Um es gleich vorwegzunehmen: Das Alltagsleben eines Archäologen hat nichts mit der Jagd nach magischen Artefakten zu tun, die man in Windeseile ihrem historischen Umfeld entreißt, um sie, an tödlichen Fallen vorbei, vor finsteren Mächten in Sicherheit zu bringen. Ja, Archäologie ist mit „Leidenschaft und vollem Einsatz“ verbunden; aber dies äußert sich nicht in Waghalsigkeit und Übermut. Die größte Tugend des Archäologen ist die Geduld.
Um die Hinterlassenschaften vergangener Kulturen ausfindig zu machen, sie zu dokumentieren und zu deuten, braucht es Zeit – mitunter viel Zeit. Manchmal gilt es, sein Engagement Projekten zu widmen, für deren Umsetzung das eigene Menschenleben nur einen Bruchteil beiträgt.
So ein Projekt ist die Erforschung des Tells Zira’a, südöstlich des See Genezareth, im heutigen Jordanien. Als Tell wird ein künstlicher Hügel bezeichnet, der sich – mitunter über Jahrtausende hinweg –
aus mehreren Siedlungen ergab, die sich „schichtartig“ übereinander legten. Anhand dieser Schichten (Strata) lässt sich eine Nutzung mindestens von der späten Bronzezeit, circa 1800 v. Chr., bis zur osmanischen Herrschaft nachweisen. Durch seine strategisch günstige Lage oberhalb eines Wadis, also dem Tal eines temporären Flusses, durch das eine wichtige Fernhandelsverbindung von Damaskus nach Jerusalem verlief und eine eigene Quelle, die das Wasservorkommen auch im Belagerungsfall sicherte, war der Tell Zira’a immer wieder als Siedlungsort genutzt worden.
„Der Tell ist 3,8 Hektar groß. Wenn man von jetzt an noch 21 Jahre bis zum Ende meiner Dienstzeit rechnet, werden ungefähr fünf bis sechs Prozent des Tells ausgegraben sein. Insofern macht es Sinn, sehr genau nachzudenken, wo man gräbt“, sagte Professor Dieter Vieweger im April 2008 gegenüber dem Deutschlandfunk.
2001 begann der Theologe und Archäologe als Direktor des „Biblisch-Archäologischen Instituts Wuppertal“ (BAI) mit der Erforschung des Areals. 2005 übernahm der 50-Jährige außerdem die Leitung des „Deutschen Evangelischen Instituts für Altertumswissenschaft des Heiligen Landes“ (DEI) in Jerusalem und Amman. Seitdem koordinieren er und seine Kollegin Dr. Jutta Häser von hier aus die Ausgrabungskampagnen, die seit 2003 zweimal im Jahr stattfinden. Dabei ist die Zusammensetzung der Grabungsteilnehmer sehr heterogen. Neben fachkundlichen Altertumswissenschaftlern, haben auch interessierte Laien die Chance, für einige Wochen dem Archäologenhandwerk nachzugehen.
Auf Gustaf Dalmans Spuren
An der sechsten Ausgrabungskampagne, die vom 7. März bis 14. April 2008 stattfand, nahm auch die Greifswalder Absolventin Anne Schürmann teil. Sie hat in der Hanse- und Universitätsstadt von 2002 bis 2007 Ur- und Frühgeschichte, Christliche Archäologie und Antike Zivilisation studiert und im Sommer 2007 ihre Magisterarbeit vorgelegt. Bereits mehrfach hatte sie an Ausgrabungen des mittlerweile fast nicht mehr existenten Greifswalder Lehrstuhls für Ur- und Frühgeschichte in Ralswiek auf Rügen und in Dabki in Polen teilgenommen und daher schon einige praktische Erfahrungen gesammelt.
„Auf dem Tell zu graben, war aber schon was anderes“, bekennt sie. „In der Zeit, in der hierzulande einfache Holzbauten errichtet wurden, von denen man heute nur noch die Aushubgruben der Stützpfähle nachweisen kann, wurden dort unten bereits massive Verteidigungsmauern aus Stein und komplexe Wohngemeinschaften errichtet.“
Als Teil des „harten Kerns“ von circa 15 Ausgräbern blieb sie die ganzen sechs Wochen vor Ort. „Ich hatte schon großes Glück, für das Projekt ausgewählt zu werden. Ich habe einfach eine E-Mail geschrieben und wenig später kam eine Antwort.“
Vielleicht hat in diesem Zusammenhang auch die Verbindung des Namens Gustaf Dalman mit Greifswald eine Rolle gespielt. Der Alttestamentler und Palästinaforscher Gustaf Dalman (1855 – 1941) war von 1902 bis 1917 der erste Direktor des damals auf kaiserliche Initiative hin gegründeten DEI. 1920 gründete er in Greifswald das „Institut für biblische Landes- und Altertumskunde“, dessen Bibliothek sowie die Sammlung von Exponaten und Lichtbildern aus der vorindustriellen Zeit des Heiligen Landes heute einen großen „Schatz“ der Theologischen Fakultät darstellen.
Zu Dalmans Zeiten war Palästina noch Teil des Osmanischen Reiches. Aus jenen Jahren stammt das „Beit Melkawi“, ein geräumiges Haus, das inmitten der großen spätantiken Stadtanlage von Gadara, unweit des Tells, errichtet wurde. Hier hatten die Ausgräber ihr Domizil. „Der Arbeitstag fing früh an. Um fünf Uhr galt es aufzustehen und schnell noch etwas zu essen, bevor es zum Tell ging. Die eigentliche Grabung ging meist bis zum Mittag. Dann wurde es mit durchschnittlich 36 Grad Celsius doch zu heiß. Am Nachmittag haben wir dann im kaum kühleren Innenhof des Grabungshauses die geborgenen Kleinfunde, also meistens Tonscherben, gewaschen, sortiert und dokumentiert. Sehr spät wurden die Abende dann nicht mehr.“
Trotz der mühseligen Kleinarbeit war das bald routinierte Vorgehen immer wieder von Überraschungen geprägt. So entdeckte Anne Schürmann eines Tages zufällig in einem unscheinbaren Lehmklumpen eine seltene Figurine, die vermutlich eine altorientalische Gottheit darstellt.
„Ich war im Bereich des sogenannten ‚Areals I’ am Südhang des Tells tätig. Dort ist es das Ziel, quasi ein ‚Kuchenstück herauszuschneiden’, um einen Eindruck von den einzelnen Siedlungsschichten zu bekommen. Dabei ist es zwangsläufig so, dass eine obere Schicht abgetragen werden muss, um an die darunterliegende zu gelangen. Bevor das passiert, wird aber alles genau dokumentiert und vermessen.“
Manchmal sind die Funde aber auch zu bedeutsam, um sie aus ihrem Kontext zu reißen. So waren einige ihrer Kollegen im „Areal II“ damit beschäftigt, die Grundmauern und ein Fußbodenmosaik einer römischen Villenanlage freizulegen. Dort wird man vorerst nicht tiefer gehen.
„Ganz anders als im Film“
Wenn es Zeit und Kraft zuließen, nutzte Anne Schürmann auch die Gelegenheit, „Land und Leute“ kennenzulernen. „Das Grabungshaus ist die ganze Zeit von einer jordanischen Familie bewohnt. Die ‚Frau des Hauses’ kochte uns jeden Abend leckeres Essen. Meist gab es Huhn. Auf dem Tell gab es auch einheimische Arbeiter. In der Regel haben wir in den Pausen unser ‚Lunchpaket’ immer etwas getrennt von einander verzehrt. Gerade Frauen gegenüber sind sie doch etwas zurückhaltender. Am Ende haben wir uns dann doch ein oder zwei Mal zusammengesetzt und uns locker unterhalten. In Umm Qais kannte man uns bald und hat uns immer freundlich gegrüßt.“
Das Dorf Umm Qais ist der nächstgelegene Ort, in den sie hin und wieder zum Einkaufen gehen konnte. Das dortige Internetcafé hat sie jedoch kaum genutzt. „Ich war froh, endlich einmal von der ganzen globalen Technokratie entfernt zu sein. Da draußen merkt man, dass man den ganzen Mist eigentlich gar nicht braucht. Es war alles sehr schlicht aber OK.“
Über die Osterfeiertage war Anne Schürmann mit einigen Mitstreitern in einem Auto des Grabungsteams zu einer Stippvisite nach Petra aufgebrochen. Das Weltkulturerbe der einstigen Nabatäer-Hauptstadt darf natürlich bei keinem Jordanienbesuch fehlen. Vor Ort stellte sie jedoch fest, dass vieles doch anders aussah, als man es aus den medialen Überlieferungen kannte.
„Dieses sogenannte ‚Schatzhaus’ liegt zwar wirklich so beeindruckend in der Schlucht, wie man es von ‚Indiana Jones’ kennt; hinter der großen Schaufassade gibt es aber kein komplexes Höhlensystem, sondern nur einen kubischen Raum. Außerdem waren wir noch bei der Kreuzfahrerfestung Kerak. Dort sieht es auch völlig anders aus, als in ‚Königreich der Himmel’. Dann sind wir noch kurz ans Tote Meer gefahren. Neben einigen Bettenburgen mit separatem Strand sind wir kurz ins Wasser gegangen. Von einer ‚therapeutischen Wirkung’ habe ich nichts gemerkt. Dennoch möchte ich die faszinierenden Landschaftseindrücke nicht missen.“
„Auf Jerusalem blickt die Welt“
Das antike Erbe und der damit verbundene Tourismus sind eine wichtige Identitäts- und Einnahmequelle für das Land. Daher steht auch das Ausgrabungsprojekt auf dem Tell Zira’a unter staatlicher Obhut. Prinz El Hassan bin Talal, der Onkel des jordanischen Königs hat offiziell die Schirmherrschaft übernommen. „Es hieß, er würde in den Tagen einmal bei uns ‚vorbeischauen’. Einmal waren verschiedene Sicherheitsleute da, aber von einem ‚offiziellen Besucher’ war nichts zu sehen. Ansonsten war die ganze Zeit ein Vertreter von der Regierung vor Ort; der machte immer einen etwas reservierten Eindruck. Aber das war sicher auch sein Job, letztendlich sollte hier ja nichts illegal entwendet werden.“ Als sich die Grabungskampagne dem Ende zu neigte, traten einige Teilnehmer die Heimreise per Auto auf dem Landweg über die Türkei und den Balkan an. Im Gegensatz dazu ist Anne Schürmann mit einer kleinen Gruppe geflogen. Während sie bei der Anreise direkt vom Flughafen in Tel Aviv nach Gadara gebracht wurde, hatte sie bei der Rückreise die Gelegenheit, jene Stadt zu besichtigen, deren Schicksal, wie das keiner anderen, mit der gesamten Region verknüpft ist: Jerusalem. „Obwohl wir nur einige Stunden Zeit hatten, in denen wir auch das Institutsgebäude des DEI auf dem Ölberg besuchten, konnten wir einen Blick in die Altstadt werfen. Vor der Klagemauer muss man durch einige Sicherheitsmaßnahmen. Auf den Tempelberg mit dem Felsendom konnten wir nicht, da er an diesem Tag geschlossen war. Die Grabeskirche war das erste Gotteshaus, in dem ich mich fast verlaufen hätte. Diese Stadt ist wirklich einer der bedeutendsten Orte der Welt – hier prallen Kulturen wirklich unmittelbar aufeinander.
Ich hätte gern mehr Zeit hier verbracht.“ Die sechs Wochen im Nahen Osten haben bei Anne Schürmann auf jeden Fall einen tiefen Eindruck hinterlassen. „Die Faszination der Archäologie besteht für mich darin nicht wie Indiana Jones um die ganze Welt zu hetzen, sondern sich intensiv einer Sache zu widmen, die trotz mancher Mühseligkeiten immer wieder voller Überraschungen steckt!“ Damit hat sie in unserem globalen Zeitalter sicher eine wichtige Erkenntnis errungen, bei deren Bewahrung es ihr weiterhin viel Glück zu wünschen gilt.
Geschrieben von Arvid Hansmann