„4“ – Ein Nachtrag zum 23. Filmfest München

Der Film „4“, dessen Buch der Filmemacher Ilya Khrzhanovsky zusammen mit dem bekannten russischen Autor Vladimir Sorokin verfasste, entführt den Zuschauer in zwei Welten, die unterschiedlicher nicht sein könnten.

Der erste Teil spielt in der Großstadt. Es ist Winter und spät Nachts treffen zufällig vier Menschen in einer Bar aufeinander. Im wirklichen Leben ist Oleg Kaufmann und handelt mit Fleisch, indem er die alten Tiefkühlbestände aus Sowjet-Zeiten auflöst. Volodya verdient seinen Lebensunterhalt als Klavierstimmer und Marina arbeitet als Prostituierte.
Den vierten im Bunde bildet der Bartender hinter seinem Tresen. Irgendwann entspinnt sich das Gespräch darüber, was man denn beruflich mache. Marina arbeitet auf einmal im Vertrieb von Klimaanlagen. Oleg behauptet, er habe sein Büro in der Lubjanka – nein, nicht beim KGB, er sei Regierungsbeamter und für das Trinkwasser des Präsidenten zuständig, denn dieser trinke nur Wasser von der Quelle der Wolga. Volodya gibt vor, Biochemiker zu sein und in einem Klon-Projet zu arbeiten – ja, menschliche Klone gebe es schon lange, seit dem zweiten Weltkrieg, man könne auch gar nicht mehr sagen wie viele geklonte Menschen tagtäglich herumlaufen. Der Bartender ist und bleibt der Bartender.
Während die erste Hälfte von Ilya Khrzhanovskys Film durch ihren subtilen Humor besticht und der Zuschauer, der ja die wahre Identität der Protagonisten kennt, schmunzeln muß, überwältigt die zweite Hälfte durch die archaische Wucht ihrer Bilder. Die Verbindung zwischen beiden Teilen ist Marina, die zum Begräbnis einer ihrer drei Schwestern reist.
Ihr Heimatdorf inmitten der russischen Provinz erwartet sie als Ort, in dem die Zeit stehen geblieben ist. Verblichene Holzhütten, eine Industrieruine, streunende Hunde, sonst nur Leere. Die Zurückgebliebenen im Dorf: alte Mütterchen, Marina, ihre beiden verbleibenden Schwestern, der Freund der Toten. Die Verstorbene sicherte den Unterhalt des Dorfes, schuf Puppen aus Brotteig, den die alten Frauen für sie kauten.
Der Ort steht vor der Katastrophe. Das Totenmahl wird zum Betrinken, zur Orgie, zum Rausch – die Handkamera wie mit einem Teleobjektiv hautnah dabei. Eine Montage voller Energie und Dynamik und radikale Bilder voller Kraft und Direktheit schaffen im zweiten Teil ein Werk, wie man es nur selten zu Gesicht bekommt.
Dem unter anderem in Rotterdam preisgekrönten Film ist zu wünschen, daß er bald in den Kinos seiner Heimat gezeigt werden kann. In Russland wartet das hochpolitische Werk Khrzhanovskys noch auf die Freigabe durch die Zensur. Für den Rest der Welt ist zu hoffen, dass sich genug mutige Kinobetreiber und Filmverleiher finden, die den Film ob seiner Radikalität und Progressivität nicht einem größeren Publikum vorenthalten.

Geschrieben von Maximilian Fleischmann