Er hat den Lehrstuhl für Philosophie mit dem Schwerpunkt Praktische Philosophie am gleichnamigen Institut inne. Seit mehr als 40 Jahren beschäftigt er sich beruflich mit mit seinem Fach. Seit fast 18 Jahren ist er an der Uni Greifswald tätig. Wir wollen hören, wie er zu dem gekommen ist, was eigentlich „Philosophie“ bedeutet, nämlich Liebe zur Weisheit.
moritz Welche Erinnerungen verbinden Sie mit ihrer Studienzeit?
Werner Stegmaier In Tübingen begann mein Studium, wo damals echte akademische Größen gelehrt haben. Das war 1966. Ich beschäftigte mich zunächst vor allem mit Hegel, Heidegger und Aristoteles. Dann ging ich nach Wien. Dort waren allerdings nicht alle Stellen in Philosophie besetzt, und so war die fachliche Ausbeute nicht so groß. Stattdessen lernte ich intensiv die Kunstgeschichte, das Theater, die Musik und die Oper kennen. Ich ging nach Tübingen zurück. Ich hatte eine Weile die neue Reformuniversität Konstanz erwogen, entschied mich dann aber, bei Karl Ulmer, meinem ersten Lehrer, weiterzustudieren, der dann seinerseits bald nach Wien ging. Es kam die sprachanalytische Philosophie auf, und der neue Stern wurde Wittgenstein. Ich sah, dass es mit der Philosophie wirklich weiterging, dass sie keine verstaubte Wissenschaft war.
moritz Wie war Ihre Studentenzeit? Nur gelernt oder auch mal wild gefeiert?
Stegmaier Nun ja, als Student nutzt man die unerhörte Freiheit, von der man gut weiß, dass sie ihre Zeit hat, und ich habe sie, denke ich, weidlich genutzt. Wie, darüber sollte ich besser schweigen.
„Ich sah, dass es mit der Philosophie wirklich weiterging, dass sie keine verstaubte Wissenschaft war.“
moritz War Philosophie damals Ihre erste Wahl?
Stegmaier Ja, nur im zweiten Fach schwankte ich. Zunächst entschied ich mich für die Psychologie, deren Methoden mich aber damals enttäuschten. Das war sicher ein voreiliger Eindruck, als junger Student will man ja gleich an Probleme heran, wie sie Freuds Psychoanalyse aufgeworfen hatte. Als ich das in der Sprechstunde eines der dortigen Professoren andeutete, schauderte ihm, und er beschied mich, ich solle doch lieber bei der Philosophie bleiben. Heute, wie gesagt, würde ich nach vielen Jahren der Kooperation mit unseren Psychologen hier vieles ziemlich anders sehen. Da war außerdem noch der Tiefbau (Straßen- und Brückenbau), der mich heute noch fasziniert, das ließ sich aber im Studium kaum mit Philosophie vereinbaren. Ich habe dann als weitere Fächer Germanistik und Latinistik gewählt. Literatur hatte mich immer stark interessiert, Latinistik fiel mir leicht, ich hatte neun Jahre lang Latein auf der Schule, und mit beiden Fächern konnte man zusammen mit Philosophie das Staatsexamen ablegen.
moritz Wussten Sie, was mit dem Studium der Philosophie auf Sie zukommt?
Stegmaier Ungefähr schon, und ich war dann, wenn überhaupt, meist angenehm überrascht. Damals war man noch sehr frei in der Wahl der Lehrveranstaltungen und Lehrpersonen. Noch nicht einmal der Logik-Kurs war obligatorisch, auch wenn er durchaus interessant war. Damals sorgte man sich auch kaum um Berufsaussichten. Zum einen hatten wir Vollbeschäftigung, also jeder fand am Ende irgendetwas Passendes, zum andern kam dann die 68er Zeit, da war man ohnehin auf radikale Neuerungen gestimmt, versuchte es gerne mit dem Ungewöhnlichen, Nicht-Stromlinienförmigen.
moritz Was kam nach dem Studium?
Stegmaier Zuerst legte ich mein Staatsexamen ab. Dann habe ich ein paar Jahre an Gymnasien unterrichtet, bevor ich mich für zwei Jahre freistellen ließ, um mich an der Universität Stuttgart zu habilitieren. Durch Zufälle kam ich als Assistent nach Bonn. Als die Sowjetunion zusammenbrach, war ich gerade habilitiert, kam hierher und wurde mit offenen Armen empfangen. Das war eine sehr schöne, prägende Erfahrung. Bis zuletzt, bis zu meiner endgültigen Berufung nach Greifswald, hätte ich noch die Möglichkeit gehabt, in den Schuldienst zurückzukehren.
moritz Ihr Schwerpunkt ist praktische Philosophie. Wissen Sie jetzt, wie Sie handeln müssen?
Stegmaier Die Frage habe ich mir natürlich auch immer gestellt. Ich habe bald gesehen, dass vernünftige Menschen tatsächlich kaum nach vorgefassten und gründlich theoretisch überprüften Prinzipien handeln, zum Beispiel nach dem kategorischen Imperativ oder nach dem Prinzip des größten Glücks der größten Zahl. Wie würde man sich danach in konkreten Lebenslagen entscheiden können? Solche Prinzipien sind philosophisch durchaus plausibel, aber es gibt viele davon, und viele von ihnen widersprechen einander.
So habe ich gesehen, dass Handlungs- und Lebensentscheidungen in einem anderen Horizont getroffen werden. Das passiert im Horizont dessen, wofür ich dann möglichst umfassend den Begriff der Orientierung gebraucht habe. Schließlich habe ich einige Jahre damit verbracht zu analysieren, wie, unter welchen Bedingungen und nach welchen Kriterien in unserer alltäglichen Orientierung Handlungs- und Lebensentscheidungen fallen. Die moralische und ethische Orientierung ist ein Teil unserer Orientierung, sie fügt sich in sie ein. Das Eigenartige an der moralischen Orientierung ist, dass eine unbedingte Nötigung, auf alle Vorteile zu verzichten und selbst gegen seine übrigen Neigungen zu handeln, viele andere Parameter der Orientierung außer Kraft setzen kann, aber nur auf Zeit.
moritz Sie sind inzwischen seit über 40 Jahren im Philosophie-Geschäft. Erleben Sie noch theoretische Überraschungen?
Stegmaier Zur Zeit entwickelt sich, soweit ich sehe, weitgehend das Erwartbare. Zumindest gilt dies für den deutsch- und englischsprachigen Raum. Denker wie Emmanuel Levinas und Jacques Derrida sind tot und bis jetzt sind keine Gleichrangigen in Sicht. Peter Sloterdijk scheint mir gegenwärtig noch am kreativsten.
Beeindruckt hat mich Niklas Luhmann, besonders mit seiner methodischen Unterscheidung von Unterscheidungen und seinem bahnbrechenden Umgang mit Paradoxien. Eine unerschöpfliche Quelle für Überraschungen bleiben für mich Friedrich Nietzsche und sein „Vorgänger“ Spinoza. So wie Nietzsche bis zuletzt von Spinoza irritiert blieb, haben wir Nietzsche heute noch längst nicht zu Ende gedacht. Echte Überraschungen gibt es so immer wieder auch bei Beiträgen für die Nietzsche-Studien, deren Schriftleiter ich bin. Es gibt, und darüber freue ich mich natürlich am meisten, immer wieder auch echte „Würfe“ unserer Studierenden. Ich lese manchmal Hausarbeiten, die mich wirklich in Erstaunen versetzen.
„Philosophie sollte man nur studieren, wenn man es gegen jeden besseren Rat doch nicht lassen kann.“
moritz Macht Philosophie glücklich?
Stegmaier „Glücklich” ist ein großes und dehnbares Wort. Wenn es bedeutet, dass man etwas dauerhaft gerne tut und für es lebt, hat die Philosophie mich wohl glücklich gemacht. Aber ich hatte auch das Glück, gute äußere Bedingungen dafür zu finden, an allen Orten und in allen Funktionen, an und in denen ich philosophisch gearbeitet habe.
moritz Hatten Sie je eine ernste philosophische Krise?
Stegmaier Wenn das bedeutet, zu erwägen, ob ich das Studium der Philosophie oder die Beschäftigung mit Philosophie abbrechen sollte, nein. Das war ein Teil des Glücks, das ich mit der Philosophie hatte.
moritz Wie lange bleiben Sie uns an der Uni voraussichtlich noch erhalten?
Stegmaier Nach meiner Emeritierung – das wird erst Ende September 2011 sein – habe ich nach unserer Grundordnung die Freiheit, weiter Vorlesungen zu halten und Prüfungen abzunehmen, muss es aber nicht mehr. Das ist eigentlich der schönste akademische Zustand. So werde ich, geistige Klarheit vorausgesetzt, der Universität Greifswald, mit der ich nach all den Jahren eng verbunden bin, wohl noch eine Weile erhalten bleiben, jedenfalls für die, die es wollen.
moritz Was würden Sie gerne noch erreichen?
Stegmaier Ich habe zur Zeit ein Buch in Arbeit, das mich wie bisher kein anderes herausfordert: Eine kontextuelle Interpretation des V. Buchs von Nietzsches „Fröhlicher Wissenschaft“. Dies ist, soweit ich sehe, sein reifstes, gelassenstes, aber auch komplexestes Buch. Ich möchte es Aphorismus für Aphorismus aus seinen eigenen Zusammenhängen
zu verstehen versuchen. Etwas Ähnliches hat bisher, so merkwürdig das erscheint, noch kaum jemand versucht, beim V. Buch der ‘Fröhlichen Wissenschaft’ gar niemand. Das möchte ich gerne zu Ende bringen, die Hälfte ungefähr ist – nach zwei, drei Jahren – geschafft.
moritz Sollten mehr Menschen Philosophie studieren?
Stegmaier Wir haben in Greifswald seit Jahren eine so genannte Überlastquote von ungefähr 250 Prozent. Ich glaube, es gibt genug Philosophie-Studenten und -Studentinnen, hier und anderswo. Philosophie ist, als wissenschaftliches Studium und als Lebensaufgabe, wohl doch nur etwas für wenige. Philosophie sollte man nur studieren, wenn man es gegen jeden besseren Rat doch nicht lassen kann.
Das Gespräch führte Marius Külzer, das Foto stellte uns Jan Messerschmidt von der Pressestelle der Universität Greifswald zur Verfügung.