Adventskalender Türchen 15: webmoritz.-Weihnachtsgeschichte Teil 2

Adventskalender Türchen 15: webmoritz.-Weihnachtsgeschichte Teil 2

Heute geht es weiter mit der Weihnachtsgeschichte rund um den Bäckermeister. Den ersten Teil findet ihr hier.

Der Traum verfolgte ihn den ganzen Tag lang. Immer wieder dachte er darüber nach. War es wirklich seine Schuld, dass diese Menschen so litten? Vielleicht hätte es ihnen etwas gebracht, wenn er einige von ihnen angestellt hätte. Und vielleicht wäre es auch für ihn eine Stütze gewesen… Aber es war nun einmal so, dass der Bäcker keine anderen Menschen um sich haben wollte. Es reichte ihm schon, jeden Tag während der Öffnungszeiten die Geschichten der Menschen anhören zu müssen. Diese Qual wollte er nicht auch noch am Abend und in den frühen Morgenstunden erleiden. 
Vielen seiner Kunden und Kundinnen fiel auf, dass er heute nachdenklich war. Einige fragten sogar nach, ob ihm nicht gut sei. Darauf schnaubte der Bäcker nur. Er war froh den Laden nach diesem zähen Tag zu schließen. Immerhin hatte er heute viel verkauft, war doch am nächsten Tag das Nikolausfest. Familien kamen, um Kekse zu kaufen, die sie dann mit einem Glas Milch für den Nikolaus bereitstellen konnten. 
Gerade als der Bäcker die Tür schließen wollte, stieg das kleine Mädchen die Treppen nach oben. Sie war wieder sehr blass, aber nicht so dreckig wie den Tag zuvor. „Guten Abend, mein Herr,“ sagte sie mit einem kleinen Lächeln auf den Lippen. „Ich nehme an, die Aufgaben von heute sind wieder die gleichen wie gestern?“ Der Bäcker nickte und schweigend machten sie sich an ihre jeweiligen Arbeiten. Der Bäcker buk und das Mädchen wusch das Geschirr und auch sich selbst.
Als sie zu der Auslage ging, kam der Bäcker aus seiner Backstube hervor. 
„Wenn du morgen wieder kommst, kannst du heute so viel Gebäcke mitnehmen wie du tragen kannst. Du darfst dir auch einen der Kartons nehmen, wenn du willst.“ Er deutete auf die Kartons in denen er die Kuchen und Torten normalerweise einpackte. 
Das Mädchen runzelte die Stirn. „Ich habe gehört, dass sie nicht gerne mit anderen Menschen arbeiten, mein Herr.“ 
„Ja und?“
„Nun, ich verstehe nicht. Ihr Angebot kam ohne dass ich Sie gefragt habe, ob ich etwas mitnehmen kann. Und Sie möchten auch, dass ich morgen wieder komme und hier arbeite. Warum?“ 
Er zuckte mit den Schulter. Ohne auf ihre Frage zu antworten, ging er zurück zu seinem Ofen. Doch während das Mädchen ihren Karton belud mit feinsten Backwaren, dachte er über ihre Frage nach. Konnte es sein, dass er es doch ganz schön fand nicht alleine zu sein? Nun gewiss, das Mädchen redete kaum, was dem Bäcker gut gefiel. Hatte er doch wenig Interesse an Plaudereien. Und er konnte auch nach den langen Tagen früher ins Bett gehen, als wenn er alles alleine machen würde. 
Das Glöckchen an der Tür signalisierte, dass das Mädchen sich auf den Heimweg machte. Er hörte wie sie ihm einen Abschiedsgruß zurief. 
„Warte kurz,“ rief er zurück. Das Mädchen schaute ihn verwundert an, als er auf sie zukam. In der Hand hielt er einige Wolldecken, welche er auf ihren Karton legte. „Nimm die mit. Heute Nacht soll es besonders kalt werden.“ 
Sie nickte. „Danke, mein Herr.“ Dann verließ sie den Laden und ließ ihn zurück. Er fragte sich, ob er nicht mehr hätte tun sollen. 

Auch in dieser Nacht träumte er. Doch diesmal sah er sich selbst als kleinen Jungen. Er saß mit seinen Eltern beim Abendessen. Warme Suppen waren in den tiefen Teller. Ansonsten herrschte eisiges Schweigen. Seine Eltern hatten immer wenig von ihrem Leben erzählt. Manchmal hatte er sich als Kind gewundert, ob die beiden sich überhaupt richtig gekannt hatten, so wenig wie sie mit einander sprachen. 
Sein jüngeres Ich blühte im Gegensatz zu seinen Eltern vor Freude. Seine Beine schwangen in der Luft und er hatte gerötete Wangen vor Vorfreude. „Wisst ihr was heute passiert ist? Wir haben heute Ball gespielt und dann ist…“
Seine Mutter unterbrach ihn abrupt: „Ball spielen bringt dir nichts für die Zukunft. Es ist auch nichts, was beim Abendessen oder sonst wann mitgeteilt werden muss. Es ist eine Nichtigkeit. Du solltest dich lieber mit deinen Schulaufgaben befassen, wenn du möchtest, dass irgendwann einmal etwas aus dir wird.“ Abfällig sah sie ihn an. Der Bäcker erinnerte sich. Er erinnerte sich, wie sehr ihm diese Situation damals einen Stich versetzt hatte. Er erinnerte sich nicht nur, er fühlte ihn auch. 
„Aber mein Freunde…“
„Du brauchst keine Freunde,“ erwidert sein Vater. „Wozu an irgendwelchen Menschen hängen, die einen am Ende nur am Erfolg hindern. Sentimentalitäten sind unnütz. Du musst lernen, Menschen gebrauchen zu können. Andere Menschen eignen sich manchmal zu gewissen Zwecken, aber abseits dieser, solltest du andere so weit es geht aus deinem Leben raushalten, wenn du nicht willst, dass sie dich aufhalten.“
Er erinnerte sich daran, dass seine Eltern ihm bald darauf verboten, seine Freunde zu treffen. Er solle sich auf die Schule konzentrieren und darauf, seine Fähigkeiten auszubauen, denn nur so würde er später Erfolg erfahren und nicht in Armut verfallen. So bestanden seine Tage irgendwann nur noch aus Schularbeiten und das Backen zu lernen. An den Abenden saß er schweigend mit seinen Eltern am Tisch, denn solange keiner von ihnen Erfolge erzielt hatte, wurde nicht geredet. Was einst für ihn unangenehm war, wurde zur Gewohnheit und zum Alltag. Bald merkte er, wie normale Alltagsgespräche begannen ihn zu ermüden. Sie hatten keinen Nutzen für ihn, also entzog er sich ihnen. Das merkten auch die anderen und sie wandten sich deshalb auch immer weiter von ihm ab. 
Die Erinnerung verschwamm und nun sah er, wie er seinen Abschluss machte. Er wurde für seine Leistungen ausgezeichnet. Stolz stand er auf der Bühne. Seine Eltern nickten ihm anerkennend zu. Einige andere klatschten, als der Schulrektor ihm seine Urkunde überreichte.
Doch als die Zeremonie vorbei war, fand er sich schweigend neben seinen Eltern wieder, während die anderen aus seiner Klasse feierten. Keiner beachtete ihn, nicht einmal sein ehemaliger guter Freund. Das erste Mal seit Jahren, erwischte er sich dabei, sich wieder nach Freundschaft und Nähe zu sehnen. Doch dann legte sein Vater eine Hand auf seine Schulter und er erinnerte sich daran, dass Erfolg wichtiger war. Gemeinsam verließen sie das Fest. Doch auch wenn es ihm damals nicht aufgefallen war, der Stolz und die aufrechte Haltung waren verflogen. 
Die Stimme des kleinen Mädchens erfüllte die Luft: „Du hast nie gelernt, wie wichtig Nähe und Wärme und Freundschaft eigentlich ist. Reichtum und Erfolg misst sich nicht an Geld. Unterstützung und Liebe ist das, was einen am Weitesten bringt. Sieh dir an, wie anders dein Leben wäre.“ 

Nächste Woche geht es weiter…

Beitragsbild von Vanessa Finsel


Zur Person der Autorin

Adventskalender Türchen 8: webmoritz.-Weihnachtsgeschichte Teil 1

Adventskalender Türchen 8: webmoritz.-Weihnachtsgeschichte Teil 1

Weihnachtsgeschichten haben mich mein ganzes Leben lang begleitet, sei es in Form von Büchern, Hörspielen oder Filmen. Dieses Jahr dachte ich mir dann: Ich kann mich doch auch mal dran versuchen, selber eine zu verfassen. Also habe ich die Mitglieder der moritz.medien gebeten, mir Stichwörter zu geben, auf deren Grundlage ich die Geschichte verfassen kann. Einmal die Stichwörter eingesammelt, ging es dann auch schon los. Doch während des Schreibens fiel mir auf, dass die Geschichte immer länger und länger wurde. Deshalb bekommt ihr an diesem Adventssonntag den ersten Teil der Geschichte und am dritten Advent geht es dann weiter.

Der Geruch von frisch gebackenem Sauerteigbrot erfüllt das Wohnzimmer der Familie Clausen. Sie sitzen wie jedes Jahr am vierten Adventssonntag zusammen vor dem Kamin und essen Oma Clausens Zimtschnecken. Während am Vormittag noch großes Getümmel im Haus herrschte, – Oma hat in der Küche gebacken, Mama Clausen hat die letzten Kugeln an den Weihnachtsbaum gehangen und Papa Clausen hat die heruntergefallenen Tannennadeln aufgesammelt – ist nun Gemütlichkeit und Ruhe eingezogen. Die dampfenden Teetassen in der Hand, warten alle gespannt auf Opa Clausens traditionelle Weihnachtsgeschichte. Jedes Jahr denkt er sich eine Neue aus, die er seiner geliebten Familie erzählt, um sie auf das kommende Weihnachtsfest einzustimmen und daran zu erinnern, um was es bei Weihnachten eigentlich geht. 
„Also, meine Lieben, dann wollen wir mal anfangen“, sagt er mit seiner tiefen Stimme. Und dann beginnt er zu erzählen…

Einst lebte ein Bäckermeister in einer kleinen Stadt. Er war einer der Besten im ganzen Land. Er buk und buk. Vor allem in der Vorweihnachtszeit blieb der Ofen nie aus. Tag und Nacht buk er die leckersten Leckereien: Pfeffernüsse, Vanillekipferl, Christstollen, Plätzen und auch Lebkuchen. Während seiner Öffnungszeiten füllte der Trubel seinen Laden. Kundinnen über Kunden kamen während der Adventszeit an seinen Tresen. Sei es der gestresste Familienvater, der nach der Arbeit noch ein paar Plätzchen für seine Kinder mitbrachte, sei es der junge Mann, der mit einem Lebkuchenherz das Herz einer jungen Dame gewinnen wollte oder die alte Frau, die ihren Mann mit einem frischen Christstollen überraschen wollte. Der Bäckermeister hörte allerlei ihrer Geschichten, obwohl er kein Interesse am Leben seiner Kundschaft hatte. Doch wenn er etwas verkaufen wollte, musste er nicht nur Interesse bei den Kund*innen wecken, sondern auch Interesse an ihnen vorgeben.  

Doch abends, nachdem die letzte Person den Laden verlassen hatte und die Tür hinter sich zuzog, hatte der Bäckermeister seine geliebte Ruhe zurück. Er hatte keine Familie mehr. Seine Eltern waren bereits verstorben, Geschwister hatte er nicht und ihm blieb einfach keine Zeit, um eine Beziehung oder Freundschaften zu pflegen. Der Erfolg seines Ladens und somit sein eigener Erfolg waren ihm viel wichtiger als andere Menschen. Sie würden ihn doch nur mit ihren Problemen und Ansprüchen von der Arbeit abhalten oder auch seinen Gewinn schmälern.
So verbrachte er die Zeit in seiner Backstube und buk und buk und buk. Er brauchte keine Personen, die im nahe stehen oder sich sogar in sein Leben einmischen würden. Es reichte ihm, Bäcker zu sein. Mehr brauchte er nicht. 

Drei Tage vor dem Nikolausfest war er gerade dabei ein neues Lebkuchenpaar zu verzieren, als das kleine Glöckchen an seiner Ladentür klingelte. Merkwürdig, dachte er. Hatte er doch den Laden schon vor Stunden geschlossen. Vorsichtig schaute er um die Ecke in seinen Verkaufsraum. Da war niemand. 
Verwirrt ging er zurück in seine Backstube. Er nahm seine Werkzeuge, die er zum Verzieren des Lebkuchenmannes brauchte und wollte gerade weitermachen, als ihm auffiel, dass die Lebkuchenfrau nicht mehr dort lag, wo er sie platziert hatte. Aber wie kann das sein? Sie war doch gerade noch da!
Ein Rascheln ließ ihn aufhorchen. Dort hinter dem Vorhang, in der kleinen Nische in der er seine Zutaten aufbewahrte, da war etwas. Was kann das nur sein? Eine Maus, eine Ratte… „Eine Diebin!“, schrie er auf.
Hinter dem Vorhang hockte ein Mädchen. Ein schmutziges Mädchen. Ihre Haare hingen strähnig von ihrem Kopf hinab, ihre Kleidung war dreckig, sie trug keine Schuhe und in der Hand hielt sie: seine Lebkuchenfrau, beziehungsweise das, was noch von ihr übrig war. Das war nunmehr nur noch ein Bein und ein Arm. Krümel hingen an dem Mund des Mädchens. „Das wirst du mir bezahlen müssen!“, schimpfte der Bäckermeister. Er war sehr wütend. Schätzte dieses Mädchen doch gar nicht die Arbeit, die darin steckte und die guten Zutaten? Nein, sie hat es sich einfach in ihren Mund gestopft, als wäre die Lebkuchenfrau billiges Essen!
„Ich habe aber kein Geld, Herr“, antwortete das Mädchen mit piepsiger Stimme. 
Der Bäckermeister schüttelte den Kopf. „Dann musst du es mir anders bezahlen, komme morgen Abend wieder, dann kannst du meine Schüsseln und Löffel waschen. Und nun geh.“ Er zeigte auf die Tür. Langsam stand das Mädchen auf und lief mit kleinen Schritten in Richtung der Tür. Ein kalter Windhauch zog in den Laden. Auf den Straßen lag bereits Schnee. Der Bäckermeister stieß das kleine Mädchen vor die Tür, ungeachtet dessen, dass sie gar keinen Schutz vor der eisigen Kälte hatte. Er ließ die Tür wieder in das Schloss fallen und drehte den Schlüssel um, damit nicht noch mehr Bälger in seinen Laden kämen. 
Vor sich hin brummelnd und murmelnd ging er zu Bette, kuschelte sich in seine warme Decke und fiel in einen tiefen traumlosen Schlaf.

Am nächsten Abend, nach einem langen, ertragreichen Verkaufstag, stand das Mädchen vor der Tür der Backstube. Vor sich hin brummend ließ der Bäckermeister sie hinein und führte sie zum Abwaschbecken. 
„Hier“, sagte er. „Du musst die Schüsseln, Löffel und Zangen abwaschen. Schön sauber bis alles glänzt. Und wenn du damit fertig bist, dann wischst du die Auslage sauber. Die übrigen Kekse und Kuchen kannst du in den Mülleimer in der Ecke werfen.“ Noch bevor das Mädchen antworten konnte, stapfte er zurück in seine Backstube und begann zu backen. 
Das Mädchen wusch die Schüsseln, Löffel und Zangen bis sie sich darin spiegeln konnte. Das warme Abwaschwasser fühlte sich gut an auf ihrer durchgefrorenen Haut. Und bevor sie sich an die Auslagen machte, nutzte sie die Möglichkeit und wusch ihr Gesicht und ihre Arme. Der Dreck der letzten Tage saß fest auf ihrer Haut. Danach ging sie in den Verkaufsraum. Viele, viele Kekse und Kuchen lagen noch in den Schaukästen. Ein leises Grummeln in ihrem Magen machte sich bemerkbar. 
„Mein Herr, das alles soll ich wegwerfen?“, fragte das Mädchen verwundert. 
Der Bäcker kam aus seiner Backstube. „Natürlich! Das kann ich morgen alles nicht mehr verkaufen, warum sollte ich es also behalten?“ 
„Mein Herr, könnten doch so viele Menschen noch davon essen, die sich sonst nicht leisten können, diese Gebäcke zu essen“, erwiderte das Mädchen. 
„Wer kein Geld für meine Backwaren hat, der hat es auch nicht verdient, sie zu essen. Nur weil die Menschen zu faul sind zu arbeiten und Geld zu verdienen, muss ich sie nicht dafür belohnen.“ Der Bäcker schnaubte abwertend. 
Das Mädchen erwiderte nichts. Die Worte des Bäckers trafen sie hart. So standen die beiden schweigend voreinander. Das einzige Geräusch, welches den Raum erfüllte, war das Knurren des Magens des kleinen Mädchens. 
Der Bäcker seufzte: „Wenn du morgen wieder kommst und wieder das Geschirr wäschst, dann kannst du dir etwas von den Gebäcken nehmen. Dieses Magenknurren ist ja nicht zum Aushalten.“ Damit ging der Bäcker zurück in seine Backstube. 
Das Mädchen nahm sich einen der großen Kekse und dann steckte sie sich noch ein paar der anderen Sachen in die Taschen, so viel sie tragen konnte. Nicht für sich selbst, sondern für ihre Freunde. Den Rest, auch wenn es ihr das Herz brach, warf sie in den Mülleimer.
Nachdem sie alles sauber gewischt hatte, verabschiedete sie sich beim Bäcker, der sie mit einem gehetzten „Ja, ja“ aus der Bäckerei scheuchte. 
Was das Mädchen nicht wusste, war, dass der Bäcker ihr diesmal nachsah, als sie zitternd in den Winterabend ging. Es war ihm aufgefallen, dass sie sich das Gesicht gewaschen hatte. Und ihre Wangen waren auch rötlich geworden, nachdem sie aufgewärmt war. Sie sah nicht mehr aus wie das kranke, schmutzige Mädchen am ersten Tag. Und auch ihre Arbeit hatte sie gut gemacht.
Als er sie nicht mehr sehen konnte, ging er ins Bett. Er schlief tief und fest, doch diesmal nicht traumlos: 

Er war in einem alten Schuppen, durch dessen Löcher in den Wänden der kalte Wind pfiff. Auf dem mit Stroh ausgelegten Boden saßen viele Menschen. Ihre Kleidung war zerrissen und alt. Sie alle sahen genauso bleich und schmutzig aus wie das kleine Mädchen. Viele von ihnen husteten, Babys schrien und einige von ihnen atmeten schwer.
Plötzlich huschte das kleine Mädchen an ihm vorbei. Sie sah so aus, wie sie seine Bäckerei verlassen hatte. Aus ihren Taschen zog sie Gebäckstücke und verteilte sie an die Menschen, welche sie wiederum zerbrachen und an andere weitergaben. 
„Mein Kind, woher bringst du uns diese Gaben?“, fragte eine alte Frau. 
„Von dem Bäckermeister aus der Stadt“, antwortete sie. „Er hat mir die Gebäcke gegeben und ich werde dafür sein Geschirr waschen.“ 
„Aber warum teilst du sie denn mit uns? Sie sind doch deine.“
„Ich hatte schon genug heute. Ihr braucht es doch dringender als ich. Noch bin ich nicht krank, noch kann ich arbeiten und euch helfen, die die’s nicht mehr können“, erwiderte das Mädchen mit ruhiger Stimme. „Und der Bäckermeister war so frei, mir dieses freundliche Angebot zu machen.“ 
Der Bäcker fühlte etwas Warmes in seiner Brust. So hatte lange niemand mehr über ihn geredet. 
„Freundlich?“, schnaubte ein anderer Mann. Der Bäckermeister kannte ihn. Er war einst ein Kollege von ihm in einer anderen Bäckerei. „Wir haben mal zusammengearbeitet. Er hat immer versucht, besser zu sein als alle anderen. Immer musste er herausstechen oder uns andere schlecht machen. Und dann, als er seinen eigenen Laden eröffnet hat, hat er uns komplett vergessen. Sein Geschäft wuchs, während unseres nicht mehr genügend Geld einnahm und viele von uns ihre Arbeit verloren haben. Wir flehten ihn an, uns bei sich aufzunehmen oder zumindest einige von uns, damit wir nicht in Armut verfallen, aber er wies uns alle ab. Wie du siehst, ging mir und meinen Liebsten bald das Geld aus. Egal, wie sehr wir es versuchten, alle wollten nur noch bei ihm die Gebäcke kaufen. Mittlerweile gibt es nur noch seine Bäckerei. Und da viele von uns schon zu alt waren, als dass uns andere Gewerbe eingestellt und angelernt hätten, sind wir nun hier…“ Der Mann legte einen Arm um die Frau neben sich. Vermutlich seine Ehefrau. Neben den beiden hockten zwei Kinder in alten Lumpen, die an den Keksen knabberten.
Der Bäckermeister schauderte. Er wusste nicht, dass es außer seiner, keine weiteren Bäckereien mehr gab. Hatte er sich doch nie wirklich dafür interessiert, was die anderen machten. Er wusste immer, dass er der Beste der Bäcker war und wollte deshalb nie, dass andere mit ihm arbeiteten. Was wäre, wenn ihr Einfluss die Gebäcke weniger gut schmecken ließe? Er würde Kundschaft und Einnahmen verlieren. Aber dass diese Menschen seinetwegen so litten, wollte er doch auch nicht…
„Du darfst nicht immer nur an dich selbst denken, sondern auch mal an andere“, sagte das kleine Mädchen plötzlich zu ihm. „Hilfe annehmen und anderen Leuten helfen kann nicht nur dein, sondern auch ihr Leben beeinflussen.“ 
Dann verschwamm der Traum und der Bäcker erwachte. 

Nächste Woche geht es weiter….

Beitragsbild: Vanessa Finsel


Zur Person der Autorin

Adventskalender Türchen 5: How to: Nachhaltigere Weihnachten

Adventskalender Türchen 5: How to: Nachhaltigere Weihnachten

Weihnachten ist nicht nur die Zeit der Besinnung, Familie und Liebe, sondern ist auch verbunden mit sehr viel Konsum. Das erkennt man alleine schon an der alljährlichen Überforderung der Postdienste: Geschenke werden bestellt, inklusive passender Geschenkverpackung, neue Deko wird gekauft, Adventskalender werden für jedes Familienmitglied besorgt. Das ist nicht nur viel Geld, was dabei ausgegeben wird, sondern auch jede Menge Müll, der produziert wird. Sei es die klassische Plastikeinlage im Schokoadventskalender, das Geschenkpapier, was nur gekauft wird, um dann wieder weggeschmissen zu werden oder die Weihnachtsmannfigur, die letztes Jahr noch toll war, doch jetzt nicht mehr in das Dekokonzept passt. Aber was kann man anders machen? Wie kann man vielleicht ein wenig mehr darauf achten, nicht ganz so verschwenderisch zu weihnachten? 

Geschenke, Geschenkverpackung, Geschenkpapier

Muss es denn immer das gekaufte Geschenkpapier sein? Statt dieser Einweg-Verpackungs-Strategie gibt es so viele andere Möglichkeiten. Zum einen kann man auf Geschenktüten und Geschenkboxen zurückgreifen. Diese kann der Beschenkte wieder verwenden, da sie – wenn man ordentlich mit ihnen umgeht – nicht kaputt gehen. Und statt die Boxen mit Klebestreifen zuzukleben, kann man auch einfach Schleifenband benutzen. Am besten macht man allerdings nur eine einfache Schleife, so kann sie einfach geöffnet werden und danach zusammengerollt und für das nächste Weihnachtsfest oder den nächsten Geburtstag weggepackt werden. 
Eine andere Alternative zum Geschenkpapier ist das gute alte Zeitungspapier. Sei es das Werbeprospekt aus dem Briefkasten, die Tageszeitung oder andere alte Zeitschriften, die ihr noch besitzt. Daraus lässt sich einfach und schnell Geschenkpapier machen. Meiner Meinung nach gibt es den Geschenken auch einen sehr coolen Look und mit roter Schleife ist es auch ganz schnell weihnachtlich. 


Eine tolle Alternative zur Geschenküberhäufung ist zum Beispiel Wichteln. Einfach im Familienkreis oder Freundeskreis losen, wer wen beschenkt. So ist es nur noch ein Geschenk, das zu besorgen ist und nicht mehr zehn. Es spart Geld, Zeit und Stress. Und behaltet bei der Geschenkebesorgung immer im Blick, was der*die zu Beschenkende auch wirklich gebrauchen kann. Nicht, dass noch der fünfzehnte Nussknacker in die Sammlung kommt, die dann entweder einstaubt oder den Weg in die Mülltonne findet. 
Genauso gut könnt ihr mit euren Liebsten Schrottwichteln machen. Dabei könnt ihr auch gleichzeitig alte Deko verwichteln, und wer weiß, vielleicht ist des einen Schrott des anderen Schatz. Wie ihr wichtelt, ist dabei ganz euch überlassen. Es gibt viele lustige Möglichkeiten: würfeln um die Geschenke, losen oder ihr macht „Preiswichteln“. Beim Letzteren überlegt ihr euch ein Spiel mit genügend Platzierungen für alle Teilnehmer*innen oder ihr spielt ein Konsolenspiel (bspw. Wii-Bowling). Zum Schluss stehen alle Wichtelgeschenke aufgetürmt da und der*die Erstplatzierte darf sich als erstes eines auswählen, der*die Zweite als zweites und so weiter.

Lichterketten, Glöckchen und Christbaumkugeln 

Der Toptipp zum Thema Deko ist natürlich, einmal Deko zu kaufen und diese dann immer wieder zu benutzen und so wenig wie möglich neu anschaffen. Dekostücke sind in den meisten Fällen sehr langlebig, vor allem da sie meistens nur einen Monat lang in Gebrauch sind. Aber oft ist es so, dass man doch gerne mal etwas Neues hätte oder sich an einigen Teilen einfach satt gesehen hat. Doch statt dann immer neuproduzierte Deko in den bekannten Läden zu kaufen, kann man auch einfach mal auf Secondhand-Websiten zurückgreifen und da nach Weihnachtsdeko, die jemand anderes nicht mehr haben will, suchen. Oder wie wäre es mit einem Dekotausch? Das könnt ihr einfach mit Freund*innen oder Familie machen oder aber ihr geht zur STRAZE. Denn da findet in dieser Adventszeit immer donnerstags bis samstags in der Bibliothek eine Dekotauschbörse statt. 

Braten, Soße und Klöße?

Wie wäre es einfach mal mit einer vegetarischen bzw. veganen Alternative zum Adventsbraten? Denn statt Fleisch gibt es auch viele andere Möglichkeiten, das Adventsessen schmackhaft zu machen. Wie wäre es also mit einem leckeren Jackfruit Gulasch? Oder ihr haltet es ganz einfach und klassisch mit Kartoffelklößen, Rotkohl und veganer Bratensauce. Dazu könnt ihr euch auch noch vegane Kohlrouladen machen.


Ebenso habt ihr auch viele Möglichkeiten, weihnachtliche Naschereien vegan zu machen:

Wie ihr seht, gibt es viele einfache Möglichkeiten, das Weihnachtsfest nachhaltiger zu machen. Wahrscheinlich gibt es sogar noch viel mehr Möglichkeiten, an die wir auch nicht gedacht haben. Falls ihr noch weitere Ideen für ein nachhaltigeres Weihnachten habt, dann schreibt sie uns gerne in die Kommentare. Wir wünschen frohe, nachhaltige Weihnachten!

Beitragsbild: Vanessa Finsel

Adventskalender Türchen 4 : Mit Handarbeit durch die Weihnachtszeit – DIY Geschenke

Adventskalender Türchen 4 : Mit Handarbeit durch die Weihnachtszeit – DIY Geschenke

Viele kennen es: die verzweifelte Suche nach den passenden Geschenken. Was kann ich Oma, Mama, Papa etc. schenken? Eine Frage, die jedes Jahr schwer zu beantworten ist. Und es wird noch schwerer, wenn es auch keine Wünsche gibt. Was aber eigentlich immer gut kommt, ist Selbstgemachtes. Ein paar Ideen für DIY Geschenke inklusive Anleitungen findet ihr in diesem Artikel. 

Weihnachtssterne aus Notizzetteln 

Mit einer bestimmten Origami-Technik könnt ihr ganz einfach aus quadratischen Notizzetteln einen dreidimensionalen Bascetta-Stern basteln, der sich super als Deko in Regalen macht. 

Ihr braucht: 

  • 30 Blatt quadratisches Papier
  • Viel Lust zu Basteln

Wie funktioniert es? 

  1. Faltet eines der Blätter in der Mitte.
  2. Dann faltet ihr die obere rechte und die untere linke Ecke in die Mitte. Wendet jetzt euer Projekt.
  3. Beide Seiten wie auf dem Bild in die Mitte falten. Euer Projekt erneut wenden.
  4. Die abstehenden Seitenteile in die Mitte falten und die überstehenden Laschen umknicken, so dass eine Raute entsteht (siehe Schritt 4 und 5 auf dem Bild).
  5. Nun die Raute einmal in der Mitte falten, so dass ein Dreieck entsteht.
  6. 30 mal wiederholen.
  7. Jetzt seid ihr bereit zum Zusammensetzen. Je drei Teile ergeben eine Spitze. Beim Zusammensetzen müsst ihr darauf achten, dass sich immer fünf Spitzen berühren.
Schritt 1 bis 3 für den Bascetta-Stern
Schritt 4 und 5 für den Bascetta-Stern
Zusammensetzung des Bascetta-Sterns
Tadaaa! So sieht der fertig Stern aus

Weihnachten/Winter im Glas

Mit dieser Bastelmethode könnt ihr ein kleines Winter- bzw. Weihnachtswunderland in einem Vorratsglas erschaffen. Am Ende kommt ein wunderschönes Dekoriere heraus, was ihr wunderbar verschenken oder auch selbst behalten könnt. 

Ihr braucht: 

  • Ein leeres, ausgewaschenes Vorratsglas (bspw. ein Marmeladenglas oder ein Gewürzgurkenglas) 
  • Etwas Kunstmoos 
  • Etwas Kunstschnee oder weißen Glitzer
  • Kleine Figuren (Tannenbaum, Schneemann, Schlitten etc.)
  • Eine kleine Lichterkette
  • Alleskleber oder Heißklebepistole
  • evtl. ein Seil

Wie funktioniert es?

Das ist eigentlich ganz einfach. Als erstes müsst ihr euch überlegen, ob ihr euer Glas waagerecht oder senkrecht haben möchtet. Wenn ihr das Glas waagerecht haben wollt, dann müsst ihr mit dem Kleber ein Stück Seil so an dem Glas befestigen, dass es nicht mehr rollt und einen festen Stand hat.

Danach bedeckt ihr den Boden eures Vorratsglases mit Kleber und drückt das Kunstmoos fest darauf. Danach, am besten wenn der Kleber noch nicht getrocknet ist, verteilt ihr nach Belieben etwas von dem Kunstschnee drauf. Das ist die Basis für unser Winterwunderland. Nun könnt ihr eure Figuren nach Belieben im Glas mit Kleber befestigen (Tipp: Wenn ihr Probleme habt, die Figuren zu platzieren, benutzt eine Zange).

Haben die Figuren ihre Plätze eingenommen, könnt ihr noch eine Lichterkette in das Glas mit hineintun. Dafür macht ihr ein Loch in den Deckel des Glases und fädelt die Lichterkette hindurch, so dass der An/Aus-Schalter draußen bleibt. Zum Schluss verschließt ihr euer Glas und fertig seid ihr.

Weitere kostenlose Bastelanleitungen

Das reicht euch noch nicht? Hier haben wir noch ein paar weitere Anleitungen für euch rausgesucht:

Wir wünschen viel Spaß beim Basteln!

Tipp: Unser Artikel wird vom Bildungsverlag Twinkl in seinem Blog: „Darum Basteln Weihnachten Kinder einfach gerne erwähnt.

Alle Bilder von Vanessa Finsel


Zur Person der Autorin

Buchrezension: The Secret History

Buchrezension: The Secret History

Lasst mich euch mitnehmen in eine Welt von elitären College-Student*innen, exzentrischen Professor*innen und exklusiven Gruppierungen. In der Welt des Hampden College in Vermont scheint dies zur Normalität zu gehören – bis ein Student tot aufgefunden wird. Die Welt steht still. Die Außenseiter rücken ins Rampenlicht. Und Ordnung zerfällt ins Chaos. 

„The Secret History“ (dt. Titel „Die geheime Geschichte“) ist der Debütroman der amerikanischen Autorin Donna Tartt. Sie begann das Buch zu schreiben, während sie noch Kreatives Schreiben an einem kleinen, exklusiven College – welches später auch als Vorlage für „The Secret History“ diente – studierte. Es brauchte etwa zehn Jahre bis zur Fertigstellung des Romans. Ein Muster, welches sich auch bei ihren beiden nachfolgenden Romanen „The Little Friend“ (2002) und  „The Goldfinch“ (2013) wiederholte. 
Im Jahr 1992 wurde der Roman dann schlussendlich veröffentlicht und statt der üblichen Anzahl von 10.000 Ausgaben in der Erstausgabe wurden 75.000 gedruckt. Bereits vor Veröffentlichung galt das Buch in den Medien als Topseller. Mittlerweile wurde es in 24 Sprachen übersetzt und über 5 Millionen Mal verkauft. Vor allem in den letzten Jahren gewann es durch die steigende Popularität des Subgenres Dark Academia wieder eine hohe Aufmerksamkeit.

Die düstere Welt des Hampden College

Die Ereignisse im Roman werden von Richard Papen geschildert, einem der Hauptcharaktere der Geschichte. Er kommt nach Vermont um Altgriechisch zu studieren und um seine Vergangenheit und Familie in Kalifornien zurückzulassen. Doch in Vermont angekommen sieht er sich mit der Tatsache konfrontiert, dass es schier unmöglich scheint, in den Kurs für Altgriechisch zu kommen. Das liegt jedoch nicht daran, dass dieser überlaufen ist. Nur eine Gruppe von fünf Leuten studiert unter den exzentrischen Professor Julian Morrow und dieser hat die Entscheidungsmacht, wen er unter seine Fittiche nehmen will. Schlussendlich entscheidet er sich dann aber doch dazu Richard aufzunehmen. 
Und so lernt er eine Gruppe von scheinbar extravaganten und höchst merkwürdigen Studierenden kennen: Henry, Bunny, Francis und die Zwillinge Camilla und Charles. Er freundet sich mit ihnen an, doch schon bald machen sich Spannungen bemerkbar und ihm wird bewusst, dass er längst nicht alles über seine neuen Freunde weiß. 
Nach ereignisreichen Ferien wird das angespannte Verhältnis zwischen Bunny und Henry, dem charismatischen Anführer der Gruppe, immer deutlicher. Das ganze Geschehen gipfelt darin, dass die Gruppe Bunny schlussendlich umbringt. 

Up until the very end there was always, always, Sunday-night dinner at Charles and Camilla’s, except on the evening of the murder itself, when no one felt like eating and it was postponed until Monday.

The Secret History, S. 93

Präzision und Tiefe

Das Besondere an dem Roman ist, dass man von Beginn an weiß, dass der Mord geschehen ist, denn Richard erzählt davon schon in der Einleitung. Im Verlaufe des Buches werden dann durch Richard rückblickend alle Ursachen die zu diesem Punkt geführt haben aufgeschlüsselt und alles was nach dem Mord geschehen ist erzählt. 
Man merkt dem Roman definitiv an, wie viel Arbeit und Zeit darin steckt. Es ist wohl eines der detailreichsten Bücher, das ich je gelesen habe. Teilweise hat man das Gefühl, dass Tartt während ihres Schreibprozesses über jedes Wort intensiv nachgedacht hat und über dessen Wirkung auf das Ganze. Es ist ein Kunstwerk der Literatur und die Buchstaben sind präzise Pinselstriche. Akkurat gesetzt, mit viel Bedeutung und anspruchsvoll. 

„The Secret History“ steht und fällt mit den Figuren. Der Roman besticht mit starker Charaktertiefe. Sie sind merkwürdig, exzentrisch, extravagant und rätselhaft. Man kann sie nicht als liebenswert beschreiben, dafür sind sie zu abtrünnig. Sie sind faszinierend und elitär. Man möchte dazugehören und gleichzeitig Abstand von ihnen halten. 
Die Gruppe zeigt beinahe sektenähnliche Verhaltensweisen auf. Es ist keine gesunde Freundschaft zwischen ihnen – ich persönlich würde es nicht einmal Freundschaft nennen, sondern es besteht eine Art Abhängigkeit zwischen den einzelnen Charakteren, vor allem nach dem Mord. Außenstehende werden mit Skepsis betrachtet. In die Gruppe einzutreten ist beinahe unmöglich. Innerhalb der Gruppe muss man sich gut in das Bild einfügen. So hat Richard das Bedürfnis, so zu tun, als wäre er reich und verheimlicht, dass er arbeiten gehen muss. Bunny wird von allen aufgrund seiner geringeren Intelligenz eher abschätzig betrachtet. 

Kultisch oder elitär?

Auslöser der elitären Gruppendynamik ist zweifelsfrei Julian Morrow, ihr Professor. Er verfolgt eine Art Ideologie, bei der es nur einen sehr guten Lehrenden bedarf, und keiner Vielfalt. Die Sechs folgen Julians Worten, was er sagt gilt. Man buhlt um seine Anerkennung, möchte an Julians Leben teilhaben. In einem Absatz reflektiert Richard Julians Verhaltensweisen nachträglich (meine liebste Stelle im Buch – S. 575–578). Dabei sagt er, dass Julian eine Begabung dafür hätte, das Gefühl der Minderwertigkeit bei jungen Menschen in Überlegenheit zu verwandeln. Außerdem wird erwähnt, dass er sich nur auf bestimmte Aspekte konzentriert und diesen mehr Bedeutung verleiht als sie verdienen, und dafür andere wichtige Dinge völlig auslässt. 

„I believe that having a great diversity of teachers is harmful and confusing for a young mind, in the same way I believe that it is better to know one book intimately than a hundred superficially,“ he said. (Julian)

The Secret History, S.32

Vor allem Henry folgt beinahe obsessiv dem Gedanken, Julian zu gefallen und bricht vollends zusammen, als Julian ihn im späteren Verlauf des Buches fallen lässt. Es wird deutlich, dass Julian es geschafft hat ihn vollends von der aktuellen Zeitgeschichte zu lösen, als er völlig schockiert über die Mondlandung ist. 

Once over dinner, Henry was quite startled to learn from me that men had walked in the moon. „No,“ he said, putting down his fork.
[…]
„I don’t believe it.“

The Secret History, S. 93

Neben Julian ist Henry wohl der interessanteste Charakter. Zu Beginn möchte man als Leser*in am liebsten die Aufmerksamkeit von Henry erhalten. Er ist der perfekte Charakter. Immer ordentlich gekleidet, intelligent und strahlt eine Art Autorität aus, die aber nicht abschreckend ist. Seine Freunde folgen ihm. Es ist klar auszumachen, dass er eine Stufe über ihnen steht.
Während des Buches zerfällt dieser perfekte Schein immer mehr. Es kommt immer und immer mehr die verrückte Seite Henrys zum Vorschein. Er beginnt nicht nur seinen Freunden Angst zu machen, sondern auch man selbst bekommt beim Lesen Angst vor ihm und entwickelt eine Abneigung. Seine Ansichten sind wirr. Er wirkt völlig ignorant zu allem, was um ihn herum geschieht. 

„It’s a terrible thing, what we did,“ said Francis abruptly. „I mean, this was not Voltaire we killed. But still. It’s a shame. I feel bad about it.“
„Well, of course I do too,“ said Henry matter-of-factly. „But not bad enough to want to go to jail for it.“

The Secret History, S. 220

„It was an unfortunate incident and I am sorry that it happened, but frankly I do not see how well either the taxpayers‘ interests or my own would be served by me spending sixty or seventy years in a Vermont jail.“ (Henry)

The Secret History, S.194

Im späteren Verlauf wird dieser Zerfall seines Charakters dann auch visuell verdeutlicht, als er sich selbst mit Dreck beschmiert. Auch die anderen Charaktere zerbrechen an den Geschehnissen, doch ist es hier nicht so erschreckend wie bei Henry, da sie auch vorher schon Fehler aufwiesen und diese auch sichtbar waren. 

Then, with terrible composure, he stepped back and absently dragged the hand across his chest, smearing mud upon his lapel, his tie, the starched immaculate white of his shirt. […] He seems not to realize he had done anything out of the ordinary.

The Secret History, S. 474

Lügen oder Realität?

Der Roman fokussiert auf die Dynamiken innerhalb dieser Freundesgruppe. Die Folgen eines Mordes werden Wort für Wort herausgearbeitet und dargestellt. Man erlebt beim Lesen den Eintritt einer Person in eine beinahe diktatorische, elitäre Gruppe und welche Auswirkungen diese haben kann. Richard wird vom unsichtbaren Außenseiter Teil einer exzentrischen Gruppe und findet sich am Ende als Mörder wieder. Während des Lesens fragt man sich, war das Böse immer schon da? Wurde es freigesetzt? Was wäre passiert, wenn alles anders gelaufen wäre? Wäre Bunny trotzdem gestorben? Und schlussendlich: Ist das alles überhaupt passiert? 
Denn Richard ist ein unzuverlässiger Erzähler. Er erzählt aus seiner Perspektive, was er wahrgenommen hat. Gleichzeitig erzählt er zu Beginn auch, dass er ein hervorragender Lügner ist. Und er lügt immer. Er belügt seine Freunde über seine Herkunft, seinen finanziellen Status und teilweise sogar über seinen Verbleib. Am Ende muss man sich also fragen, ob das alles wirklich so passiert ist? 

If there is one thing I’m good at, it’s lying on my feet. It’s sort of a gift I have.

The Secret History, S. 26

Ein Kunstwerk aus Buchstaben

„The Secret History“ ist definitiv eines der besten Bücher, wenn nicht sogar das beste Buch, was ich bisher gelesen habe. Es ist packend, zieht einen in seinen Bann und lässt einen mit offenen Fragen zurück. Es sind die Details, die besonders herausstechen. Selbst die noch so kleinsten Handlungen haben große Bedeutung, die man entschlüsseln will. Und vor allem sind es die Charaktere, die man am liebsten analysieren möchte und ihre Psyche ergründen will. Was hat zu alldem geführt? 
Es ist ein Meisterwerk der Literatur. Wer dieses Buch liest, erkennt, das das Schreiben eine Kunstform ist. Für mich ist es bereits ein Klassiker und Donna Tartt steht auf einer Stufe mit den großen Autor*innen vergangener Epochen.

Beitragsbild: Vanessa Finsel


Zur Person der Autorin