Neue-Nordische-Novellen„Es regt mich auf, in dieses Loch zurückkehren zu müssen, wenn ich doch schon einmal von dort weggekommen bin. Vom Arsch der Welt, da komme ich her. Vom Arsch der Welt. Eigentlich heißt das Kaff Pahkapuro und dort gibt es nichts. Wir haben einen Tante-Emma-Laden und eine Tankstelle mit Gaststätte. Das ist alles.“ – Bussimatka – in der Deutschen Übersetzung „Die Busreise“ ist eine der insgesamt 29 Erzählungen, die in der 4. Ausgabe der Anthologie „Neue Nordische Novellen“ zusammengefasst worden und beim Queich-Verlag erschienen sind.

Mit der neuesten Ausgabe stößt die gleichnamige literaturbegeisterte Initiative qualitativ im Vergleich zu den vorangegangenen Ausgaben neue Sphären vor. Übersetzt wurden die Texte von Studierenden der Universität Greifswald. Aber nicht nur der Einband, auch die Unterteilung der einzelnen Kapitel und nicht zuletzt die jeder Geschichte beigefügten Grafiken zeugen von einer liebevollen Bearbeitung, von dem Streben nach Perfektion in mühseliger Kleinarbeit. Illustrationen und Gestaltung stammen ebenso von Greifswalder Studenten, die am Caspar-David-Friedrich Institut studieren. Dieser positive Eindruck setzte sich schließlich bei der Vorstellung des Bandes am 7. Mai während des „Nordischen Klangs“ im Koeppenhaus fort. Umrahmt wurden die Erzählungen vom musikalischen Programm des Institutschores der Skandinavistik und Fennistik sowie vom Chyrillisch-Chor, der in der Slawistik angesiedelt ist. Zwischendurch wurden Süßigkeiten aus den einzelnen Nationen durch die Reihen der etwas mehr als 100 Anwesenden gereicht.

Verwandtschaft zur Neuen Sachlichkeit?

Vorstellung der Neuen Nordischen Novellen im Koeppenhaus.

Vorstellung der Neuen Nordischen Novellen im Koeppenhaus.

Die Auswahl der Geschichten ist nicht nur im Hinblick auf die Vielfalt der bearbeiteten Themen, sondern vor allem auch im Hinblick auf die sehr unterschiedlichen Schreibstile sehr abwechslungsreich. So erscheint Jaroslav Melnikas „Auf dem Weg“ als sprachlich-stilistisches, wie auch inhaltlich kontrastierendes Gegenüber zu Mikko Rimminens „Zuverlässig wie ein Zugklo“.

„Auf dem Weg“ mit seinem nüchtern-melancholischen Schreibstil, der an das unentwegte Wandern durch schier dichten Nebel erinnert, ist aus mehrerlei Hinsicht interessant. Einerseits scheint sich der Autor einem in letzter Zeit in Ostmittel- und Osteuropa stärker verbreitenden nüchternen Stil zu verpflichten, der zugleich, wenn er in deutscher Übersetzung gelesen wird, eine gewisse Verwandtschaft mit dem Stil der Neuen Sachlichkeit aufzuweisen scheint. Andererseits erinnern Aufbau und Handlung der Geschichte entfernt an Franz Kafkas „Das Schloss“.

„Zuverlässig wie ein Zugklo“ hingegen ist eine mit viel Witz und Liebe ausgestalteten Erzählung. Durch einen Wechsel aus derber Sprache und unerwarteten Wendungen sowie witzigen Momenten gleicht es einer Busfahrt. Dabei wirkt der rohe Sprachgebrauch weitaus weniger derb, als es das Schriftbild darstellt; ist er doch oft entweder Teil ironischer Pointe oder stellt im Wesentlichen ein – ebenfalls ironisches – Spiel mit den Klischees über Finnland dar.

Am Ende lassen sich nicht alle, aber doch zumindest die beiden genannten Geschichten mit einem Wort so charakterisieren, wie die finnische Sprache in nicht wenigen Ohren hierzulande bisweilen klingen mag: niedlich. Denn mal ehrlich, wer von uns denkt – wenn er kein Finnisch kann – bei Bussimatka an so etwas liebloses wie eine Busfahrt?! Die finnischen Erzählungen zeichnen sich dadurch aus, dass das, worüber sie erzählen, im Wesentlichen recht unspektakulär ist. Doch gerade das Unspektakuläre wird mit sehr viel Liebe zum Detail ausgeführt, teilweise auch mit einem Schalk im Nacken ausgeführt, sodass man von Alltäglichem in den Bann gezogen wird.

Lettland lädt zum Grübeln ein

Durch einen philosophisch-allegorischen Charakter besticht wiederum die estnische Novelle „Wenn Herman blüht“ von Mehis Heinsaar. Die Erzählung eines grauen Mannes, dessen Leben und Liebe grau ist, der sich unvermittelt jedes Jahr in einen Reisenden nach Frankreich als Mann von Welt verwandelt, lädt zum endlosen Grübeln ein. Wann verwandelt er sich? Und was haben diese Kinder zu bedeuten? Warum dieser plötzliche Ausbruch in eine andere Welt?

Der Chyrillisch-Chor während der Buchvorstellung.

Der Chyrillisch-Chor während der Buchvorstellung.

„Die Mehrheit der Herren begreift dann und wartet in der Passage gegenüber, bis ich Feierabend habe – unter dem Vorwand, mir die Stecknadeln zurückgeben zu wollen. Wenn sie amüsant sind, dann erlaube ich, dass sie auch nachts dann stechen – falls ihr wisst, wie ich das meine.“ – Wie man den Zeilen entnehmen kann, scheint die Protagonistin in Vratislaw Manaks Erzählung „Wie weit ist es bis Buenos Aires?“ jedenfalls keine Kostverächterin zu sein. Die Erzählung beschreibt eine recht lebensfroh-abenteuerlustige (man beachte das Zitat) Schneiderin, die in einer Boutique einer tschechischen Stadt ihr Brot verdient und erzählt, wie sie einen Mann, der sie besonders faszinierte, kennenlernte. Nicht nur im Hinblick auf Sprache, Stil und Handlung tanzt die Erzählung ein bisschen aus der Reihe. Manak ist der einzige Autor, der sich in dieser Anthologie wiederfindet, der nichts mit der Ostsee oder dem Norden Europas zu tun hat. Er kommt aus Tschechien. Am Ende passt es aber doch irgendwie. Denn wer von Bratislava oder Wien per Bahn nach Skandinavien will, wird um den Eurocity von Prag nach Binz wohl schwer herumkommen. Tschechien liegt so gesehen „Auf dem Weg“ und passt damit ganz zutreffend in den Abschnitt dieses Bandes.

Anthologie weckt Reisefieber

Unter dem Assortiment ist mit „Balthazaar“ auch eine Kindergeschichte zu finden, die von der engen Treue und Zuneigung eines Kindes, das in der Illustration von Anne Wende als Mädchen dargestellt wird, zu ihrem Hund erzählt. Eine komplette Besprechung der einzelnen Erzählungen ist aufgrund der Fülle und Vielfalt der Auswahl letztendlich schwer möglich, sodass man es bei einem Schlusssatz an dieser Stelle belassen sollte: Die vierte Ausgabe der „Neuen Nordischen Novellen“ laden zu einer abwechslungsreich-schillernden Reise (nicht nur) durch die skandinavische Halbinsel und das Baltikum ein, sie weckt beim Lesen nicht zuletzt die Lust, sich einmal wieder auf den Weg zu machen. Nach Skandinavien. Oder vielleicht auch nach Buenos Aires.

Yvonne Bindrim (Hrsg.): Auf dem Weg. Neue Nordische Novellen 04
Queich, ISBN 978-3-939207-23-8. € 16,90
Verlagsseite

Fotos: Marco Wagner