Nur gucken, nicht anfassen
Das Pommersche Landesmuseum zeigt Fotografien des bekannten Aktfotografen Günter Rössler. Die Greifswalder Ausstellung zeigt, neben einer Auswahl der besonders durch die Veröffentlichung im „Magazin“ bekannt gewordenen Aktaufnahmen Günter Rösslers, erstmalig auch die in den Ateliers entstandenen Fotografien und stellt diese in einen Kontext mit den Malereien, Zeichnungen und Grafiken von Otto Niemeyer-Holstein und Susanne Kandt-Horn.
Frage an die älteren Semester: Kann sich noch jemand an die H&M-Werbekampagne mit Anna Nicole Smith erinnern? Im Jahre 1993 heuerte die schwedische Modemanufaktur das texanische Molligmodel an, um für eine neue Unterwäschekollektion zu trommeln. Die Kampagne erlangte bald Kultstatus, weil die Werbeplakate nie lange an ihrem Bestimmungsort hängen blieben.
Fetischisten und sonstige Fans klauten die Bilder in dermaßen rauen Mengen, dass irgendwann sogar die sogenannten seriösen Medien darüber berichteten. Ich konnte das damals gewissermaßen live miterleben, denn auch für die Reklame an meiner Stamm-Straßenbahnhaltestelle galt das Wort „Heute dort, morgen fort“. Selbst in meinem Bekanntenkreis entpuppte sich ein eingefleischter Punkrocker als erotisierter Posterräuber.
Am Ende hatten alle was davon. H&M freute sich über Rekordumsätze, die Bilderstürmer freuten sich über ein Schlafzimmerbild und Anna Nicole Smith freute sich des Lebens. Ihre Modelkarriere startete durch, sie spielte in einigen Filmen mit („Die nackte Kanone 33 1/3″) und heiratete dann, unübertroffen cool, mit 26 einen 89-jährigen Öl-Milliardär, der ein Jahr später das Zeitliche segnete. Danach bot ihr Leben nicht mehr allzuviel Anlass zur Freude. Doch das ist eine andere, betrüblichere Geschichte.
Jedenfalls wurde die Kampagne nicht zuletzt durch die Posterklauereien so erfolgreich. Allerdings verfügte H&M auch über ein hochmächtiges Budget und konnte den Verlust von ein paar Werbeplakaten vermutlich verschmerzen. Jetzt wiederholt sich die Geschichte ausgerechnet in Greifswald, zugegebenermaßen in kleineren Dimensionen.
Die geraubte Braut
Seit Mitte Oktober läuft im Pommerschen Landesmuseum die Ausstellung „nackt und natürlich“. Um die Öffentlichkeit wachzurütteln, musste dafür selbstredend Reklame gemacht werden. Litfasssäulen und Bushaltestellen wurden mit Postern beflaggt, dazu kamen drei strategisch günstig platzierte Werbebanner.
Ach, hatte ich erwähnt, dass es sich bei „nackt und natürlich“ um eine Aktausstellung handelt? Die Plakate zeigen also Frauen im Evaskostüm, auf den drei großen Werbebannern rekelt sich ein junges Ding namens Cornelia ganz nackt und natürlich auf einer Couch.
In der Greifswalder Bevölkerung stieß dies auf wohlwollendes Interesse, im Falle der Werbebanner uferte das Interesse leider etwas aus. Cornelia entwickelte sich nämlich zur ultimativen Wochenendbeute. Bereits kurz nach der Ausstellungseröffnung wurde ihr Banner von seinem prominenten Platz an der Europakreuzung weggeklaut.
Im Museum gab man sich angesichts dieses Verlustes noch relativ gelassen: „Toll finden wir das nicht, aber irgendwie hatten wir so was schon erwartet“, meinte eine Mitarbeiterin zum moritz. Zweifellos eine realistische Einschätzung der Lage. Samstagnacht? Europakreuzung? Bild mit nackter Frau? Ich meine, hey, auf der Europakreuzung nachts um halb eins habe sogar ich schon mal einen Besoffenen langgehen sehen.
Das mysteriöse Verschwinden von Cornelia 1 hätte man mithin noch als Schwund deklarieren können, doch bedauerlicherweise hieß es einige Wochen später „Oops, they did it again“. Direkt vor den Toren des Landesmuseums musste Cornelia 2 ihren bequemen Platz räumen. Mit zwei Unterschieden im Tathergang: Erstens war es Freitagnacht und zweitens ließen sich die Tölpel bei ihrem Tun filmen.
Sie hatten die Lage nicht realistisch eingeschätzt. Im Pommerschen Landesmuseum lagern überaus wertvolle Kunstschätze – dass das Gebäude da mit Überwachungskameras bestückt ist, hätte ein echter Meisterdieb sicher einkalkuliert. Wie Meisterdiebe sehen die Gestalten auf den Fotos dann auch nicht aus, eher wie, ähem, Studenten.
Die Museumsleitung reagierte ernsthaft angesäuert und brachte das Vergehen zur Anzeige. Verständlich, denn abgesehen von den 160 Euro, die laut Pressemitteilung so ein Banner kostet, hatten die Cornelias wunderbar ins Stadtbild gepasst und gewiss Besucher ins Museum gelockt.
Der Smith-Effekt
Positiver Aspekt der ganzen Affäre: Die Lokalpresse berichtete über die gemopsten Möpse und glich so den verlorengegangenen Werbeeffekt aus. Sogar die gute alte BILD nahm sich des Falles an, wie immer unnachahmlich: „Hier wird eine Nackte entführt!“ Das Museum vermeldete hohe Besucherzahlen. Ist da womöglich der Anna-Nicole-Smith-Effekt eingetreten?
In meinem Falle definitiv. Dass es in Greifswald ein nagelneues Landesmuseum gibt, hatte ich zwar durchaus registriert. Da sich mein Interesse an Kunst und Kultur aber hauptsächlich auf Punkrock und Bier beschränkt, besuche ich lieber konfliktäre Konzerte als anregende Ausstellungen. (Selbst wenn mir Einladungen zu Vernissagen ins Haus flattern, versuche ich mich davor zu drücken; dieses Gebaren kommentieren einige meiner teuersten Freunde regelmäßig mit Unmutsäußerungen.) Nun beschloss ich, animiert durch den Smith-Effekt, etwas für meine ausbaufähige Bildung zu tun und mir „nackt und natürlich“ anzuschauen.
Wer jetzt einen einhändig lesbaren Furor à la „Nackte Weiber, dicke Titten“ erwartet, der schäme sich. Es geht hier schließlich um KUNST, jawoll. Genauer gesagt um Aktaufnahmen des Leipziger Fotografen Günter Rössler und Bilder der Usedomer Maler Otto Niemeyer-Holstein, Susanne Kandt-Horn und Sabine Curio. Rössler war mir bereits ein Begriff, denn in der DDR besaß der gebürtige Leipziger veritablen Starstatus.
Als Einstieg in die Ausstellung läuft im kleinen Museumskino das Filmporträt „Beruf: Aktfotograf“, welches sich äußerst unterhaltsam gestaltet (auch weil Rössler Sachse ist). Seit 1951 als Fotograf tätig, reüssierte er mit Mode- und Werbaufnahmen und widmete sich in den 60er Jahren der Aktfotografie. Seine Modelle waren keine professionellen Models, sondern „normale“ Frauen.
(Normale Frauen? Klingt ja grauenhaft. Sinnvolleres will mir auf die Schnelle leider nicht einfallen. Unterbieten ist hingegen leicht: „Frauen von nebenan“? „Frauen von der Straße“? Schönen Gruß vom Milieu! Belassen wir es bei den normalen Frauen.)
Im Film legt Rössler auch dar, worauf es ihm bei einer Fotosession ankommt: auf eine gute Arbeitsatmosphäre und „gegenseitige Achtung“; übertriebenes Posing oder prollige Sex-Accessoires wie Strapse lehnt er ab. Die unverkrampfte Natürlichkeit seiner Aktbilder wurde zum Markenzeichen Rösslers und bescherte ihm internationale Anerkennung. Im Jahre 1984 erschien im FKK-Zentralorgan Playboy eine zehnseitige Fotostrecke mit seinen Aufnahmen („Mädchen aus der DDR“).
Die Rössler-Identität
Oft und gern wird Günter Rössler von der Presse als „Helmut Newton des Ostens“ tituliert, ihm selbst schmeckt diese Bezeichnung ganz und gar nicht. Sein Stil unterscheide sich ja nun wohl total von dem Newtons, mosert der Leipziger im Film und hat damit ziemlich recht. Klar, als Artikelüberschrift ist die Phrase schön griffig, dennoch sind diese beliebten
Vergleiche eigentlich immer Blödsinn. Nach dem gleichen Strickmuster kreierte man schon eine Romy Schneider des Ostens (Jenny Gröllmann), gleich zwei Rolling Stones des Ostens (wahlweise die Puhdys oder die ungarische Band Omega) und einen Sinatra des Ostens (Karel Gott, neuestens Duettpartner von Bushido, dem 50 Cent Deutschlands). Die doofe taz diffamierte den unlängst verstorbenen Lyriker Wolfgang Hilbig in ihrem Nachruf als „Charles Bukowski des Ostens“. Nebenbei: ich selbst wäre gern der Rockefeller des Ostens. Und wo steckt eigentlich die Halle Berry des Ostens? Bitte melde Dich!
Schluss mit dem Quatsch, zurück zur Ausstellung. Im Mittelpunkt stehen selbstredend die Aktaufnahmen Günter Rösslers, die besonders durch die Veröffentlichung in der Zeitschrift Das Magazin bekannt geworden sind. Um Nachgeborene und Westdeutsche aufzuklären, lassen wir kurz Wikipedia zu Wort kommen: „Das Magazin ist eine anspruchsvolle Unterhaltungszeitschrift mit den Schwerpunkten Kultur und Lebensart, die hauptsächlich in Ostdeutschland bekannt ist. Die regelmäßig eingestellten erotischen Geschichten und künstlerischen Aktfotografien waren unter den DDR-Printmedien einmalig.“
Danke, Wikipedia, wegen des heranstürmenden Abgabetermins für diesen Artikel hatte es mir schon in den Fingern gejuckt, einfach „Playboy des Ostens“ zu schreiben. Übrigens schließt sich in der aktuellen Ausgabe des Magazins der Kreis, denn dort wird über – Ta-daa! – Günter Rössler und die Greifswalder Ausstellung berichtet.
Das andere Kernthema von „nackt und natürlich“ ist die Künstlerfreundschaft zwischen Günter Rössler und den Usedomer Malern. 1974 besuchte Rössler die in Ückeritz arbeitende Susanne Kandt-Horn und den in Lüttenort wirkenden Otto Niemeyer-Holstein. In ihren Ateliers entstanden einige Fotoaufnahmen, die im Kontext mit den Bildern von ONH und SKH jetzt erstmalig ausgestellt werden. Manche Fotografien wirken wie „reale“ Abbilder der Gemälde, dasselbe Modell, dieselbe Perspektive.
Da „nackt und natürlich“ entschieden Lust auf mehr macht, bietet es sich an, bei der Gelegenheit gleich noch den „Rest“ des Museums zu inspizieren. In der Gemäldegalerie treffe ich Caspar David Friedrich, Vincent van Gogh und eine gutaussehende Germanistikstudentin. Letztere empfiehlt mir wärmstens die große Dauerausstellung zur Pommerschen Landesgeschichte.
Also hin; kaum drin, nagt an mir bereits das schlechte Gewissen ob meiner bisherigen Museumsabstinenz. 14.000 Jahre tun sich dort auf: wunderliche Exponate, ein einheimischer Dinosaurier, der berühmte Croy-Teppich, das Ganze aufgelockert durch Filmsequenzen – hätte man sich alles schon viel früher anschauen können. Der Dinosaurier wurde übrigens 1963 bei Grimmen ausgegraben und auf den Namen Emausaurus getauft. (EMAUsaurus! Gecheckt?)
Konstatiere: Ausstellung gelungen, Museum ebenfalls, Besuch empfohlen. Und bitte, liebe Studenten, lasst die langen Finger wenigstens von Cornelia 3. Lüstern flattert sie in luftiger Höhe im Schuhhagen – ihr Banner verbindet zwei Hausdächer, darunter klafft der Abgrund. Bei einem womöglich noch vom Alkohol befeuerten Raubversuch könnte man sich leicht alle Knochen brechen. Ohnehin ist das schönste Rössler-Modell nicht Cornelia, sondern Heidrun – drum ziert ihr Bild unser Feuilleton-Cover.
Ein Artikel vonNorman Gorek