„Schicht C – Eine Stadt und die Energie” von Tobias Rausch

„Was hier ausgetragen wird, ist der Kampf zwischen Mensch und Natur”, sagt der Ingenieur, während er in die Ferne blickt. Was sieht er? Peitschenden Regen, Eis und Schnee. Greifswald ist von der Außenwelt abgeschnitten. Lebensmittel werden knapp. Die Energieversorgung ist gefährdet. Es ist das Jahr 1978. Der Norden der DDR erlebt einen Winter, der das öffentliche Leben still stehen lässt und 30 Jahre später Stoff für ein sehenswertes Theaterstück bietet.

Erzählt werden die authentische Geschichte der Schneekatastrophe und die Ereignisse im Kernkraftwerk „Bruno Leuschner” in Lubmin. Vier Schauspieler geben in wechselnden Rollen Einblicke in die Gedanken- und Erlebniswelt der zahlreichen Zeitzeugen. Zu Wort kommen Ingenieure, Maschinisten, Parteisekretäre, Elektromonteure, Kassierer und Brotlieferanten. Im Mittelpunkt der Aufführung stehen aber vor allem die über tausend Angestellten und Ingenieure der Schicht C, die im Kernkraftwerk ohne Schlaf und unter größten Anstrengungen weiterhin ihre Arbeit verrichten. Mehrere Tage lang sind sie von der Außenwelt abgeschnitten. Ein Zusammenbruch der Energieversorgung der gesamten DDR droht. Die Weisung aus Berlin an Schicht C lautet: Auf keinen Fall abschalten!

Das Theater Vorpommern hat diese Ereignisse in einem groß angelegten Projekt rekonstruiert. In Zusammenarbeit mit der Greifswalder Universität ist aus über 80 Zeitzeugenberichten, Interviews und vielen Dokumenten ein Panorama jener so unvergesslichen Wintertage entstanden. Den Schauspielern genügen wenige Requisiten, um die Vergangenheit auf der Bühne lebendig werden zu lassen. Styroporquader dienen wahlweise als Eisblöcke oder Rednerpulte. Eine Box, an zwei Seiten mit Spiegelfolie bezogen, ist der abstrakte Platzhalter für das Kernkraftwerk. Wenige Mittel, große Wirkung. Dem Regisseur Tobias Rausch ist es gelungen, eine Geschichte ohne Pathos zu erzählen. Keine Heldenverehrung. Keine übertriebene Dramatik.
Mit Witz, einer abwechslungsreichen Szenengestaltung und einer gut ausgewählten musikalischen Untermalung wird der Zuschauer in eine Welt der eisigen Temperaturen geführt. Originelle Ideen bereichern die Aufführung. Die Funktionsweise eines Kernkraftwerkes wird mit Hilfe einer Kaffeemaschine erklärt. Menschen werden zu lebenden Schneewehen. Und die Kernspaltung lässt die Hüllen der Darsteller fallen. So schaffen es die Schauspieler immer wieder, den Ernst der damaligen Lage mit einem Augenzwinkern zu verbinden.

Einzelne Ereignisse im Kernkraftwerk, an der Bahnstrecke und in Greifswald setzen sich nach und nach zu einem Gesamtbild zusammen. Die Aussagen und Fragmente der Geschichten bilden die Widersprüchlichkeiten der Geschehnisse und heutigen Erinnerungen ab. Gegenwart und Vergangenheit, Erlebtes und Bewertung überkreuzen sich. Ergebnis ist eine gelungene Inszenierung, die nicht nur Zeitzeugen anspricht.

Autor: Grit Preibisch, Fotos: Garry Williams