Autoren: Constanze Budde, Julia Schlichtkrull, Philipp Schulz und Katerina Wagner
Alle Jahre wieder… geht es mit dem Zug an Weihnachten nach Hause zu der Familie, den alten Freunden und dem leckeren Essen von Mami. Zwischen all dem Schönen und mir liegen jedoch noch über zehn Stunden Zugfahrt. Es überrascht mich immer wieder, wie viel es auf einer Zugfahrt zu erleben und zu entdecken gibt.
Er lächelt noch, wendet sich dann ab und geht weiter, von Fahrgast zu Fahrgast, und verbreitet seinen ganz eigenen Sinn von Weihnachten im Zug. Durch die geöffnete Tür des Großraumabteils weht die kalte Bahnhofsluft herein. Durchsagen erklingen scheppernd über die belebten Bahnsteige. „Auf Gleis 17 steht ICE 1252. Willkommen in …“ Der Name der Stadt geht unter im Stimmengewirr der ein- und aussteigenden Fahrgäste. Ein kleiner, vielleicht dreijähriger Junge kommt zwischen den Sitzreihen hindurchgerannt. Der Bommel auf seiner dunkelblauen Mütze mit Schneeflockenmuster wackelt aufgeregt auf und ab.
„Mamaaa, wo sitzen wir?“, ruft er vom anderen Ende des Abteils, bleibt unwillkürlich stehen und sieht sich nach einer Frau und einem Mann um, die sichtlich Mühe haben, ihr Gepäck durch den bereits vollen Zug zu bugsieren. „Warte doch mal, Hänschen“, bittet der Mann, der einen übergroßen Rucksack auf dem Rücken trägt und suchend die Platznummern begutachtet.
Bei der unbesetzten Vierergruppe neben mir bleibt er stehen. „Plätze 179 bis 182“, sagt er. „Hänschen, komm zurück“, ruft er dann. Der kleine Junge flitzt den Gang zurück und klettert direkt auf einen Fensterplatz. Hinter dem Mann erscheint ein kleines Mädchen. Ganz offensichtlich die Schwester von Hänschen. Sie hat die gleichen geröteten Pausbäckchen, und unter ihrer roten Mütze mit Schneeflockenmuster schauen zwei lange braune Zöpfe hervor. Sie zieht die Mütze vom Kopf und bezieht den anderen Fensterplatz.
„Mama, du sollst neben mir sitzen“, bestimmt sie und zupft der schwangeren Frau, die nun neben der Sitzgruppe stehen bleibt, am Jackenärmel. Die Frau nickt, zieht ihre Jacke aus und lässt sich auf dem Platz neben ihrer Tochter nieder. „Martha, Hänschen, zieht ihr auch eure Mäntel aus. Hier drinnen ist es warm genug.“ Etwas umständlich knöpfen die Kinder ihre Mäntel auf und schälen sich unter windenden Bewegungen aus den Ärmeln. Wollpullover und Strickkleider kommen zum Vorschein.
Eine Waldorf-Familie, muss ich unweigerlich denken. Und trotzdem kann ich mich nicht dagegen wehren, das alles ziemlich niedlich zu finden. Als ich den kleinen Jungen zuerst in den Waggon kommen gesehen habe, hatte ich schon befürchtet, nun die nächsten Stunden von quengelnden Kleinkindern genervt zu werden. Aber diese Kinder sehen nicht so aus, als wären sie zum Quengeln erzogen worden, oder als würden sie in den nächsten zehn Minuten Gameboy oder PSP einfordern. Ich spekuliere eher darauf, dass die Mutter gleich ein Bilderbuch und Bauklötze aus ihrer Handtasche zieht.
Der Mann hat mittlerweile den großen Rucksack irgendwo verstaut und setzt sich auf den noch freien Platz neben seinen Sohn. „Jetzt fahren wir los“, verkündet Hänschen in genau diesem Moment. Er und seine Schwester drücken sich die Nasen an der Scheibe platt und beobachten, wie die erleuchteten Gleise an uns vorbeiziehen und schließlich in der Dunkelheit verschwinden. „Ist es schon Nacht?“, fragt Hänschen. Martha, die ältere Schwester, schiebt den Ärmel ihres Kleids ein Stück noch oben und schaut auf das Ziffernblatt einer Zuckerperlenuhr. Dann schüttelt sie altklug den Kopf. „Nein, es ist erst vier Uhr“, verkündet sie.
Nur aus Neugier schaue ich auf mein Handy und checke die Uhrzeit. Vor Verblüffung fällt es mir beinahe aus der Hand. Es ist tatsächlich vier Uhr nachmittags. Woher hat die Kleine das gewusst? Selbst wenn sie die Uhr schon lesen könnte, ist es nicht auf diesen Zuckeruhren immer drei Uhr? Die alte Dame mir gegenüber sieht schmunzelnd zu der Familie herüber und scheint ganz entzückt von Marthas Fähigkeiten zu sein.
„Das ist aber toll, dass du schon die Uhr lesen kannst“, sagt sie. „Na klar“, erwidert Martha naseweis, „ich komme ja auch bald in die Schule.“ „Und ich geh dann in den Kindergarten“, verkündet Hänschen. „Wie schön“, sagt die Dame ehrlich begeistert. „Und wohin fahrt ihr jetzt?“, erkundigt sie sich dann.
Für einen Moment überlege ich, ob die Frage nicht zu direkt ist. Aber kleine Kinder und Omis dürfen wohl so direkt zueinander sein. Die Waldorf-Eltern lächeln jedenfalls und scheinen nichts gegen diese Unterhaltung zu haben. „Wir fahren zur Oma nach Basel“, sagt Martha. „Das ist in der Schweiz.“ Die alte Dame nickt. „Das ist aber schön. In Basel war ich auch schon einmal.“ Sie kramt in ihrer Handtasche herum und zieht einen Beutel mit Schokolade heraus. „Darf ich euch etwas davon anbieten?“, fragt sie lächelnd.
Mit großen glänzenden Augen nehmen die Kinder etwas von der Schokolade entgegen. Auch ihre Eltern dürfen zugreifen. Schließlich bietet die Dame auch mir etwas an. So sitzen wir eine Weile beinahe andächtig da und lutschen still unsere Schokolade. „Mama, bekommt das Baby auch Schokolade?“, will Hänschen wissen.
Die Mutter legt beide Hände auf ihren runden Bauch und streichelt ein wenig darüber. „Es bekommt von meiner Schokolade ein wenig ab“, sagt sie dann schmunzelnd. „Was wird es denn, ein Junge oder ein Mädchen?“, fragt die alte Dame ungeniert. „Ein Christkind!“, entgegnet Martha schlagfertig. „Nein, ein Jesuskind“, hält ihr kleiner Bruder dagegen. „Das ist doch das gleiche“, meint Martha.
Hänschen überlegt einen Moment. „Aber wenn es an Weihnachten in der Krippe liegt, ist es ein Jesuskind“, schlussfolgert er schließlich weise. Mir huscht ein Lächeln übers Gesicht. Kinder finden doch immer die schönsten Erklärungen für alle Lebenslagen. Aber Hänschen ist offenbar nicht fertig mit seinen Überlegungen. „Mama, hat euch der Engel auch verraten, wie das Baby heißen soll?“, fragt er weiter.
Welcher Engel?, frage ich mich.
Beitragsbild: Claude Monet: Train in the Snow (1875) (public domain), bearbeitet von Philipp Schulz