Spätsommer 2009: Mitten in der nahezu unbeschwerten vorlesungsfreien Zeit wird sie ausgehängt – die Absturzliste: bedrückte Gesichter, Tränen und die neidvollen Blicke zu jenen, die es geschafft haben. Das Latinum.
Sarah P.* begleitete zwei Freundinnen, um die Ergebnisse der Latinumsprüfung einzusehen: „Christin und Julia* waren vollends überzeugt, diesmal bestanden zu haben, jedoch wurden sie enttäuscht. Die Stimmung war einfach total bedrückend, eine Studentin saß neben ihrem Kind auf der Treppe, weinte fürchterlich und erklärte, dass dies für sie der letzte Versuch war und sich das Studium damit jetzt erledigt hätte.“
An der Philosophischen Fakultät sind in einigen Fächern, unter anderem Geschichte auf Lehramt, Theologie und Philosophie Master, nicht nur Lateinkenntnisse, sondern das Latinum obligatorisch. Entweder kann das Latinum zu Beginn des Studiums aus Schulzeiten eingereicht oder während des Studiums an der Universität erworben werden.
Es ist erstaunlich, dass trotz drei Prüfungsversuchen die Quote der Zulassung zum mündlichen Examen, die nur dann erfolgt, wenn man die schriftliche Prüfung bestanden hat, nur knapp über 50 Prozent liegt, wie Herr Metz berichtet, der das Lektorat Latein innehat. Im vergangenen Prüfungssemester konnten ein Dutzend Lehramtsstudierende auf Grund eines nicht bestandenen Latinums die Abschlussprüfungen nicht antreten. Durchstöbert man die Listen der Eingeschriebenen für die Lateinkurse im jetzigen Wintersemester, fällt auf, dass erstaunlich viele der Studierenden ihre Regelstudienzeit bereits überschritten haben.
Das aufgeschobene Latinum ist keine neue Problematik. Eigentlich sieht die Studienordnung gerade bei Geschichtslehramtsstudierenden vor, die Lateinsprachkenntnisse im Grundstudium zu erwerben. Moritz B. ist Lehramtsstudent im 13. Semester, kämpft sich derzeit wiederholt durch Grammatiktabellen sowie Vokabeln des ‚De bello Gallico‘ und erklärt seine Misere: „Ich habe in den ersten Semestern Lateinkurse belegt, musste aber feststellen, dass sich der zeitliche Aufwand mit den anderen Leistungsanforderungen nicht vereinbaren ließ. Zudem musste ich als BAföG-Empfänger nach dem vierten Semester alle grundstudiumrelevanten Scheine einreichen.
Ich entschloss mich, dass Latinum nach hinten zu verschieben. Hinzu kommt, dass ich mein Studium teilweise durch drei Nebenjobs finanzieren musste. Derzeit habe ich zwei Kredite aufgenommen und widme mich ausschließlich dem Lateinlernen. Meine Freundin und meine Hobbys wie Basketballspielen kommen derzeit an letzter Stelle. Dennoch sehe ich im Austausch mit anderen Kommilitoninnen im Hinblick auf das Bestehen der Prüfung eher schwarz. Ich will unbedingt Geschichtslehrer werden und verstehe nicht, warum wir mit der scheinbar anspruchsvollsten Sprache der Menschheit belastet werden.“
Glückspiel auf Latein
Viele Studierende spielen russisches Roulette, indem sie ihre Prüfungen in der Gelehrtensprache ans Ende ihres Studiums schieben. Viele scheinen sich nicht im Klaren zu sein, welchen Umfang der Latinumserwerb mit sich zieht. Zudem kommt, dass, anders als im Schulunterricht, Latein an der Uni aus Zeitmangel nach der öden Grammatik- und Übersetzungsmethode gelehrt wird.
„Ich kritisiere seit Jahren, dass zu Schulzeiten zu wenig sprachpraktischer Unterricht gemacht wird, stattdessen werden stark literaturlastige Lehrpläne eingesetzt. Das bedeutet, dass die letzte halbwegs systematische Beschäftigung mit der muttersprachlichen Grammatik in der achten oder neunten Klasse des gymnasialen Deutschunterrichts stattfindet, und das war es dann aber auch“. Das größte Problem, das die Studierenden haben, ist daher mangelndes muttersprachliches Wissen. „Ohne Kenntnis der Systematik der eigenen Muttersprache fällt es umso schwerer, gerade eine Fremdsprache wie Latein zu lernen“, so der Lateinlektor Jens Metz.
Im Internet suchen Studierende nach illegal zu erwerbenden Latinumsscheinen, was nur unterstreicht, wie verzweifelt manch einer zu sein scheint. Christin W.* wählte hingegen den brachialen einmonatigen Crashkurs in Hamburg. Für 500 Euro trifft man sich in einem Studienkolleg, um acht Stunden täglich Latein zu pauken. Die Erfolgschancen sind hoch, allerdings steht die Prüfung noch aus.
Bis zum Jahre 2000 war in der Germanistik das Vorweisen eines Latinums Pflicht. Die Studiendekanin der Philosophischen Fakultät, Prof. Dr. Amei Koll-Stobbe, erklärt, dass zwar auch akademische Traditionen weitergeführt werden mit dem Latinum, dass aber je nach Studienfach Lateinkenntnisse nach wie vor durchaus sinnvoll sind. Dennoch stehe der Nachweis des Latinums auf dem Prüfstein zugunsten anderer Fremdsprachenkenntnisse. So können sich BachelorstudentInnen der Geschichte und Philosophie ohne Lateinkenntnisse durchs Studium manövrieren.
Na dann: Discite moniti!
* Namen teilweise von der Redaktion geändert.
Ein Artikel von Maria-Silva Villbrandt
Ich bin Dozentin für Latein Crashkurse in Berlin. Ich kann aus meiner Erfahrung alle im Artikel angesprochenen Probleme voll bestätigen. Deshalb ganz herzlichen Dank für diesen Artikel, der hoffentlich nicht nur Angst macht, sondern den einen oder anderen auch anspornt, sich rechtzeitig mit dem Thema auseinander zu setzen.
Er zeigt auch gut, daß man nicht allein ist, wenn man mit dem Erwerb von Lateinkenntnissen neben dem Studium Probleme hat. Ähnlich wie Herr Metz sage ich meinen Kursteilnehmern oft, daß eine Latinumsklausur ungefähr so schwierig ist wie eine Abiturklausur. Nun würde auch niemand erwarten, daß man mal so eben nebenbei eine Abiturklausur in Mathe oder Englisch bestehen würde, wenn man nicht viele Jahre Zeit hatte, die entsprechenden Fähigkeiten zu erwerben und vor allem auch zu üben.
Als ganz neuartiges Problem in Sachen Latein müssen übrigens Masterstudiengänge bewertet werden, bei denen das Latinum oder Lateinkenntnisse Voraussetzung zur Aufnahme des Studiums sind. So gesehen ist der Bacholor oft nur scheinbar ein Weg, um um das Latinum herum zu kommen. Indem bei einigen Studiengängen die Anforderung "Lateinkenntnisse" aus dem Studium ausgegliedert wurde, für den aufbauenden Masterstudiengang dann aber vorausgesetzt werden, werden Lateinanforderungen für die Studenten noch stärker verschleiert und unter Umständen kann es dann eine böse Überraschung geben, wenn man dann doch mehr braucht oder möchte als den Bachelor. Es kann also wichtig sein, schon während des Bachelorstudienganges ein Auge auf den eventuell darauf folgenden Master zu werfen.
Ein Tipp noch zum Schluß: Für manche bleibt als letzte Möglichkeit noch die Option, den Studiengang oder die Uni zu wechseln. Das bedeutet immer einen Verlust an Zeit und Studienleistungen, die einem nicht anerkannt werden, und nicht jeder hat diese Möglichkeit, zum Beispiel wenn wegen Familienanschluß ein Ortswechsel nicht möglich ist. Für manche wird aber so der Traumberuf doch noch möglich, sich nach solchen Alternativen umzusehen ist auf jeden Fall eine gute Idee.