Ein Gastbeitrag aus dem Satire-Magazin „Titanic“

Harvard is in Germany
und wer sich darüber freut, ist eigentlich schon zu doof, als daß man ihn an einer Eliteuniversität studieren lassen sollte. Ein abermals recht exzellenter Vortrag von Stefan Gärtner, M.A.

Wie dagegen im engsten Umkreis Menschen dort verdummen, wo ihr Interesse anfängt, und dann ihr Ressentiment gegen das kehren, was sie nicht verstehen wollen, weil sie es allzu gut verstehen könnten, so ist doch die planetarische Dummheit, welche die gegenwärtige Welt daran verhindert, den Aberwitz ihrer eigenen Einrichtung zu sehen, das Produkt des unsublimierten, unaufgehobenen Interesses der Herrschenden.
Minima Moralia §127

Eine der erfrischendsten Ironien der letzten Zeit ist sicherlich die Unruhe des Bildungsbürgers, der feststellt, daß die seit der Entdeckung der Globalisierung und insonderheit des sog. Pisa-Schocks forcierte Ökonom- und Brutalisierung bereits der Schulverhältnisse auch das eigene Balg betrifft: „Das verkürzte Gymnasium macht aus Kindern Manager“, erkannte ein bedröppelter Hannes Hintermeier in eben der Frankfurter Chef- und Oberklassenzeitung, deren Bildungsredakteuse Heike Schmoll seit gefühlten Dekaden nach Latein ab Einschulung, Turboladergymnasium und Zentralabitur in allen Fächern schreit: „Spontane Verabredungen mit Nachbarskindern sind die Ausnahme, Kindergeburtstage bedürfen sorgfältiger Absprachen, das gesamte Schuljahr muß akribisch durchgeplant werden … Kinderärzte berichten, daß Eltern verstärkt Antibiotika für die Kinder verlangen, um Fehlzeiten abzukürzen. Immer mehr Schulkinder klagen über Erschöpfungszustände“, nämlich in Bayern, wie vor Jahren schon in der SZ zu lesen war, ein rundes Drittel aller „G8“- und also Schnellgymnasiasten; die auf Konkurrenz, Wettbewerb und Weltmarkt halt weniger Bock haben als ihre halb dummen, halb für dumm verkauften Eltern, die zwar ihre Kinder lt. jüngsten Zahlen mit Vierfünftelmehrheit nicht mehr alleine auf den Schulweg lassen, die knochen- und willensbrecherische Zurichtung ihrer gehätschelten Lütten aber vor lauter Abstiegsangst ergeben hinnehmen. Aber welche Konsequenzen die Übertragung von Markt- und Ausleseprinzipien auf Grund- und Mittelschüler hat, hätten sich sogar jene denken können, die noch die Gnade des hessisch-nordrheinwestfälisch-bremischen Abiturs genossen haben und heute allesamt bekloppte Sozialfälle sind: „Die Kinder“, nämlich Hintermeiers und seiner Klassenkameraden, „sind der erste Jahrgang, den die Verkürzung der Gymnasialzeit auf acht Jahre ereilt hat. Wenn sie 2014 Abitur schreiben, werden sie endlich Zeit haben, darüber nachzudenken, was denn das nun gewesen sein soll? Eingesperrt in ein Korsett, das ihnen regelmäßig Zwölfstundentage aufnötigte, der schmale Rest an Kindheit, der noch für sie vorgesehen war, geopfert. Leere Nachmittage, Muße, Sport, Musik, Spiel mit Freunden – Luxus längst vergangener Tage“, auf den man aber gerne verzichtet, wenn nur später die Luxuswohnung und der Luxusgeländewagen dafür einstehen, daß eins erst lebt, wenn‘s konsumiert.

Die vom Spiegel wie stets mehr gewünschte denn festgestellte und in Form eines schon älteren Spezials noch immer die Bahnhofsbuchhandlungen blockierende „Sehnsucht nach alten Werten“, nämlich Familie, Autorität und Leistungswille, ist die simple Sehnsucht der Profiteure nach der guten alten Zeit, als es am bürgerlichen Normenkatalog genausowenig Zweifel gab wie an dessen staatsbürgerlichem Sinn: Kinder, Küche, Krupp; und es ist nur prima vista paradox, daß sich genau jenes juste millieu, das allenthalben über mangelnde Volksbildung klagt und den Nachwuchs immer schneller und härter durchs Gymnasium geprügelt sehen will, scheint‘s weder den Schüler Gerber noch Hans Giebenrath, noch auch nur Hanno Buddenbrock zu kennen scheint und deshalb, gegen alle Pisa-Lehren, genau die Triez- und Kasernenschule wiederhaben will, der die deutsche Literatur vor hundert Jahren schon den Abgesang geschrieben hat.

Wilhelm Meister würde sich wundern; aber den kennen sie ja gleichfalls nicht.

So scharf ist der Wind geworden, daß Thomas Steinfeld sogar in der Süddeutschen Zeitung im deutschen Eliten- und Leistungswahn die „Funktion eines sich verschärfenden Klassengegensatzes“ sehen mußte: „Zur Elite hingegen, von der zur Zeit vor allem die Hochschulpolitiker schwärmen, sollen keineswegs alle gehören. Denn ihr Zweck besteht nicht nur darin, den Besten zu einer noch besseren Bildung zu verhelfen. Vielmehr ist sie auch dazu da, eine ungleich größere Zahl von jungen Menschen von der weiteren Bildung auszuschließen. Diese sollen bloß nicht zuviel lernen, damit Geld, Zeit und Wissen auf die wenigen Kandidaten für eine erträumte zukünftige Elite konzentriert werden können“ und die anderen, wie zu ergänzen wäre, nicht mehr auf dumme Gedanken kommen noch überhaupt kommen können, es sei denn auf solche, die sich beim Anblick von Autoprospekten, Couchgarnituren oder Plasmaschrankwandfernsehern einstellen mögen.

Dabei darf es, je nach Blickwinkel, bereits als gutes oder schlechtes Zeichen gelten, daß über solche Sätze schon gar nicht mehr gelacht wird: „Sechs deutsche Hochschulen sind heute zu Eliteuniversitäten ernannt worden“ (hr-Nachrichten), von Kaiser Wilhelm wahrscheinlich, der zwar genügend irre Gedanken hatte, einen von solchem Kaliber aber nicht: zu dekretieren, wo in Zukunft gute Wissenschaft stattzufinden hat und wo weniger gute, weil diesem Land halt nichts so sehr fehlt wie ein „deutsches Harvard“, damit die Entscheider in Zukunft dem Lebenslauf leichter entnehmen, ob einer Prolo oder Elite ist. Bildung, auf gut Humboldtsch der Weg und die Fähigkeit zu Selbstbestimmung und Mündigkeit durch den Gebrauch der Vernunft, findet dann selbstverständlich nicht mehr statt, denn langhaarige Tagediebe auf der Campuswiese Burroughs, Hegel oder Adorno lesen zu lassen bringt weltmarktmäßig einfach nichts ein; ganz anders als „die enge Verschränkung von Forschung und Industrie“, die lt. naturgemäß begeistertem Spiegel („Deutsche Forschung: Zurück zur Weltspitze“) die Universität der Zukunft zu leisten hat: „ ‚Normalerweise geht man als Doktorand ins Labor und kommt nach drei Jahren wieder raus‘, erklärt Physikprofessor Uli Lemmer, Leiter der [Karlsruher „School of Optics and Photonics“-]Graduiertenschule. Seine Mitarbeiter forschen nun von Anfang an gut vernetzt mit der Industrie, regelmäßige Managementkurse gehören fest zum Programm“ –  denn darum geht es, und nur darum: ums Geldverdienen. Weswegen ein älterer FAZ-Bericht über den Trend, sich zwecks sprachlicher Frühförderung chinesiche Kindermädchen ins Haus zu holen, auch weniger dem Glück galt, als Kind eine Fremdsprache geschenkt zu bekommen, sondern dem, was in der Titelzeile so trüb wie notorisch „Fit für den Weltmarkt“ hieß; und die deutsche Universität „trotz des öffentlichen Jubels über das Ergebnis der Exzellenzinitiative … in der geistigen Prägung, die sie seit Kants `Streit der Fakultäten ́, durch die Humboldtsche Bildungsreform und die philosophischen Universitätstraktate von Fichte, Schelling und Schleiermacher bis Karl Jaspers erhalten hat …  nach längerem Siechtum verstorben ist“, wie Professor Dieter Borchmeyer (Heidelberg), Präsident der Bayerischen Akademie der Schönen Künste, schon nach Ausrufung der ersten deutschen Kaderschmieden im letzten Jahr der Süddeutschen klagte, als einer der wenigen, die den Wahn, wo Widerstand schon zwecklos geworden war, wenigstens noch benannten. „Was  in der Universität heute den Ton angeben soll, ist vor allem das anwendungsbezogene Wissen, der Technologietransfer, an dem Politik und Wirtschaft“ – lies: Wirtschaft und Politik – „so lebhaftes Interesse haben. Der neue Hausherr der Universität ist nicht mehr der Homo sapiens, sondern der Homo faber. Diejenigen Wissenschaften, welche das Bild und die Struktur der deutschen Universität mit ihrer weltweiten Auswirkung geschaffen haben, sind nunmehr zu Fremdlingen im eigenen Hause geworden“, denn die Geisteswissenschaften – die, was die deutschen Reformgauner nicht wissen oder nicht wissen wollen, den Ruhm und Ruf der angelsächsischen Eliteuniversitäten schon begründet haben, als es das Wort Exzellenzcluster noch gar nicht gab – sind in der schönen neuen Welt der Dr. Anette Schavan (CDU) und ihrer philiströsen Schergen allenfalls noch Dekoration und werden deshalb, wo immer es geht, vorsorglich kaputtgespart. Wo nicht gleich abgeschafft.

Daß sich Deutschlands akademischer Überbau so gut wie gar nicht gegen den ja zunächst einmal alles andere als rechtsverbindlichen Bolognakäse gewehrt hat, daß es ihm kaum einmal in den Sinn kam, darauf hinzuweisen, es habe doch jahrhundertelang ganz gut ohne Module und ECTS-Leistungspunktesystem funktioniert, daß er das vulgärkapitalistische  „Centrum für Hochschulentwicklung“ der Fa. Bertelsmann als Schattenbildungsministerium hingenommen hat und also die eigene Herabwürdigung zum Thinktank des Großen Geldes – man mag es für einen besonders glorreichen Fall von kampfloser Kapitulation halten, nachdem Wirtschaft und angeschlossene Medien in den letzten fünfzehn Jahren keine Gelegenheit zum Rankings- und Wettbewerbsradau ausgelassen haben; wie sich das Hamburger Sturmgeschütz der Reaktion noch im Triumph das Nachtreten nicht verkneifen kann: „Der Elite-Wettkampf macht Schluß mit der Lebenslüge, daß alle Universitäten gleich seien“ – vor einem übermächtigen, ausweislich seiner Sprache keiner humanen noch intellektuellen Regung mehr verdächtigen Gegner mag es klug sein, sich ohne größere Umschweife zu ergeben; angesichts dessen aber, was auf dem Spiel stand: den Geist gegen den Naturzustand zu verteidigen, einen uninstrumentellen, „unpraktischen“ Begriff von Bildung gegen die räudige Homo-homini-lupus-Begeisterung des neoliberalen Gesockses in Schutz zu nehmen, wären Verweigerung und Boykott einen Versuch wert gewesen. Doch statt sich gegen die Marginalisierung ihrer Disziplinen zu wehren, machten die akademischen Philosophen, Philologen und Sozialwissenschaftler – aus Angst, Beflissenheit oder beidem – den Clusterquatsch lieber mit und gingen z.B. in Mainz, wo man vor zehn Jahren noch in aller Seelenruhe studieren konnte, mit albernen Akronymungeheuern wie einer „Graduate School of Cultural and Social Studies (SOCIUM)“ auf Fördergeldjagd; und, natürlich, baden.

Denn wenn es schon darum geht, dem akademisch avancierten Ausland und seinen Investoren auf zeittypischer Augenhöhe zu begegnen, dann muß man, wo es schon (und gottlob) keine jüngere universitäre Elitetradition gibt, auf Namen zurückgreifen, die nach großer Vergangenheit, Internationalität oder wenigstens nach Good Old Germany klingen, weswegen Mainz gegen München, Greifswald gegen Göttingen und Hannover gegen Heidelberg eh keine Chancen hatten. Und weniger überraschend, daß eine Hauptstadtuni im feinen deutschen Ivy-Kreis gelandet ist, als der Umstand, daß es nur die FU geschafft hat; aber die Humboldt-Universität noch mit dazuzupacken hätte dann vielleicht doch zu arg nach DDR-Zentralismus und Hauptstadtprotektion ausgesehen.

Wo es also nicht allein um Profit und Einfluß geht, geht es um Glanz, Gloria und Adabei, und wo es darum nicht geht, um die Disziplinierung und Formatierung des akademischen und subakademischen Nachwuchses. Denn neben den gehätschelten Repräsentativuniversitäten mit ihren international anerkannten Topcheckerclustern wird sich, ganz wie im Vorbild USA, ein Mittel- und Unterbau entwickeln, wo dann der doofe Rest, gegängelt durch ein Modul- und Punktesystem, sich zu einem Bachelor genannten erweiterten Abitur qualifizieren darf, und da „kritisches und eigenständiges Denken als universitäres Ausbildungsziel gar nicht mehr angestrebt oder einer winzigen Elite während ihres Doktorandenstudiums vorbehalten werden soll“ (Prof. Dietrich Lemke, Bielefeld, cf.  www.nachdenkseiten.de/?p=2535), kann man das Fußvolk, das ja doch nur in der Peripherie von English Studies, Bewegungspädagogik und Sozialarbeit landet, besten Gewissens nach drei Jahren in die Zeitarbeit entlassen; das ist gut für die Statistik – „das Ziel ist nicht die Verbesserung der Qualität der Ausbildung, sondern die Vermehrung der Zertifikate“ (Prof. W. Eßbach, Freiburg) -, es gibt weniger Studienabbrecher, und mit dem „unverhofften Geldsegen“ (FAZ, 2.11.) aus den Studiengebühren kann man die Unis zu eben den Servicebetrieben „mit Geld-zurück-Garantie“ (ebd.) machen, die den auf Konsum programmierten Schulabgängern gerade noch gefehlt haben.

Aber man soll sie auch  nicht kaputtreden, die neue akademische „Freiheit“ (H.-O. Henkel), die es erlaubt, verlustfrei heute in Bremen und morgen in Oxford zu studieren, das Punktesystem macht‘s möglich, nein? Nein: „Auch wenn zwei BA-Studiengänge im selben Fach an zwei verschieden Hochschulen dieselbe Anzahl von Leistungspunkten erfordern, sagt das über die inhaltliche Ausgestaltung noch überhaupt nichts aus, denn jede Hochschule bastelt sich ihre Studiengänge in eigener Regie zurecht, wobei die persönlichen Fachschwerpunkte der jeweiligen Lehrenden die dominierende Rolle spielen. Es gibt, im Gegensatz zu früheren Zeiten, noch nicht einmal mehr eine verbindliche Rahmenordnung, die für ein Mindestmaß an inhaltlicher Vergleichbarkeit garantieren könnte“ (Lemke, a.a.O.). Aber wozu dann der ganze, im Rekordtempo durchgepaukte Reformzauber? Damit die Massenunis der zweiten Kategorie, wo sie schon weder Weltgeltung noch Mehrwert produzieren helfen, eben das Geld nicht brauchen, welches anderswo zur Alimentierung der Bulmahnschen „Leuchttürme“ benötigt wird? Oder weil Globalisierungssklaven halt nicht mehr können müssen als das Allernötigste: „Einfaches Rechnen bis höchstens 500, Schreiben des Namens, eine Lehre, daß es ein göttliches Gebot ist, gehorsam zu sein und ehrlich, fleißig und brav. Lesen halte ich nicht für erforderlich?“

Kaum anzunehmen, daß unsere Bildungspolitiker die Quelle dieses (unwesentlich gekürzten) Zitats kennen; weswegen ich mich auch nicht dafür entschuldigen muß. Noch werde.

Erstmals erschienen in Ausgabe 12/2007 des endgültigen Satiremagazins „Titanic“.
Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Verlages.

Geschrieben von Stefan Gärtner (endgültiges Satiremagazin Titanic)