Prof. Ulrike JekutschÜber den Übersetzer Karl Dedecius sprach moritz web mit der Slawistin Prof. Ulrike Jekutsch vom Institut der Fremdsprachlichen Philologien.

moritz web: Wer ist Karl Dedecius?

Prof. Jekutsch: Ganz sicher der bedeutendste Übersetzer in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Nicht allein als Übersetzer, sondern auch ein starker Kulturvermittler.

moritz web: Wie begann seine Karriere?

Prof. Jekutsch: Mit einer Anthologie zeitgenössischer polnischer Lyrik mit beispielsweise von Ziebgniew Herbert, Syzmborska und Rozewicz. Das war damals ein schmaler Band.

moritz web: Was war daran neu?

Jekutsch: Bis dahin kannte man nur die sozialistisch-realistische Literatur jenseits des eisernen Vorhangs. Die polnische Lyrik, die Dedecius darin und auch später übersetzte, setzte ein Zeichen. Es war ein Zeichen für moderne und von dem damals herrschenden ästhetischen Dogma unabhängige Literatur.

moritz web: Wie fand es Aufnahme?

Jektusch: In Kulturkreisen der damaligen Bundesrepublik gab es ein ausgeprägtes Echo, das kontinuierlich weiterhallte. Einige Gedichte hat Hans Magnus Enzensberger in seinem über 350 Gedichte und nahezu 100 Autoren aus aller Welt umfassenden Sammlung „Museum der modernen Poesie“ aufgenommen.

moritz web: Dedecius hat dennoch nicht als freiberuflicher Übersetzter gearbeitet.

Jektusch: Richtig. Anfangs und auch bis zur Pensionierung war und blieb es sein Hobby. Er arbeitete ja in gehobener Position für eine Versicherung. In seine Sprachwerkstatt begab er sich entweder abends oder am Wochenende.

moritz web: Mit steigendem Erfolg wäre das dennoch nicht nötig gewesen.

Jekutsch: Dedecius wollte seine Unabhängigkeit. Finanziell und bei der Auswahl. Denn er übersetzte nur das, was er wollte.

moritz web: Was zeichnet ihn aus?

Jekutsch: Dedecius ist ein Übersetzter von größtenteils damals modernster polnischer Lyrik von literarisch sehr hohem Niveau. Szymborska und Czeslaw Milosz erhielten beispielsweise den Nobelpreis für Literatur. Sprich der polnische Kanon und insgesamt betrachtet große Literatur. Besonders aus den späten Vierzigern bis in die siebziger Jahre hinein.

moritz web: Wie konnte er das bewältigen?

Jekutsch: Deutsch und Polnisch waren seine Muttersprache. Zudem reiste er immer wieder nach Polen, sprach und verhandelte mit den Autoren vor Ort und sicherte sich so die Übersetzungsrechte ins Deutsche. Viele der heute Etablierten hatten damals noch nicht den Namen. Eines darf dabei nicht vergessen werden: Die kulturellen Beziehungen Polens zur BRD waren in mancher Hinsicht besser als zur damaligen DDR. Immer im Hinblick auf die politischen Verhältnisse der Zeit. Henryk Bereska, der als Übersetzer auf gleicher Augenhöhe wie Karl Dedecius in der anderen Hälfte des geteilten Deutschland wirkte, darf da nicht vergessen werden.

moritz web: Von welcher Güte zeugen Karl Dedecius Übersetzungen?

Jekutsch: Dedecius war kein ausgebildeter Philologe. Lyrik war sein Hauptgegenstandsbereich. Im Technischen ordnete er sich großen Beschränkungen unter. Sprich: Er hat es immer sehr genau genommen und sich an die jeweilig Vorlage gehalten. Nur partiell und punktuell geht die Phantasie mit ihm durch. Und: Die Patina der Zeit merkt man schon.

moritz web: Gab es in der Absicht der Kulturvermittlung bei Dedecius ein bestimmtes politisches Interesse?

Jekutsch: Ihn interessierte nur das hohe künstlerische Niveau des jeweiligen Schriftstellers und nicht, weil gerade ein Schreibender gerade ins politische Exil gegangen ist. Nein, er übersetzte nicht aus politischen Gründen. Zum Teil nahm er allerdings in der Auswahl der Poesie Rücksicht auf die Bitten seiner Autoren, um deren Ruf und Auflagen im Heimatland.

moritz web: Was fällt Ihnen dennoch heutzutage auf?

Jektusch: Dedecius ist eine beeindruckende Persönlichkeit. Nicht allein hinsichtlich der Verständigung in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Im Moment gibt es niemanden wie ihn. Vielleicht liegt es auch an der Zeit.

Lesetipp: Karl Dedecius: Ein Europäer aus Lodz – Erinnerungen, Suhrkamp Verlag, 2006