Rezension: “Noch wach?” von Benjamin von Stuckrad-Barre

Rezension: “Noch wach?” von Benjamin von Stuckrad-Barre

Es ist egal, wie viel Realität in der Fiktion steckt. Es ist alles wahr. “Noch wach?” von Benjamin von Stuckrad-Barre erzählt eine kleine Geschichte der Macht. Fernab der Gossip-Gier rund um die Verbindungen zum Fall Julian Reichelt steht der Roman beispielhaft für einen unveränderten Status-Quo männlicher Hegemonie.

 

Ein Beitrag von Anna Lisa Alsleben

“[E]s ist eine Art, auf die Welt zu gucken, sie besser zu ertragen. Und sie sich, auch das, vom Leib zu halten. Und hier kommt der Witz:
Und was nun ist es, das ‘Psycho’ so epochal spannend macht?
– Dass der Hai nicht gezeigt wird”

 

in Panikherz, S. 550

Wieder zurück im Chateau Marmont. Am Pool, dort unter dem Äther des Zitronenbaums, der uns aus Panikherz noch so bekannt ist. Dort also zwischen den Bungalows und dem Märchenschloss, nur ein Steinwurf entfernt vom Hollywood-Boulevard, treffen wir alte Bekannte und neue Geschichten.
Neben der Foucault-Forscherin ist da auch Rose – die irgendwie anstrengend geworden ist.
Wie wir später erfahren, ist Rose McGowan die erste einer Reihe von Schauspielerinnen, die gegen Harvey Weinstein aussagt und damit den #metoo-Skandal in Hollywood lostritt.

 

OBJECTS IN THE MIRROR ARE CLOSER THAN THEY APPEAR

 

Wir lernen den Freund und damit eine Männerfreundschaft kennen, bei der man sich fragt, wie viel Ambiguität Toleranz denn nun aushalten kann – und sollte. Dieser Freund ist Chef eines Boulevard-Sender-Imperiums, ein mächtiger Mann, der sich mit den mächtigen Männern dieser Welt umgibt. Ein Schöngeist ohne Meinung mit viel Haltung, in den besten Jahren einer Midlife-Crisis für Superreiche. Er träumt von Duschen über den Dächern Berlins, während der Turm unter ihm zu bröckeln beginnt. #metoo hat es auch in die deutsche Medienlandschaft geschafft.

 

“Und ich habe halt schon irgendwie Angst, keine Ahnung, dass es aufhört.”

 

Knapp ein Viertel des Romans ist vorüber, da treffen wir die eigentliche Heldin der Geschichte: Sophia. Sophia ist eine aufstrebende Reporterin bei genau jenem Medienimperium des Freundes unseres Erzählers. Durch sie erfahren wir Insights in die Redaktion des TV-Senders, der seinen Erfolg auf hetzerischen Kampagnen, Falscherzählungen und angstpropagierenden Alliterationsauswüchsen begründet. Vollständig assimiliert an Optik und Habitus des Senders steht ihr eine steile Karriere bevor: eine eigene Show, Prime Time.
„Entdeckt“ vom Chefredakteur, der nun immer weiter in den Fokus der Geschichte rückt, sieht er in ihr „das gewisse Etwas“. Dass dieses „gewisse Extra“ vor allem seinen persönlichen amourösen Präferenzen entspricht und dass sie bei weitem nicht die einzige ist, wird nach und nach auch Sophia klar.

 

“Wenn sie sich dir anvertraut, sei kein Arschloch.”

 

Und dann ist da noch der Erzähler. Als Vertreter einer linken, woken Bubble ist er scheinbar der strahlende Gegenentwurf zum Freund und dessen offensichtlich auf allen Linien moralisch verdorbenen, mephistotel’schem Chefredakteurs. Er ist ein “Ally”, dem sich Sophia anvertraut und der als Mittler zwischen ihr und der Macht steht. Er hat die goldene Eintrittskarte, um nicht zu sagen, das goldene Eintrittschromosom.

 

Noch wach?

 

Mit der Macht ist es so eine komische Sache. Es gibt Insignien der Macht: Duschen auf einem Sender-Hochhaus zum Beispiel. Aber das heikle an der Macht ist, dass man sie einfach oft gar nicht zu Gesicht bekommt. So auch der Chefredakteur. Er ist der Inbegriff der Macht: er macht Medien, er macht Meinung, und ja – er machts auch mit seinen Mitarbeiterinnen.

 

Im Vorhinein der Buchveröffentlichung war kaum etwas zu dessen Inhalt bekannt, umso mehr wird nun über die Verbindungen und Parallelen zu den Affären des Ex-Bild-Chefredakteurs Julian Reichelt mit etlichen seiner Mitarbeiterinnen und der Rolle Matthias Döpfners (CEO des Springer-Konzerns) darin gemunkelt.
Doch dass es in dem Roman um mehr geht, als um eine irrlichternde Suche um vermeintliche Parallelen zu Julian Reichelt, wird in jeder einzelnen im Roman wiedergegebenen zwischengeschlechtlichen Beziehung deutlich und lässt sich schlicht als asymmetrische Machtverhältnisse in einer androzentristischen Organisation (und Gesellschaft!) subsumieren. Ausgeufert und durchexerziert an einem ekelhaften, aber doch wenig schockierenden Beispiel.

 

Angefangen vom US-amerikanischen Botschafter, der “NULL CREEPY” (S.11) ist, zu Tinder-Dates Marke Love-Island, bei denen man schon nach 20 Sekunden am liebsten Storno drücken würde, sich aber nicht traut. Zum Freund, der sich am Ende doch fragt, ob da nicht vielleicht etwas mehr als Freundschaft in der Luft liegt. Hin zum Chefredakteur, der die Angst vor dem übergriffigen Ex wittert und sie beschützt. Der strahlende Retter, der zum ersten Mal den Wert, das Potenzial in ihr sieht. All diese Männerfiguren drücken eines aus:
Du bist das Objekt. Sie sind Subjekte.

 

Da müssen sich die Frauen auch nicht wundern

 

Und um ehrlich zu sein, mich wundert das alles gar nicht. Mich wundert allenfalls, dass sich Leute TATSÄCHLICH noch fragen, wozu man denn immer noch gleichstellungsfördernde Maßnahmen braucht oder warum es wichtig ist, über sexualisierte Diskriminierung in Organisationsstrukturen zu sprechen oder warum in Gottes Namen denn Betroffene nicht aussagen wollen (lügen die vielleicht etwa doch!?!). Ob nun Fiktion oder Realität, in Wahrheit ist es doch so: Wenn du als FINTA-Person belästigt wirst, kannst du dir aber sowas von sicher sein, dass du am Ende vor einem riesig großen Scherbenhaufen stehst, der dein Leben ist. Ganz egal, ob man dir glaubt oder nicht. Da muss sich nun wirklich gar keiner mehr wundern.

 

Mein Eindruck:

 

Ich habe lange auf das Buch gewartet, ohne konkret zu wissen, auf was ich da eigentliche warte. Am Erscheinungstag stand ich pünktlich um 9 Uhr bei meiner Buchhandlung des Vertrauens (Buchhandlung Scharfe) auf der Matte und habe es dann im Ganzen innerhalb von drei Tagen ohne großartiges Verdauen, einfach gleich rein, kurzes Hinterherspülen, ganz klar, gute alte Binge-eating Strategie, verschlungen.

 

Deshalb möchte ich gar nicht mehr groß auf den Inhalt und meine ganz privat-persönlichen Analysen der Figuren und gesellschaftlichen Fragen eingehen. Denn – und jetzt ist es raus – was mich zum Stucki-Fangirl macht, ist seine hemmungslose Liebe für Sprache. Und zwar nicht die verbissene, klinisch reine Sprache, sondern jene mit vielerlei Windungen, Neuerfindungen, Härte und ästhetischer Grausamkeit. Allein die schreienden CAPITAL LETTERS bringen mich so nah an emotionale Belastungsmomente, dass ich mich kurz von dem ganzen Lärm ausruhen muss, um dann doch wieder weiterzulesen.

 

“Noch wach?” ist ein brillanter Roman, den man ruhig einmal, aber sicherheitshalber gleich zwei-drei Mal Kapitelweise lesen und vor allem bitte-bitte im Freund*innen- und Bekannten- und Familienkreis diskutieren sollte.

 

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Lesbarkeit

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Nicht mehr weglegen wollen

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Layout

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Weiterempfehlung

 

“Noch wach?” erschien beim Verlag Kiepenheuer und Witsch und ist überall erhältlich, wo es Bücher gibt, für 25 € (Taschenbuch), 19,99 € (eBook) oder 22,99 € (Hörbuch). Es umfasst 373 Seiten.

 

Geld regiert die Welt – aber wie?

In den vergangenen Tagen eröffneten die Entwicklungspolitischen Tage in Greifswald mit vielen informativen und praktischen Veranstaltungen interessante Perspektiven auf die Themen Geld, Marktwirtschaft und Kapitalismus. Da sich diese nun ihrem Ende (13. November) nähern, blicken wir noch einmal auf zwei der bisherigen Veranstaltungen zurück, die sich der Problematik kaum unterschiedlicher nähern könnten.

Vortrag “Welt Macht Geld” von Georg Zoche im Koeppenhaus

In seinem Vortrag zu “Welt Macht Geld” präsentierte Georg Zoche im prall gefüllten Vortragssaal des Koeppenhauses die Ergebnisse seiner Recherche zur Finanzkrise und der modernen Anatomie des Geldes. Nach einer kurzen Einführung zu  grundsätzlichen Aspekten von Geld, beispielsweise seiner allgemein-notwendigen, gesetzlichen Anerkennung und seiner Arbitrarität, kehrte er zum eigentlichen Gegenstand seiner Untersuchungen zurück: dem Dollar.

Georg Zoche bei der Einführung ins Thema

Dieser prägte in wesentlichem Maße den Verlauf der Weltgeschichte seit Ende des Zweiten Weltkrieges. So wurden viele bedeutende, historische Ereignisse wie der Wiederaufbau Europas nach dem Zweiten Weltkrieg, das Amerikanische Mondfahrtprogramm oder der Kalte Krieg durch die USA und somit den Dollar finanziert, jedoch nicht ohne weitreichende Konsequenzen für die Weltwirtschaft. Ausgehend von einer umfangreichen und anschaulichen Darstellung der zur jüngsten Finanzkrise führenden Kausalitätskette, beginnend beim Platzen der “Dot-Com-Blase” im Jahr 2000, diagnostizierte Zoche die Morbidität des Dollars, d. h. seinen historischen Verfall und seine Krisenanfälligkeit, und die mangelnde Zukunftsfähigkeit des Dollars als Weltleitwährung.

Doch wie kam es überhaupt zur Vormachtstellung des Dollars? Indem die USA die Dokumente der internationalen Währungskonferenz von Bretton Woods im Juli 1944 zu Gunsten ihrer eigenen Währung fälschten, führten sie den Dollar als Weltleitwährung ein und wurden so zur Supermacht des 20. Jahrhunderts. Mittlerweile hat sich auch am Dollar das Triffin-Dilemma bewährt, das unmittelbar daraus resultiert, dass Nationalwährungen zu Weltleitwährungen werden,  und die Frage stellt sich, wie eine zukünftige Finanzordnung ohne eine nationale Weltleitwährung aussehen kann. Dieses Szenario könne durch das Finanzmodell des britischen Wirtschaftswissenschaftlers John Maynard Keynes erfolgreich gestaltet werden. Dieses, von einer übergeordneten Währung und einer Art Gütertauschwirtschaft geleitete Modell, stellte Zoche ebenfalls sehr anschaulich und nachvollziehbar dar. In der abschließenden Diskussion wurden unter reger Beteiligung der Zuhörer mögliche Zukunftsszenarien und die Durchführbarkeit, beziehungsweise Einführbarkeit des BANCOR-Modells besprochen.

Wer genaueres über die Argumentationen und Rechercheergebnisse Georg Zoches erfahren möchte, kann sich das Buch “Welt Macht Geld” entweder kaufen, auf der website weltmachtgeld.de lesen, oder sich den kompletten Vortrag auf youtube anschauen.

Lange Nacht der Geldgeschichten im St. Spiritus

Brockoli statt Gold, ein Modell mit Zukunft?

Weniger theoretisch ging es bei der Langen Nacht der Geldgeschichten zu. Anstatt die theoretischen Grundlagen und Problemstellungen des Geldes zu erörtern, stellten die Veranstalter die zwischenmenschlichen Aspekte und die moderne, alltägliche Bedeutung des Geldes in den Mittelpunkt ihres Programmes.

Clevere Kurzfilme, Lesungen und musikalische Einlagen regten hier die Besucher teils amüsant, teils melancholisch dazu an, ihr persönliches Verhältnis zu Geld und dessen Wertschätzung als Wert an sich zu reflektieren. Lesungen aus Björn Bickers Buch “Illegal. Wir sind viele. Wir sind da.” oder Heinrich Bölls “Anekdote zur Senkung der Arbeitsmoral” verbanden das Hauptthema mühelos mit seinen eng verwandten Begriffen Arbeit und Leben. Ein informativer Beitrag zum Nachlasswerk “Wege aus dem Kapitalismus” des französisch-österreichischen Sozialphilosophen Andre Gorz eröffnete schließlich doch noch einen theoretischen Ausblick auf das Hamsterrad des Kapitalismus.

Zwischen den einzelnen knapp 30-minütigen Programmblöcken bot sich Zeit und Möglichkeit, die verschiedenen aufgebauten Stände im St. Spiritus abzuwandern. Neben einem Kaffeestand, an dem man sich sein Getränk lediglich mit Wasserkocher und Herdplatte zubereitet, genehmigen konnte, stellten unter anderem internationale Hilforganisationen Informationsmaterial zu den angesprochenen Themen aus und bot der Weltladen des St. Spiritus seine Fair-Trade-Waren an. Darüber hinaus konnten Interessierte an der “Druckbar” Geld drucken, das sie mit individuellen Dingen, zum Beispiel Zeit oder auch Brokkoli, als Alternative zur lange gängigen Praxis, Geld mit Gold zu “versichern”, decken konnten.

Fazit

Sowohl der Vortrag von Georg Zoche, als auch die Lange Nacht der Geldgeschichten erfreuten sich hoher Beliebtheit, die sich nicht nur in vollen Veranstaltungsorten, sondern auch in lebhaften und angeregten Diskussionen rund um Geld, Wirtschaft und Leben äußerten. Es bleibt zu hoffen, dass die Veranstaltungen bei vielen Besuchern Interesse und vielleicht auch Empörung geweckt haben, die in weitere Beschäftigung mit solch globalen Themen resultieren und die Diskussionen am Leben halten. All jenen, die sich bisher zu keiner Veranstaltung durchringen konnten, sei ein Besuch der restlichen Veranstaltungen nahe gelegt, da auch die Themen der Entwicklungspolitischen Tage einen selbst direkter betreffen als man meint und teilweise wahrhaben möchte.

Fotos: Felix Kremser

Entwicklungspolitische Tage: Veranstaltungen im Überblick

Ankündigungen von Felix Kremser und Christine Fratzke

Wie bereits erwähnt, beginnen diese Woche die zehnten Entwicklungspolitischen Tage Mecklenburg Vorpommerns in Greifswald. Aus diesem Anlass geben wir euch einen Überblick über einige Veranstaltungen dieser Woche und stellen diese etwas genauer vor:

Menschenwürde mit Rabatt – über dieses Thema informiert ein Vortrag am Donnerstag, dem 4. November, im Lutherhof in der Bahnhofstraße 48/49. Dabei wird es vorrangig um das Asylbewerberleistungsgesetz gehen und was man eigentlich dagegen tun kann. Ab 20 Uhr trägt Anja Matz vom Psychosozialen Zentrum für Migranten in Vorpommern über die Thematik vor, danach darf diskutiert werden. Der Eintritt ist frei.

In seinem Buch "Welt Macht Geld" analysiert Georg Zoche die modernen Strukturen des Geldes und erklärt, wie es zur Finanzkrise kommen konnte.

Das Literaturzentrum Vorpommern lädt am Freitag, dem 5. November um 20 Uhr zur Lesung Georg Zoches aus seinem Buch “Welt Macht Geld” ins Koeppenhaus ein. In seinem Buch setzt sich Georg Zoche nicht nur mit den fundamentalen Fragen “Was ist Geld, wo kommt es eigentlich her, und wer macht es?” auseinander, sondern klärt auf, wie Ereignisse wie die jüngste Finanzkrise 2009 geschehen konnten, welche Bedeutung sie haben und analysiert die Machtstrukturen des Geldes im 21. Jahrunhudert, in der Absicht ein neues Verständnis von Geld zu vermitteln, das auch internationale Politik und Kriege miteinbezieht. Den Hintergrund seines Werkes bilden jahrelange Recherchen unter anderem von bisher unveröffentlichten Protokollen der amerikanischen Zentralbank. Der Eintritt beträgt ermäßigt 3 und regulär 5 Euro.

Am Samstag, dem 6. November beginnt im soziokulturellen Begegnungszentrum St. Spiritus ab 19.30 Uhr die Lange Nacht der Geldgeschichten. Geldgeschichten, das sind nicht nur Episoden der Geschichte des Geldes, sondern auch persönliche Erfahrungen und Erlebnisse im Umgang mit Geld, die von verschiedenen Künstlern in ihren Medien aufgearbeitet wurden. So werden an diesem Abend Kurzfilme und literarische Episoden rund um die Erfahrungen der Autoren mit Geld gezeigt und gelesen. Und wer einmal einen Tapetenwechsel braucht oder sich die Füße vertreten möchte, dem bieten Ausstellungen oder der Markt der Möglichkeiten vielfache Anlaufpunkte, sich individueller mit dem Thema Geld auseinanderzusetzen. Der Eintritt kostet 3 Euro.

Bilder: Geldstücke – Jennifer Serabian via jugendfotos.de