ich bin auch nicht dagegen. Unsere Welt verändert sich. Die Menschen leben anders als vor 40 Jahren, weil wir das ganze elektronische Zeug wie Handys, Computer und so weiter zur Verfügung haben. Das langsame Verschwinden von Printmedien bedeutet übrigens noch lange nicht, dass der literarische Text verschwindet. Auch die neuen Medien kommen nicht ohne den Text aus. Wir brauchen Sprache als Vehikel für unsere Botschaft, die entweder mündlich oder schriftlich vermittelt wird. Auch wenn es dann nicht mehr als Buch mit gedruckten Seiten sondern als eine elektrische CD oder etwas dergleichen auftritt, wird es immer noch diese Botschaft geben.

webMoritz: Bei der großen Vielfalt, die es gibt, zu publizieren, im Internet oder neuen Zeitschriften, geht da nicht auch Individualität unter, wird Lyrik nicht viel zu öffentlich behandelt?
Kopacki: Glaube ich nicht, nein. Das ist eine sehr intime Sache, ein Gedicht zu schreiben. Da steht man immer hinter diesem Text als Person, abgesehen davon, dass das Gedicht sich verselbständigt und manchmal viel mehr und anderes sagt als der Autor beabsichtigt hat. Es ist immer falsch, das Gedicht von dieser vermeintlichen Absicht her zu interpretieren. Das ist ein falscher Deutungsweg.

webMoritz: Aber wird das nicht faktisch getan?
Kopacki:
Das wird vielleicht auf der Ebene einer Schullektüre getan, aber professionell wird man das nie machen. Das verändert nichts an der Tatsache, dass das Gedicht doch eine individuelle Sache ist, dass man Gedichte als eine intime Angelegenheit ansehen muss. In diesem Sinn ist es auch verständlich, dass sehr viele Leute Gedichte schreiben. Das Bedürfnis, sich in dieser besonderen Form auszusprechen, wird nicht untergehen. Eine andere Frage ist, was von dieser enormen Produktion als ästhetisch wertvolle Lyrik zurückbleibt.

webMoritz: Was haben Sie von der heutigen Diskussion mitgenommen, auch, um sich wieder neu zu orientieren?
Kopacki:
Ich suche keine neue Orientierung. Die Diskussion hat mich eigentlich in mehreren Überzeugungen nur bestätigt. Wir waren eigentlich der gleichen Meinung in Bezug auf die Übersetzung und die Beschaffenheit der Lyrik, zum Beispiel, dass die Lyrik nicht unbedingt verständlich sein beziehungsweise sich machen muss. Das liegt in der Natur des Mediums, es ist manchmal verständlich und manchmal nicht. Und es ist auch keine Frage, dass man das Gedicht nicht danach einschätzt, ob es verständlich ist oder nicht. Wir waren auch einig, dass man die Übersetzung als eine Aktivität im Literatur-Betrieb sehen sollte, die wirklich eine Besonderheit ist, wichtig nicht nur für den Autor, den Übersetzer oder das Werk selbst, sondern im größeren Ausmaß – für den Kulturtransfer zwischen Ländern, Nationen, Völker und so weiter.

webMoritz: Meistens sind es ja auch diese Bestätigungen, die verschiedene Völker zusammenbringen.
Kopacki: Wichtig ist, dass man nicht nur Unterschiede feststellt, sondern dass man auch entdeckt, was gemeinsam ist. Unter diesen Gemeinsamkeiten können wir sehr viel zusammen schaffen in der Literatur, im öffentlichen Diskurs, in der Reflexion auf unsere Vergangenheit und in der Vorwegnahme der Zukunft.

webMoritz: Herr Kopacki, ich danke Ihnen für dieses Gespräch!