Denis Gansels „Die Welle“ mahnt zur Reflexion des eigenen Handelns
„Die Lehrer sind doch heutzutage keine Autoritätspersonen mehr. Die spulen doch nur noch ihr Programm ab und können froh sein, wenn ihnen überhaupt noch jemand zuhört. Früher war das anders …“ – Früher? Wann früher? In der grauen Vorzeit der Erinnerung, in der genuin „alles besser war“? Oder in einer konkreten historischen Epoche, in der „Die Feuerzangenbowle“ als groteske Konterkarierung der realen Verhältnisse erschien? („Wat hab ich davon, dat ihr aufsteht?)
Es waren die sog. „68er“ die sich vor mittlerweile 40 Jahren aufmachten, um den „Muff von tausend Jahren“ zu beseitigen. Doch was ist aus Euphorie der „freien Liebe und Basisdemokratie“ geworden? Wer die „Flower-Power-Zeit“ überlebte und seinen Idealen treu blieb, kann sich als museale Wachsfigur á la Mick Jagger auf roten Teppichen feiern lassen – die Majorität der „Revoluzzer“ ist jedoch mittlerweile zu jenem „Establishment“ geworden, dass sie früher so verachtete.
Und auf jene (vermeintlich) „gescheiterten Existenzen“ blickt nun die Generation ihrer Kinder. Welche „Ideale“ soll sie verfolgen? Der Weg zur „materiellen Sicherheit“ ist scheinbar nur durch eine zunehmende Individualisierung zu erreichen. Wie hellhörig wird jemand, der bereits in der Schule an diesen Perspektiven resigniert, wenn es um Worte wie „Gemeinschaft“ und „Zusammengehörigkeit“ geht. Die Bereitschaft, sich einer „Sache“ zu verschreiben, wird mit Enthusiasmus nachgegangen. Durch uniforme Erkennungsmuster wird definiert, wer „dazu gehört“ und wer nicht. Die Orientierung erfolgt anhand einer „Leitfigur“, die charismatisch im Mittelpunkt steht. Für sie kann letztendlich nur eine treffende Bezeichnung gefunden werden: der „Führer“ …
In Dennis Gansels Neuverfilmung des Romans „The Wave“ („Die Welle“) von Morton Rhue, der 1981 erschien, ist es Jürgen Vogel („Der Freie Wille“), der sich als Lehrer – ohne sich dessen zunächst bewusst zu sein – in die Rolle dieses „Führers“ begibt. Die Schüler liefern durch die Ansammlung charakteristischer Stereotypen ein vielfältiges Identifikationspotential – zumindest für ein Gymnasium in einer (west-)deutschen Großstadt: Es gibt den „beliebten Sportsfreund“ ebenso wie den „Migranten“ und den „tragischen Außenseiter“, der „endlich einmal etwas hat, für das er sich einsetzen kann“. Sie zeigen in realistischer Lockerheit, wie schnell sie sich von vermeintlich „aufgeklärten“, selbstironischen Hip-Hopern zu dem wandeln, was Elias Canetti als „geschlossene Masse“ bezeichnet hat: wer sich den Dogmen der Zugehörigkeit nicht unterwirft, wird radikal ausgegrenzt und mundtot gemacht.
Durch Kameraeinstellung, Schnittfolge und musikalische Gestaltung ist der Film sehr an ein amerikanisches „Highschool-Movie“ angelehnt – wozu auch das drastische Finale neigt – sicher ein Grund weshalb das Werk auch als deutscher Beitrag bei Robert Redfords alternativem „Sundance Film Festival“ lief.
„Die Welle“ lässt den Betrachter zwar zunächst mit schockierender Ratlosigkeit zurück, lässt ihn aber gleichzeitig darüber reflektieren, welch eine schwierige Gratwanderung zwischen autoritärer Respektperson und mitmenschlichem Vermittler den Beruf des Pädagogen auszeichnet – in einer Welt, in der die Schule als Meinungs- und Wertebildungsinstitution weit hinter Fernsehen und Internet zurückgetreten ist.