Die seit Juni tobende Arndt-Debatte beschäftigt auch die Greifswalder Blogosphäre. Ein Beitrag mit historischem Schwerpunkt ist derzeit auf dem Blog des Greifswalders Heiko Lange zu finden. Er hat einen Artikel aus dem Greifswalder Magazin „Stadtstreicher“, das inzwischen leider nicht mehr erscheint, ausgegraben. In dem Beitrag aus dem Jahr 1995 geht es um Proteste an der Uni Greifswald in den 50er und 60er Jahren. Heiko Lange, der uns freundlicherweise genehmigt hat, den Beitrag zu übernehmen, schreibt dazu:

Erschreckend für mich ist, dass die „Argumente“ der Greifswalder_innen immer noch die gleichen sind. Denn bei der aktuellen Debatte um Ernst Moritz Arndt wird auch heute noch von einigen gefordert, wem es hier nicht passt, so wie es ist, soll doch Greifswald verlassen.

Nun der Beitrag in voller Länge:

Nicht lange Fackeln – Zuschlagen

Die Greifswalder Universität in den 50/60er Jahren

Wer in den 80er Jahren in Greifswald studiert hat, lernte an einer „sozialisti­schen Universität”. Bei aller dialektischen Verdrehung der Wortinhalte blieb den meisten Studierenden doch ein Instinkt dafür, was dies zu bedeuten habe -„so­zialistisch”: öde und verschulte Studienformen, schwafelhaftes Ausbreiten von Banalitäten, Halbwahrheiten und Lügen, Nivellierung des geistigen Lebens, Lehrer, die in der Mehrzahl als fachliche und als menschliche Vorbilder gleichermaßen ungeeignet waren.

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Gedenktafel im Audimax

„Bürgerlich” hingegen, obwohl denunziatorisch „bis zum Schluß” gebraucht, war (ähnlich wie „subjektivistisch” und „individualistisch”) das Signalwort für selbständiges Denken und eigenständiges Studieren. „Bürgerlich” waren Ernst Bloch, Richard Haman und Hans Mayer, „bürgerlich” war das Klopfen auf die Vorlesungsbank, „bürgerlich” und mit stiller Anerkennung bedacht war das Verhalten einiger Lehrerinnen und Lehrer, die die Interessen ihres Fachs gegen ideologische Anmaßung verteidigten. Für jene, die keine Hoffnung auf Veränderung mehr hegten, war das Höchstmaß an „Bürgerlichkeit” gleichbedeutend mit politischer Enthaltsamkeit.

Es blieb der neidvolle Blick zurück auf Zeiten, als dieses und jenes „noch möglich war”: Jene Erfahrung von Mangel, erst recht die von entzogener Freiheit, verführt zur Nostalgie. Doch wer weiß eigentlich schon genau, wie lange was „noch möglich war”?

Im Gebäude des ehemaligen SED-Parteiarchivs in Berlin, vormals Kaufhaus Jonas, nachmals Sitz des SED-Zentralkomitees, heute PDS-Archiv, befinden sich u.a. Akten, die über das Leben an der Universität Greifswald während der 50er und 60er Jahre Auskunft geben. Ein Kaufhaus voller Akten: das KaDeWe der DDR, und in der Feinkostabteilung im obersten Stockwerk – die Akten des Politbüros.

Damit ist allerdings wenig anzufangen, es sind die für die Nachwelt schon ge­reinigten Protokolle von Politbürositzungen, freigegeben als Material für hitorische Mystifikation. Wer das Defti­ge mag, eine Aktenmahlzeit „Hausmacherart”, der muß sich hinabbegeben zur Ebene der Informationsberichte und Protokollmitschriften der Universitäts Parteileitungssitzungen, die regelmäßig von Greifswald nach Berlin gesandt wurden.

Die Situation an der Universität Greifswald bis Mitte der 50er Jahre kennzeichnet ein Satz, der vom Genossen Götzscharf überliefert ist: „Es fehlt, überall zu zeigen, daß die Partei nicht fackelt, wenn es gilt, zuzuschlagen”. „Zugeschlagen” hat die Partei immer, wenn es brenzlig wurde. Zu den neuralgischen Daten der DDR-Geschichte, 1953-der Aufstand, 1956-der XX. KPdSU-Parteitag und der Aufstand in Ungarn, 1961 -der Mauerbau, gesellt sich in Greifswald noch ein weiteres Datum: die Einführung der KVP Medizin** (spätere Militärmedizinische Sektion) im Frühjahr 1955. Damals wird nach Berlin gemeldet: „Es gibt Anzeichen dafür, daß die Studenten organisiert gegen die vorgesehenen Maßnahmen auftreten werden (…) Es ist dringend notwendig, daß der Verbindungsoffizier der KVP seine Tätigkeit aufnimmt”. Als die Studenten schließlich gegen die Einrichtung der KVP-Medizin in Greifswald demonstrieren, fackelt die Partei nicht lange, sondern lockt die Demonstranten zu einer „Aussprache” in die Aula, inszeniert eine Art Reichstagsbrand (der Turm der Jakobikirche geht in Flammen auf), läßt die Aula umstellen und die Wortführer der Demonstranten verhaften.

Anders zwei Jahre zuvor, 1953. Der 17. Juni verfließt in Greifswald gedankenreich und tatenarm, es kommt zu keinen Demonstrationen, und danach wird wochenlang ausgewertet: „Durch die verschärften Maßnahmen unserer staatlichen Organe (Justiz) wurde die freie Meinungsäußerung unterbunden, was auch in unseren Aussprachen zum Ausdruck kam, denn die Diskussionen liefen sehr schwer und vorsichtig an, ein Teil blieb auch mit seiner Meinung im Hintergrund, jeder befürchtete, sein Name wird notiert”. Es wird resümiert: „Ein großer Teil der Bevölkerung ist gegen die Regierung feindlich eingestellt aufgrund der Bestimmungen über die Oder-Neiße-Grenze”. Immerhin war der Aufstand vom 17. Juni 1953 der letzte organisierte Widerstand, der das System abschaffen, und nicht verbessern wollte.

1956 wächst der Widerstand gegen die starre Politik der SED bereits aus den eigenen Reihen: „Einige junge Genossen haben einen Schock durch die Stalindiskussion bekommen. Man muß ihnen alles kameradschaftlich erklären, aber konsequent”.

Während die jungen Genossen noch an ihrem Schock laborieren (übrigens auch der spätere Greifswalder Rektor Birnbaum, der eine flammende Perestroika Rede hält, deren Parteischädlichkeit er wenig später selbst einsieht), sind andere Studenten längst dabei, die allgemeine Verunsicherung auszunutzen, um Die Gründung eines „freien Studentenverbandes” und die Abschaffung des obligatorischen Russisch-Unterrichts zu fordern. Die Reaktion der Partei: `Gen. Lüdecke: „Sie sollen gründen, was und wo sie wollen, aber nicht bei uns in der DDR. Man sollte solchen Leuten das Stipendium entziehen”.Das ist vergleichsweise moderat gegen­über der Art und Weise, wie die Partei nach dem Mauerbau auf ähnliche „Provokationen” reagierte. In einem Informationsbericht vom 18. August 1961 ist als prophetische Befürchtung eines Studenten dokumentiert: „Jetzt können sie alles mit uns machen”.Aus dem Protokoll einer „FDJ-Aktivtagung” an der Universität Greifswald vom 07.09.61: „Der Student Ludwig Brehmer trat während der Aktivtagung in der Diskussion provokatorisch auf und äußerte sich wie folgt: `Die gegenwärtigen Methoden des Klassenkampfes in der DDR sind mit den Methoden des Faschismus zu vergleichen’! Er verliest eine Resolution seiner Seminargruppe, in der die gegenwärtigen Methoden des Klassenkampfes als Rufmord bezeichnet werden. In der unmittelbar danach erfolgten Kampfabstimmung wurde Brehmer aus der FDJ ausgeschlossen, exmatrikuliert und durch die Sicherheitsorgane in Haft genommen”.

Professoren, die ähnlich dachten, waren weniger bedroht. Laut Bericht vom 15.8.61 äußerte Prof. Kraußhold (Frauenklinik): „Man sollte doch freie Wahlen machen, dann wird sich zeigen, wie die Menschen sich frei entscheiden. Ungefähr 2 Millionen werden für Ulbricht usw. sein und die übrigen für die Leute in Westdeutschland”, und Dr. Albrecht (Neurologe): „Nun macht mal freie Wah­len. Ich werde keinen von hier wählen, sondern die von drüben”. In einem anderen „Stimmungsbild” läßt der Berichterstatter revolutionäre Wach­samkeit walten: „Ich hatte während des Gesprächs den Eindruck, als ob Herr Dr. Bäckel kürzlich drüben war. Von uns hatte er aber keine Bescheinigung”. Unterzeichnet: „i.A. Rudolf Bahro”. Die Gretchenfrage kommunistischer Parteilichkeit war von je her die Stellung zur Sowjetunion. Beim Gen. Prof. Janert stand es damit schlecht, wie aus einem Protokoll hervorgeht: „Er war auch noch der Meinung, daß seine Wissenschaft in der Sowjetunion hinter dem Mond steht, er sei viel weiter”.

Über das Verhältnis von Parteigenossen und parteilosen Wissenschaftlern ist zu erfahren: „Gen. Scharf und der Prof Dr. Wegner treffen sich jeden Morgen, wenn sie zur Arbeit gehen. Prof. Wegner fährt an Gen. Scharf vorbei, und dann spuckt Prof. Wegner immer aus”. Nachdem die DDR abgedichtet war, trat auch an den Universitäten Ruhe ein. In Greifswald moniert man 1966 lediglich, daß die Studierenden „westliche Wer­bung in den Wohnheimzimmern zur Austellung bringen”. Einzelne Fälle von „Sektierertum”, „Rowdytum” und „intellektuellem Einzelgängertum” werden innerhalb der FDJ-Gruppe bereinigt. Die zahlreichen Versammlungen, Ernteeinsätze, Wehrmärsche und Reservisten Veranstaltungen nehmen mit der Zeit einen Schein von Normalität an, ebenso wie der Unmut, den sie auslösen, und die gelegentliche Verweigerung unter fadenscheinigen Vorwänden. Der letzte Rest von „Bürgerlichkeit” schwindet mit der Entmündung der Fakultäten und der Umgestaltung der Universität nach sowjetischen Muster Ende der 60er Jahre. Wie lange was „noch möglich war”, hing sicherlich immer von den jeweiligen Um­ständen ab. So blieb Bloch nur deshalb bis 1956 Institutschef in Leipzig, weil er, wie sein Universitätskollege Hans Mayer schreibt, in seiner politischen Publizistik nicht ernst zu nehmen war (was wohl als Euphemismus für eine Reihe tagespolitischer Kompromisse Blochs in der DDR zu verstehen ist). Und Hans Mayer selbst reagierte mit einer Art Ergebenheitsadresse an das SED-Zentralkomitee auf den 17. Juni. Aber nicht nur dies schützt vor Verklärung sondern auch die völlig veränderte Situation seit 1989. Heute sind Ordinariatsuniversitäten und schlagende Verbindungen nicht mehr vorgestellte Freiräume für selbstbestimmtes Leben, sondern das, was sie eigentlich sind: „der Mief von tausend Jahren”.

Die Zitate stammen sämtlich aus Akten des Archivs beim Parteivorstand der PDS.

Peter Walther

**Kasernierte Volkspolizei -militärische Vorgängerformation der NVA (bis 1956)