Gegensätze sind vereinbar

Der Schüler (Ion Beitia) sitzt konzentriert am Klavier und versucht verzweifelt die Anfangsarie der Goldberg-Variationen von Johann Sebastian Bach zu spielen. Obwohl er es aufgibt zu üben und verärgert geht, verbreitet sich zunehmend Stille mit einer spürbaren Vorfreude im Publikum aus.

Die Solistin des Abends, Annika Treutler, Studentin der Hochschule für Musik und Theater in Rostock, nimmt den Platz am Klavier ein und beginnt mit ihrer Interpretation der berühmten Goldberg-Variationen. Bach komponierte diesen Klavierzyklus im Jahre 1741, der seitdem als Musterwerk im Musikalter des Barock gilt. Mit der grellen und trotzdem angenehmen Lichteinstellung wird für eine stimmungsvolle Atmosphäre im Saal gesorgt, die während der Aufführung nicht wegzudenken ist.

Die Arie, choreografisch inszeniert von Ralf Dörnen, enthält insgesamt 30 Variationen der Anfangsmelodie und ihrer Begleitung, die in sich jedoch ein und dasselbe Schema verfolgen. Dieses Merkmal spiegelt insbesondere die hohe Kombinationskunst von Bach wieder, welche sich oftmals in seinen Werken äußert. Dieser Charakterzug wird auch vom Choreografen originell umgesetzt, was im Tanz der zehn Tänzer dargestellt wird. Denn hier finden und verlieren sich Pärchen, Gefühle stellen sich mitreißend im Tanz sowie der Mimik dar, wodurch auch die Stimmung der Zuschauer beeinflusst wird. Nicht zuletzt bleibt auch die Neugier auf neue Gruppierungen zwischen den Beteiligten und deren Tänze, die bis zum Ende der Ballettumsetzung erhalten bleibt.

Die Arie endet schließlich mit der Anfangsmelodie, vorgespielt durch den Schüler, wodurch er sein Talent doch noch zum Ausdruck bringt. Zugleich schließt sich auch der Kreis von (Neu-) Ordnungen der Pärchen, womit ein Ende wohl kaum harmonischer ablaufen kann. Ein hochgradiger Gegensatz in Musik und Tanz offenbart sich, als das expressionistische Werk „Le Sacre du Printemps“ (Das Frühlingsopfer) von Igor Strawinsky beginnt. Die Geschichte handelt von einem Opfer, das sich -laut einem heidnischen Ritus- für den Frühlingsgott zu Tode tanzen muss, um diesen günstig zu stimmen.

Der „Sacre“ gilt aufgrund von Disharmonie und neuer Rhythmusgefüge bis heute als ein Jahrhundertwerk, was ebenso die Bewegungsarten betrifft. In der Inszenierung wird die moderne Form des Massenballetts aufgegriffen, wodurch die Wirkung intensiver und spektakulärer ist als bei den Goldberg-Variationen.

Ruckartige, zitternde und gleichzeitig chaotische Tänze in Verbindung mit einer Müllhalde als Bühnenbild (Bühne: Hans Winkler) erwecken den Eindruck einer kaputten Gesellschaft, die vor nichts zurück schreckt. Selbst nicht vor dem gewollten Tod eines Mitglieds aus ihren Reihen. Das Frühlingsopfer (Martin Schirbel/ Laura Costa Chaud) verendet unter krampfhaften, quälenden Bewegungen, die gleichzeitig auch bedrückend vom Rest der Masse wahrgenommen werden.

Das Werk ergreift vor allem durch die unkonventionelle Kombination von treibenden Pauken, dissonanten Akkordverbindungen und schwebenden Tönen. Nicht zuletzt erschauert es aber auch durch die bebende, gewaltige künstlerische Gestaltung des Balletts.

Durch die Gegensätzlichkeit der Stücke erfährt der Zuschauer eine Konfrontation von neuer Bewegungsästhetik im „Sacre“ und klassischem Ballett in den Goldberg-Variationen. Doch genau diese extremen Unterschiede überzeugen sowohl musikalisch als auch in der choreografischen Umsetzung von Ralf Dörnen.

Ein Artikel von Luisa Pischtschan mit Fotos von Vincent Leiffer.