Erst Österreich, dann Westdeutschland und jetzt Greifswald: Die sogenannten Bildungsstreiks haben nun auch unser beschauliches Hansestädtchen erfasst. Am Abend des ehrwürdigen 9. Novembers wurde dem eh schon vielbelegten Datum ein weiteres Ereignis angereiht. Das Audimax der Universität Greifswald wurde erst etwas verhalten zur Zone „der offenen Diskussion und des Dialogs“ und, je später die magische hausmeisterliche Schließzeit um 22 Uhr rückte, schließlich doch für „besetzt“ erklärt.

Der neue Kanzler der Universität, Wolfgang Flieger, ließ die Protestler zunächst gewähren, wohl auch in dem Wissen, dass die spärlich gesähte Schar der Aktionisten damit besser in den Griff zu bekommen wäre als mit drakonischen Maßnahmen, die in der medialen Berichterstattung am Ende eher für die „Besetzer“ sprechen würden.

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Das Foyer des Audimax ist mittlerweile gesäumt mit Plakaten, Flyern und Stellwänden

Doch was hat es nun mit den Ereignissen eigentlich auf sich? Ist das nun der Beginn einer Debatte um eine Hochschule der Zukunft – basisdemokratisch und nach allen Regeln des freien Diskurses gestaltet? Wohl kaum. Die Zahl derjeniger, die den Audimax spontan zur Zitadelle einer gerechteren Bildungspolitik verwandeln wollen, ist klein. Und sie besteht aus den üblichen Verdächtigen.

Vorneweg agierten zunächst altbekannte Hochschulpolemiker wie Sebastian Jabbusch, der dafür bekannt ist ein Thema nach dem anderen aufzugreifen und entsprechend in Szene zu setzen – sei es die Debatte um den Namenspatronen der Universität, die Umtriebe von Burschenschaften oder jüngst die Gründung der Hochschulpiraten. Natürlich ist nicht abzustreiten, dass es sich bei all diesen Dingen um gut gemeinte und wichtige Beiträge zu einer viel zu unterbelichteten Debatte handelt. Jedoch stößt die aktionistische Agitation der Protagonisten auf wenig Wiederhall unter den ca. 12.000 Greifswalder Studierenden, denn im Audimax harrt nur ein kleines Grüppchen von Alternativlinken aus, um es den Landes- und Hochschulpolitikern mit ihren mühsam erarbeiteten und später nochmals überarbeiteten Forderungen zu zeigen. Darin heißt es unter anderem

„Wir sprechen uns gegen den bundesweiten Trend aus, in dem mehr und mehr Bundesländern Studien- und Verwaltungsgebühren, sowie Studienkonten einführen. Wir sprechen uns für die Abschaffungen von bestehenden Studiengebühren aus.”

Das dieses Problem an der Uni Greifswald gar nicht virulent ist, wird nicht thematisiert. Die Forderung ist wohl eher preemptiver Natur, sie kann auf keinen Fall schaden. Andere Forderungen sind konkreter auf den Standort Greifswald bezogen, so zum Beispiel:

“Der Zustand zahlreicher Universitätsgebäude ist untragbar. Einsturzgefährdete Treppen in der Anglistik, bröckelnder Putz an dem Institut für Rechtswissenschaften und undichte Fenster im Institut für Musikwissenschaften sind nur einige Beispiele für den unzumutbaren Zustand zahlreicher Gebäude der Universität Greifwald. In der Folge behindert dies auch ein optimales Lernklima.”

Diese Analyse ist wohl die einzig wirklich relevante im gesamten Katalog der Forderungen. Zwar wurde von der Universitätsleitung in den letzten Semestern ein Mängelkatalog erhoben, jedoch warten einige Institute, wie die angesprochenen, noch immer auf die ersehnte Finanzspritze, die eine Renovierung ermöglichen soll.

In besagten Katalog heißt es währenddessen außerdem:

Die vergangenen Institutsschließungen lassen ein weiteres Ausbluten der Universität Greifswald befürchten. Wir fordern den Erhalt des Status der Volluniversität und den Erhalt der Lehramtstudiengänge.

In Forderungen wie dieser kommt der eigentlich konservative Charakter der Protestler zum Ausdruck. Das humboldtsche Bildungsideal der Volluniversität geistert durch die immerhin frisch renovierten Säle des Audimax und man weint Studiengängen wie der Sportwissenschaft oder der Romanistik dicke Tränen nach. Dabei erscheint dieses Weinen paradox.

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Humboldt in Stein gehauen.

Die Volluniversität und das humboldtsche Bildungsideal entstammen einer Zeit, in der Bildung in erster Linie Eliten vorbehalten war. Dies hielt sich bis in die Tage der Studentenproteste von 1968, die dem Muff von tausend Jahren den Gar aus machten und fortan Bildung für alle durchsetzen wollten. Auch Bauarbeiterkinder sollten studieren dürfen – so weit so ausgesprochen gut. Aber in welches Dilemma hat uns das heute geführt? Aus der ehemals elitären Hochschulatmosphäre, in der die Studenten frei ihren Geist entfalten konnten und später angesehene “Leistungsträger” der Gesellschaft wurden, ist eine Massenuniversität geworden. Für eine normale Berufsausbildung benötigt man heute schon oft das Abitur und für alles andere eben ein Hochschulstudium. Wie sollen die heutigen Forderungen nach einem Studium mit so wenig Kostendruck wie nötig und so viel freier Entfaltung wie möglich vereinbar sein?

Das Dilemma, so ist es zu benennen, ist systemimmanent. Der Kapitalismus ist an allem schuld. Aber eben auch diejenigen, die die Volluniversität wollen und nicht bereit sind, dafür Abstriche zu machen. Diese Abstriche sind vor allem die vielgehassten Studiengebühren. Natürlich will sich kein junger Mensch gleich zu Beginn seiner Ausbildung so immens verschulden, wie es Studenten in England, Australien oder Amerika tun.  Aber diese Länder haben Deutschland in Sachen Bildung einiges voraus: Hochschulen aus England, Australien oder Amerika gehören zu den Spitzenuniversitäten der Welt, eben weil die Ausbildung dort etwas kostet und die erhobenen Gebühren direkt in die Lehre und Betreuung der Studierenden fließen.

Ist das ein Plädoyer für Studiengebühren? Nicht zwangsläufig. Es ist ein Plädoyer gegen kopflosen Protest, der sich an einer Universität abspielt, die eine der besseren Ausstattungen im bundesweiten Vergleich besitzt, die nach wie vor ein besseres Betreuungsverhältnis als andere deutsche Universitäten aufweist und die es Studierenden ermöglicht in allen Gremien der Hochschulpolitik mitzuarbeiten und dort zu beweisen, dass Politik machen nicht heißt Aktionismus zu üben, sondern Sitzfleisch und Argumentationsbegabung zu demonstrieren.

Die Rahmenbedingungen für einen demokratischen Diskurs sind gegeben. Hörsaalbesetzungen sind eher linksromantische Träumerei und locken heute, wie bestens auch in den zahlreichen Internetlivestreams aus besetzten Hörsälen Österreichs und Westdeutschlands zu sehen ist, niemanden wirklich hinter dem Ofen vor.

12.000 Studenten der Uni Greifswald geben sich gelassen und sind scheinbar noch ganz zufrieden mit ihrem Studium. Im Audimax hingegen wird von 20 Besetzern erörtert, wie man diese Massen dazu bewegen soll sich den Protesten anzuschließen. Welche Filme zeigen wir? Was über “französische Randale” oder doch lieber “Blutige Erdbeeren”? Sollen wir morgen wieder eine Grundsatzdiskussion führen und wer kann diese moderieren? Gibt es noch Musik und Bier heute Abend? Im Foyer hängt jetzt eine Solidaritätspinnwand. Jemand hat darauf geschrieben “Ich will lernen statt pauken!”. Da ist er wieder, der gute alte Herr Humboldt. Nur dass dieser vielleicht noch viel mehr gepaukt hat, als mancher der erlebnisorientierten Audimaxbesetzer, die zur Stunde noch immer damit beschäftigt sind zu twittern, zu debattieren und, nicht zuletzt, sich selbst zu feiern.

Der Autor des Artikels bat darum, anonym bleiben zu können. Der Name ist der Redaktion bekannt.

*Update* – 11. November – 18:03 Uhr

Nach Veröffentlichung dieses Artikels, meldete sich Sebastian Jabbusch bei der Redaktion. Er bat darum, folgende Erklärung an den Artikel anzuhängen:

Sebastian Jabbusch weist darauf hin, dass er lediglich die Moderation der ersten Besprechung am Montagabend übernommen hatte und anfangs bei der Formulierung der Forderungen behilflich war. An der Planung und Koordinierung der Aktion im Vorfeld war er jedoch nicht beteiligt.

Bilder:

Humboldt-Denkmal – Archiv

Foto Audimax – Carsten Schönebeck