Die Welt ist rund

Die Fußball-WM hat begonnen. In Deutschland. „Wir“ haben Costa Rica 4:2 besiegt. Im Hinterhof eines Greifswalder Clubs habe ich das Spiel mehr schlecht als recht auf einer blassen Leinwand und einem Flachbildschirm verfolgt. Während ich mich zusammen mit zwei Kommilitonen kühl und beherrscht über die tiefsinnigen Äußerungen des Kommentators amüsierte, waren die jungen Leute auf der „Bierzeltgarnitur“ neben uns von ausgelassener Euphorie geprägt. Mit allerlei schwarz-rot-golden Accessoires bestückt, war es ihnen egal, ob sie nun jedes Detail des Geschehens nachvollziehen konnten, oder ob ihre Kommentare angebracht waren.

Ich dachte an den vorangegangenen Tag, wie ich mit meiner kleinen Digicam die Spiele des „3. Ernst-Lohmeyer-Cups“ der Theologischen Fakultät auf dem Sportplatz hinter der Hans-Fallada-Straße dokumentierte und kam mir mal wieder wie ein emotionaler Eisblock vor. – Man hätte sich ja aktiv am Spiel beteiligen können, aber nein, dafür ist man wieder zu unsportlich. Und außerdem dachte man gleich an den armen Rostocker Kommilitonen, der sich noch vor Spielbeginn einen „Schienbeinkopfbruch“ zugezogen hatte – man dachte schaudernd über den ungefähren anatomischen Aufbau eines Kniegelenks nach, anstatt sich einfach zu vergessen und in die rhythmischen Begleitaktionen mit einzustimmen, die einige junge Damen als „Cheerleader“ unternahmen. Stattdessen tat man nichts weiter als ihre Reize zu digitalisieren, zu archivieren und sie zu einem „historischen Ereignis“ werden zu lassen, dem man dann mit melancholischer Seele noch Jahre nachtrauern kann.
Wahrscheinlich ist diese Aussage für die meisten der Leser dieser Seite nicht erst die Initialzündung zu der tiefenpsychologisch-analytischen Diagnose: „Der Typ hat echt ’n Problem“. – Für den Fall, dass mir das jemand mal direkt sagen würde, hatte ich mir folgende „bescheidene“ Antwort zurechtgelegt: „Ego sum speculum mundi.“ – Doch kann man wirklich so ein pauschales Urteil fällen? Soll man der gesamten okzidentalen Kultur einen Hang zu Schwermut und Selbstmitleid unterstellen? Soll man die westliche Welt mit einem alten Aristokraten  vergleichen, der in seinem Leben eigentlich alles ererbt und erworben hat und der nun mit beißendem Fatalismus dem Zerfall seines Anwesens zusieht?
Ein Kommilitone sage neulich bei einer Flasche Wein zu mir: „Wir sind einfach zu klug für diese Welt.“ – Waren die Schwerenöter und die vermeintlichen Endzeitprognostiker vor 100 Jahren nur Propheten oder aber Katalysatoren der Schrecken des 20. Jahrhunderts? Soll man daraus Analogieschlüsse zu der materiellen Exzessivität „multimedialer Großereignisse“ wie eben der Fußball-WM ziehen, zu dem Verlangen dem vermeintlich nahe stehenden Untergang in diony-
sischer Ekstase entgegenzutreten?
Martialisch donnert die „WM-Hymne“ von Herbert Grönemeyer – doch halt! Hat sich der alte Meister nur derartiger Mittel bedient, um sich einigermaßen Gehör zu verschaffen? „Es ist Zeit, dass sich was dreht!“ – Drehen, wenden, umkehren – darin liegt die semantische Grundbedeutung der Buße. Für etwas büßen? Dem schließt sich scheinbar die Frage an: Was hat man denn verbrochen? – Doch diese enge Fokussierung muss man überwinden. Umkehren heißt seinen Weg zu überdenken. Das Beharren ist es, das zu Fanatismus führt.
In dem Film „Paradise Now“, der vor einigen Wochen im Mensa-Kino lief, ist es nur einer der beiden palästinensischen Selbstmordattentäter, der durch den Zweifel bekräftigt bereit ist, umzukehren; sein Freund bringt den teuflischen Plan zum bitteren Ende. Zwangsläufig wird man an das nervige Lied von Xavier Naidoo erinnert: „Bist du am Leben interessiert?“ Der Zweifel ist es, der einen überleben lässt – auch wenn man bereit sein muss zu kriechen. Begriffe wie „Stolz“ und „Ehre“ mögen einem ein postumes Denkmal setzen, denjenigen, die man zurück lässt, nützt dies wenig.
Dem Argument, sich aus einer irdischen Hölle in ein himmlisches Paradies zu begeben, sei entgegengesetzt, dass diese irdische Hölle ein menschliches Produkt ist – der im Film aufgezeigte soziale und materielle Kontrast zwischen Palästina und Israel ist ein Faktum demgegenüber ich, ohne vor Ort gewesen zu sein, kein positionierendes Urteil abgeben kann. Wenn hierzulande der Iran zur Bedrohung heraufstilisiert wird, sei daran erinnert, dass das Land, an dem seit Alexander dem Großen alle westlichen Weltreiche militärisch gescheitert sind, in den Tagen, in denen dieses Heft in den Druck geht und erscheint, ein friedlicher Teilnehmer der WM ist, wie die anderen Länder auch.
Um auf den Vergleich mit dem alten Aristokraten zurückzukommen, ist es nun notwenig, in der Weise Buße zu tun, dass man nicht tatenlos zusieht – und dabei womöglich noch Tschaikowski hört -, wenn beispielsweise das „funktionale Meisterwerk“ des neuen Berliner Hauptbahnhofes ein Anschlagsziel wird (ein Hoch auf die Zentralisierung!), oder wenn in unseren Breiten diejenigen, die dem „demographischen Wandel“ noch entgegentreten durch plumpe Parolen zu bereitwilligem Kanonenfutter erzogen werden.
Für mich könnte das nun heißen, dass ich mich endlich mal von dem „Ballzauber“ verführen lassen sollte, das lange Überlegen hinten anzustellen und mit Leib und Seele dabei zu sein, wenn Deutschland Weltmeister wird!
Wie dem auch sei. Ich habe an dieser Stelle lange genug meine Meinung kundgetan. Nun, da sich auch mein Studium allmählich einem offiziellen Ende zuneigt, ist es an der Zeit hier Platz für etwas Neues zu schaffen. Obwohl, ich habe mir sagen lassen, dass hier demnächst „Der große Makowski“ strandet und der ist schon erheblich länger dabei als ich. In welcher Form mein Schaffen im nächsten Semester im moritz präsent sein wird, wird sich zeigen – vielleicht wird sich „Johannes Adler“ wieder in dramaturgische Abgründe begeben, oder Andreas Braml (als dessen Fan ich mich hier outen möchte) wird einiges bei Radio 98eins rezitieren, oder …

Also dann. Tschüssi!

Geschrieben von Arvid Hansmann