Ein Kommentar über Freiheit, den Verlust desgleichen und das Nichtbeachten all jener Dinge, die im Leben gut und teuer sind.

Wissen sie, wann sie das letzte Mal ihre Wohnungstür geöffnet haben und dann, die Tür hinter sich schließend, einfach gegangen sind?
Oder wann sie sich zuletzt etwas zu Essen gemacht haben? Vielleicht sogar um Mitternacht, weil sie den ganzen Tag gearbeitet haben und wissen, dass sie am nächsten Morgen ohnehin nicht aufstehen müssen?
Möglicherweise fällt ihnen sogar noch ein, wann sie einen Tag lang überhaupt nichts getan haben. Ohne jemandem Rechenschaft ablegen zu müssen, ohne sich Fragen gefallen zu lassen.

In unserer Gesellschaft existiert das typische Problem der Überreizung und der Gewöhnung. Es gibt unzählbar viele Augenblicke, in denen wir in der Lage sind, Entscheidungen zu treffen, die im wahrsten Sinne des Wortes ?enorm? sind.
Sie mögen es möglicherweise für trivial halten, ihre Wohnungstür hinter sich zu schließen und einfach zu gehen, aber das ist es nicht. Sie genießen in diesem Moment Freiheit. Sie können einfach gehen! Egal wohin, sie gehen einfach, und niemand verlangt Rechenschaft, niemand fragt.

Selbstverständlich ist es nicht sinnvoll, über alle Freiheiten und Möglichkeiten nachzudenken, die sich einem im Leben stellen. Und ich verstehe, dass es häufig eines bestimmten Auslösers bedarf, um aus der täglichen Tristesse auszubrechen. Aber wenn sich ein solcher Moment bietet, sollte man ihn nicht einfach ziehen lassen. Dann darf man ruhig kurz verharren, durchatmen und nachdenken.

In der Gützkower Landstraße 69 befindet sich das evangelische Krankenhaus Bethanien, das Patienten mit psychischen Erkrankungen behandelt.
Die Menschen, die dort kuriert werden, sind zum großen Teil unmündig. Sie dürfen nicht gehen, sie dürfen nicht ungefragt essen, sie dürfen nicht wählen. Sie sind Schlaf- und Weckzeiten unterworfen und an einen Tagesplan gebunden, der kaum Raum für die Entfaltung persönlicher Freiheiten bietet.
Wenn die Patienten einen Wunsch haben, gehen sie zum Pflegepersonal und bitten, bis man sie erhört. Und im Zuge der Machtdemonstration zwischen Pfleger und Patient kommt es nicht selten vor, dass Patienten sämtliche Wünsche mindestens dreimal aussprechen müssen, bis ihnen Gehör geschenkt wird.
Wenn ein Arzt kommt und sich die Patienten ansieht, hat er die Befugnis, Medikamente zu verschreiben, deren Nebenwirkungen der zu behandelnden Krankheiten kaum nachstehen. So wird eine leichte Psychose schon mal mit Tabletten behandelt, deren häufig auftretende Nebenwirkungen  Erbrechen, Schlaflosigkeit und Suizidgefahr sind.

Wann darf sich ein Mensch die Freiheit nehmen, einem anderen Menschen die Mündigkeit abzusprechen? Wann darf ein Mensch sämtliche Freiheiten und so viele Rechte verlieren? Und wenn es so einfach ist, jemandem zu verbieten, die Wohnungstür hinter sich schließend in die Welt zu gehen und zu tun, was man möchte, welche Rechte hat man dann überhaupt?

Es gibt Dinge, die einem erst bewusst werden, wenn sie beschädigt oder fort sind. Ein kaputter Rücken, zum Beispiel. Eine gebrochene Hand, der Riss der Achillessehne oder der Verlust von Freiheit.
Man kann nicht über alles nachdenken, dass im Leben wunderbar ist oder dass das Leben schön macht und es funktionieren lässt. Aber wenn man einmal aus diesem Trott herausgerissen wird, darf man ruhig kurz innehalten, durchatmen und nachdenken. Und sich bewusst machen, wie unsagbar teuer die Freiheit ist, die Tür hinter sich zu schließen und zu gehen.

Geschrieben von Tobias Winkler