Dieser Reisebericht handelt von einem Abenteuerausflug zweier Greifswalder Studenten – oder zumindest dem Versuch dazu.
Tag 1
Nach Polen? Ihr wollt im Februar nach Polen fahren und dort zelten? Vor unserer Abreise gingen mir diese und ähnliche Anmerkungen ziemlich auf den Zeiger. Seit Dezember hatte ich mit meinem Kumpel René einen etwas anderen Urlaub in den Semesterferien geplant und alle taten so, als würden wir direkt in den Tod marschieren. Natürlich war es im Februar etwas kälter, aber wir hatten uns gute Ausrüstung besorgt.
Am Donnerstagnachmittag standen wir mit gepackten Rucksäcken am Greifswalder Bahnhof.
Die Dame am Schalter hatte einige Schwierigkeiten, die Tickets für den polnischen Nachtzug zu buchen. Bei dem Preis war uns beiden etwas schwindelig geworden, so dass wir beschlossen, die Rückfahrt individuell zu gestalten. René hatte beruhigend eingewandt, dass wir ja keine Tour durch die Städte machen wollten, sondern durch den Urwald an der polnisch-weißrussischen Grenze. Und da müsse man schließlich erst einmal hinkommen.
Der erste größere Umstieg war in Warschau. René war auf der Suche nach einem Informationsschalter und wenig an den zahlreichen Ständen interessiert. Wir fanden ein Fenster, über dem ein kleines „i“ Fragenden Antwort versprach. Wie wir schnell feststellten, allerdings nur auf Polnisch, und das sprachen wir nicht. Der mit der saubersten deutschen Betonung ausgesprochene Ortsname B-I-A-L-Y-S-T-O-K entlockte der freundlichen Dame nur ein Fragezeichen und Schulterzucken. Wir holten Zettel und Stift hervor und schrieben den Namen auf – zum Glück schreiben auch die Polen mit lateinischen Buchstaben. Die Frau lächelte und notierte Gleisnummer und Abfahrtszeit. Auf dem Weg zum Bahnsteig erinnerte ich mich an den alten Bahnhof in meiner Heimatstadt Rostock. Nicht zu vergleichen mit dem Neubau, der seit einigen Jahren eine Zierde der Stadt ist. Ist das nicht erstaunlich, dass man sich als etwas Besseres fühlt, nur weil im eigenen Land die alten Bauten etwas früher saniert wurden? Was würde ich wohl von Polen denken, wenn der Warschauer Bahnhof komplett renoviert wäre?
Bialystok begrüßte uns wenig einladend und das Wetter zeigte die Stadt von ihrer denkbar schlechtesten Seite. Renés erster Gedanke galt einer Karte von der Region. Uns störte die wenig professionelle Vorbereitung der Reise nicht. Wir fanden eine kleine Tankstelle und fragten den älteren Mann, der wie der Pächter wirkte nach Karte, Map, und Mappa. Er schüttelte entschuldigend lächelnd den Kopf. Wir gingen weiter. Nach einigen Schritten rief jemand hinter uns laut. Es war der Pächter, der uns zu sich heranwinkte und tatsächlich zwei Landkarten in der Hand hielt. Eine Wanderkarte vom Wald war nicht dabei, trotzdem wollten wir nicht unhöflich sein und nahmen dankend die von Bialystok an. Wir finden bestimmt noch eine, wenn wir in Bialowieza sind, meinte René zuversichtlich.
Gegen Abend erreichten wir Bialowieza. An der letzten Bushaltestelle fragte der Fahrer etwas auf Polnisch. Wir interpretierten, dass er unser Ziel wissen wollte. Hotel? Wir nickten und er fuhr zu einem ziemlich nobel aussehenden Haus. Die Dame an der Rezeption bestätigte in sauberem Englisch unsere preislichen Befürchtungen, konnte uns aber eine sehr detaillierte Karte der Region verkaufen. Wir gingen dann zu Fuß zur Jugendherberge am Ortseingang, schließlich hatten wir fast den ganzen Tag gesessen. Das Hostel hatte glücklicherweise geöffnet. Wir brachten die Sachen in das 6-Mann-Zimmer, und nach einer Dusche gönnten wir uns im Ort eine Begrüßungspizza mit Bier.
Tag 2
Mann, mir tun die Füße weh. Wollen wir nicht wenigstens eine kurze Pause machen? Nun komm. Wir sind gleich am Ziel und in einer Stunde geht die Sonne unter. Dann können wir eh nicht mehr laufen und bauen das Zelt auf. Nochmals, wie so oft an diesem Tag, ein Blick auf den Kompass und weiter geht es. Das Argument mit der untergehenden Sonne sitzt.
Ich habe den Blick nach vorn gerichtet, genieße die verschneite Waldlandschaft und erblicke ein Auto in der Ferne. Na ja, wir wandern schließlich nicht durch menschenleere Pampa, sondern auf Forstwegen. Die Wagenspuren sind überall deutlich erkennbar, Kreuzungen meist rechtwinklig. Das Auto kommt näher und wir gehen schon einmal vorsorglich am Rand der Strecke, damit hier keine wichtige Fahrt unnötig unterbrochen wird. Das Gehen dort ist so unbequem, dass nur die durch alte englische Lieder ersungene gute Laune weitere Flüche in Richtung der Fahrer verhindern. Das Auto stoppt, zehn Meter vor uns. Durch die Frontscheibe dieses militärisch aussehenden Fahrzeugs erkennen wir, das jemand eine Mütze aufsetzt. Der Grenzsoldat steigt aus. Ertappt. Mitten im Nationalpark, campen verboten wie wir wissen, auch wenn wir die polnischen Warnschilder nicht lesen können. Und dann noch so nahe der europäischen Grenze zu Weißrussland. Na toll. Eine Waffe scheint der Soldat nicht zu tragen. Mit skeptischem Blick und einem gezwungenen Lächeln grüßt er und fragt nach dem Passport.
Ich überlasse die Verhandlungen lieber René, würde mich selbst sonst garantiert nur verplappern. Wir geben unsere Ausweise. Die normalen Plastikkarten reichen hier ja zum Glück noch. Der Soldat spricht kein Englisch, also zieht er sich in die Sicherheit des Fahrzeugs zurück. Die rufen bestimmt jemanden, der uns auf Englisch oder sogar Deutsch zusammenscheißen kann. Ich freue mich über meine scharfe Beobachtungsgabe, René wartet lieber und setzt den Rucksack ab. Fünf Minuten später geht die Fahrzeugtür auf. Diesmal der Beifahrer. Der sieht etwas umgänglicher aus. Er winkt uns heran und hält das Sprechfunkgerät bereit. Where you want to stay tonight?, tönt es. Ich verkneife es mir, die Karte herauszuholen und auf den Platz im Wald zu zeigen, den wir uns ungefähr für die Übernachtung im Zelt ausgemacht haben. René antwortet Bialowieza, der Ort von dem wir aufgebrochen waren.
Na gut, also doof stellen. Ist auch besser für jeden. Spart Ärger und Munition. Der Mann am Gerät erklärt erst seinen beiden Kollegen und teilt dann mit It´s dark in two hours. Bestimmte Minen bei beiden Grenzern, Schweigen bei den Wanderern. Die allmählich unangenehme Situation wird durch das Mitleid der Grenztruppen und den Hauch der allseits angelernten Internationalität aufgelöst – die Polen haben da ja das strahlendste Vorbild (Dank an Herrn Kapuscinski). Rein in den multifunktionalen Kofferraum und mitgenommen die Touris – ohne Handschellen. Nettes Land. Aber trotzdem sind wir enttäuscht darüber, dass wir um die Übernachtung im Wald gebracht wurden. Ein wenig Überlebenstraining sollte es ja schon sein. Die immer wieder einander beschriebene Situation hilft uns aber, wieder die gute Laune zurückzufinden. Die Grenzer fahren uns zurück zur Jugendherberge.
Plötzlich kommt es einem vor, der Wald sei ein Bahnhof. Der Jeep hält an und zwei Jäger stehen da. Nur einer hat ein Gewehr bei sich. Die beiden scheinen damit besser bewaffnet zu sein als die Grenzsoldaten. Wir können nur die Gesten und die Lautstärke deuten, es scheint sich aber um keine Katastrophe zu handeln. Die Jäger steigen auch noch zu. Die Rückbank wird frei gemacht. Es stellt sich heraus, dass sie ihr Auto festgefahren haben. Kaum ist das erledigt, wird ein weiterer Mann auf einem Hochsitz ermahnt, ein anderer auf seinen ungünstig an einer Kreuzungseinfahrt geparkten Hyundai aufmerksam gemacht. Wie haben wir es nur geschafft, den gesamten Tag keine Menschenseele zu treffen? Zurück an der Jugendherberge gibt´s eine kleine Tafel Schokolade statt harte Zloty für die Soldaten. Die kurze Diskussion darüber hatte René für sich entschieden.
An der Rezeption wartet eine nettere Kollegin auf uns. Von dem Bericht über Grenzsoldaten zeigt sie sich wenig beeindruckt. Das ist ziemlich enttäuschend. Nicht dass ich zu Hause ein Casanova wäre, aber ein kurzes Abenteuer hatte ich mir schon erhofft. Die Kondome lagen im Rucksack bereit. Pech gehabt. In der Küche machten wir uns die mitgebrachten Nudeltüten warm und brühten Kaffee auf. Ein wenig Irland half der braunen Ersatzbrühe merklich auf die Sprünge. Im Fernsehen lief Skispringen. Ist auf Polnisch auch nicht spannender. Dass ich mich dann doch laut an den polnischen Springer Malysz erinnere, führt zu keinem Gespräch mit dem einzigen weiteren Gast in der Herberge.
Tag 3
Am nächsten Morgen orientierten wir uns weg von der Grenze. Die Soldaten am gestrigen Tag hatten uns mit Zeichensprache sehr deutlich machen können, dass weißrussische Beamte mit Verhaftungen nicht sparsam sind. Der Wald hielt, was er verspricht. Vor allem als wir die Forstwege verlassen, zeigte sich der Winter von einer seiner besten Seiten. Schnee so sauber, dass man ihn trinken bzw. essen konnte. Neben den Wegen blieben wir Spaßes halber öfter stehen, um mit dem Kompass die Richtung zu bestimmen. Das Ziel war Narewka. Ich war in meinem Element und führte uns voller Überzeugung Richtung Norden. René vertraute mir zwar nicht absolut, war aber wenigstens froh über die Zuversicht.
Nach einigen weiteren Kilometern war es uns auf den offiziellen Strecken endgültig zu langweilig. Teilweise sollte man dort auf Landstraßen laufen. Auch wenn diese kaum befahren waren, entsprach das nicht unseren Vorstellungen von Abenteuer. Also wählten wir erneut einen kaum sichtbaren Pfad, auch um bessere Fotomotive zu finden. Auf einer Lichtung erblickten wir schließlich mehrere große Tiere. René hatte derart schnell seinen Rucksack abgelegt und die Kamera gezückt, dass ich nur noch das zur Sicherheit mitgeführte CS-Gas aus der Tasche holen und vorsichtig in die gleiche Richtung steuern konnte. Schau dir das an, sagte er, Wisente! Ich blickte skeptisch zur Herde, habe immerhin schon einmal welche im Zoo gesehen und die waren sehr viel größer. Trotzdem wünschten wir uns beide, die europäischen Bisons vor die Linse zu bekommen. Unser Vorbild war eine Aufnahme in einer Jagdzeitschrift, auf der ein wütendes Wisent ein (Achtung!) angreifendes Wildschwein auf die Hörner genommen und meterhoch in die Luft gewirbelt hat. Das Erstaunen über die neue Hierarchie im durch Aufzuchtmaßnahmen umstrukturierten polnischen Wald schien dem Keiler fast auf die Schnauze geschrieben. Wildschweine waren es dann auch, welche wir auf der Lichtung zu Gesicht bekamen. Erst nach mehreren Fotos und im Aufbrechen bemerkte René, dass es sich um eine Bache mit ihren Frischlingen handelte. Wir kannten die Gefahr und machten uns zügig auf den Weg zurück in den Wald.
Nach weiteren Kilometern durch knöcheltiefen Schnee wurden wir nach und nach unsicherer, ob wir noch auf dem richtigen Weg waren. Der Schnee wandelte sich zu Matsch und schließlich wurde die Landschaft zu einem Sumpf, der zu allem Überfluss vom Winterkleid bedeckt war. Ein Einsacken inklusive Gepäck wollten wir auf jeden Fall vermeiden, kämpften uns aber weiter vor, schließlich war ich der Überzeugung, der auf der Karte verzeichnete Fluss müsste bald in nördlicher Richtung auftauchen. René hatte bald die Nase voll. Hier ist es zu nass und die Schuhe suppen durch. Wir drehen um. Los komm. Wir suchen den Weg und folgen schön brav den Schildern. Dauert zwar vielleicht etwas länger, aber das hier ist Mist. Am Ende müssen wir noch an einen Baum gelehnt im Schlafsack pennen um nachts nicht abzusaufen. Als wir Fußspuren in die entgegengesetzte Richtung fanden, wurde der Plan Flussüberquerung endgültig aufgegeben. Wir drehten um und spürten, dass die Freiflächen zwischen den Bäumen tabu waren, sprangen daher von einer Baumwurzel zur nächsten. Nach und nach wurde der Untergrund tatsächlich fester und auch die Spuren waren noch sichtbar.
Wir hatten völlig das Zeitgefühl verloren, als endlich wieder ein Forstweg auftauchte. Bleiben können wir hier nicht, meinte René erschöpft. Ich hab keinen Bock, wieder von irgendwelchen Soldaten oder Parkwächtern aufgegriffen zu werden, wenn wir gerade alles ausgepackt haben. Also weiter. Ich fragte mich, ob es helfen würde, ein erbauendes Gespräch anzufangen. Ich hatte allerdings keine Kraft mehr, denn ich musste mich auf das Laufen konzentrieren und René mitziehen, der merklich langsamer wurde.
Wir gingen weiter und versuchten noch einmal, unsere eigens mitgebrachten Lieder zu singen. Dear Sir I write this note to you, to tell you of me plight. Für mehr als die erste Strophe reichte die Energie aber nicht. Wir fanden bald darauf eine Stelle zum Zelten. Direkt in Sichtweite der Straße zu campen kam uns nicht in den Sinn, deshalb versteckten wir uns hinter den Bäumen, schoben den Schnee mit den Füßen beiseite und bereiteten schnell alles für die Nacht vor. Wir fielen wie tot in die Schlafsäcke und hatten keine Kraft, etwas zu Essen zu machen. Die Dunkelheit kam und nun lagen wir früh am Abend mitten im Wald. So stellten wir uns das Abenteuer vor. Nur nicht so kalt und mit derart wenig Essen. Nach zwei Stunden Halbschlaf, die Uhrzeit verriet uns jetzt wieder das Telefon, hatten wir uns etwas erholt und René konnte aus den Rucksäcken Schokolade und Flachmann holen. Die Sachen standen draußen, da im Zelt nur Platz für zwei aneinandergelegte Isomatten war.
Sag mal, meinst du wir treffen noch auf Wisente oder sogar Bären und Wölfe?, fragte ich in meiner wieder erwachten Abenteuerlaune. Na, du hast Pläne. Waren dir die Wildschweine heute etwa nicht gefährlich genug? Aber mal im Ernst. Die wirklich großen Viecher gibt´s hier bestimmt nicht, sondern weiter östlich im Nationalpark. Sozusagen als natürliche Grenzpatrouille. Und außerdem würde unser Pfefferspray einen hungrigen Braunbären bestimmt nicht lange davon abhalten, uns aufzufressen. Ich sah Renés Einwände ein, zumal kurz vor dem Urlaub ein Film mit Anthony Hopkins und einem der nicht unterscheidbaren Baldwin-Brüder im Fernsehen lief, in dem beide durch irgendwelche konstruierten Umstände ohne viel Ausrüstung in die Wildnis kommen und von einem Bären gejagt werden. Beide Männer bekämpften zum Finale den Bären mit langen selbstgeschnitzten Speeren, und natürlich brachte ich diese Abwehrmethode sofort ins Abendgespräch ein. René schien das für zu bescheuert zu halten, um zu antworten. Erschöpft schliefen wir ein.
Damit war das Abenteuer leider schon beendet. Am nächsten Morgen merkten wir nämlich, dass der Kocher kaputt war. Wir verlegten uns also auf eine klassische Städtetour durchs ehemalige Ostpreußen mit Bett, Dusche und Essen und nahmen uns fest vor, das nächste Mal vor der Abreise die Ausrüstung zu prüfen.
Eine Reportage von Peter Müller.