Sie sind sich bisher nie begegnet, vollkommen fremd, nun suchen sie sich auf einem Bahnhof oder Parkplatz. Zuerst ihre fragenden Blicke und dann ein vorsichtiges Lächeln. Letzte Gewissheit besteht nach der Gretchenfrage: „Bist du X und fährst nach Y?“ Eine Situation, die vielen Greifswalder Studenten durchaus vertraut ist: die Suche nach der Mitfahrgelegenheit.
Nur knapp ein Drittel der Greifswalder Studenten kommt aus Mecklenburg-Vorpommern und noch wesentlich weniger sind direkt aus Greifswald. Somit stellt sich für viele die Frage, besonders unter Studienanfängern, wie sie schnell und günstig nach Hause fahren können. Beliebt ist das Bilden von Fahrgemeinschaften. Während sich am Schwarzen Brett in der Mensa zwischen „Gebe Gitarrenunterricht“ und „Suche Moskitonetz“ nur noch vereinzelt Angebote für eine Mitfahrgelegenheit finden lassen, werden entsprechende Internetportale immer populärer.
Allein auf den beiden bekannten Webseiten mitfahrzentrale.de sowie mitfahrgelegenheit.de tummeln sich deutschlandweit rund eine Million registrierte Nutzer. Täglich gibt es bis zu 100 Angebote von und nach Greifswald, am Wochenende sogar mehr. Außerdem kann man auf forum.uni-greifswald.de oder in speziellen Gruppen im StudiVZ, wie „Mitfahrgelegenheit Berlin – Greifswald“ nach Mitfahrern suchen. Gefahren wird entweder mit dem Auto oder den Gruppentickets der Bahn.
Auf diese Weise kostet eine Fahrt von Greifswald nach Berlin 7 bis 12 Euro und nach Rostock 5 bis 7 Euro. „Das ist sehr günstig“, freut sich die Greifswalder Politikwissenschaftsstudentin Marie Knobloch. Außerdem habe sie bisher durchweg positive Erfahrungen mit Fahrgemeinschaften gemacht. Nach kurzem Innehalten erinnert sie sich dann doch noch an ein unangenehmes Erlebnis aus ihrer Kindheit. Damals hatte ihr Vater in seinem Auto eine Tramperin mitgenommen. „Ihr war ständig schlecht, wir mussten mehrmals anhalten und kamen erst verspätet an“, erzählt Marie rückblickend, nicht ohne zu schmunzeln.
Dass ein Mitfahrer sich während der Fahrt in einem offenen Disput mit seinem Magen befindet, ist glücklicherweise die Ausnahme. Genauso wie das klassische Trampen zu einer Rarität geworden ist. Nur noch selten sieht man Studenten und Gleichaltrige mit einem Pappschild am Straßenrand stehen. „Die Mitfahrgelegenheit ist das Trampen von heute, nur eben effizienter und zuverlässiger“, wirft der Medizinstudent Stefan Bittner ein. Das Trampen in Zeiten des Internets. Doch wo bleibt da die Spontanität und das Lebensgefühl? Ist die geplante Mitfahrgelegenheit etwa ein Indiz für eine Generation, die kürzlich auf der Titelseite der ZEIT (36/2008) als „Jugend ohne Charakter“ diffamiert wurde?
Wohl kaum, denn das freie Lebensgefühl des Trampens besteht sicher nicht darin sich bei niedrigen Temperaturen, rauem Wind und leichtem Sprühregen zwei Stunden lang die Beine in den Bauch zu stehen. Das fehlt. Viel mehr liegt der Reiz darin auf seiner Fahrt interessante, sympathische oder auch skurrile und eigenartige Menschen kennenzulernen. Mit Personen zu reden, mit denen man sonst nicht ins Gespräch kommen würde. Das bleibt.
Erst einmal auf der Straße, kann das Auto zu einem miniaturhaften Modell der Gesellschaft werden, ohne Fluchtweg. So wurde beispielsweise der 22-jährige Georg Ziegler aus Rostock zum Zuhörer der Lebensgeschichte eines Bundeswehrsoldaten, der in seiner Vergangenheit als Stripper tätig war. Eine Woche vor der gemeinsamen Fahrt hat er sich in einem Boulevardmagazin auf SAT.1 geoutet und fürchtete nun den Hohn seiner Kameraden. „Meistens ist das schon faszinierend, wenn eine Hand voll sehr verschiedener Menschen bei einer Mitfahrgelegenheit aufeinander trifft“, erläutert Georg. Andererseits kann sich auch Langeweile und krampfhafter Smalltalk zwischen den Sitzen breit machen. Wer diesen Situationen entgehen will, fährt einfach Bahn.
Micha Gutknecht
Im Internet: http://forum.uni-greifswald.de,
www.mitfahrgelegenheit.de, www.mitfahrzentrale.de