Am Freitag ist das neue Album „Cocaine for the Kids“ von Hinterlandgangerschienen. Warum sich die Platte von den vorherigen Alben unterscheidet und wieso Vorpommern Kampfsport bleibt.
„Wir sind nur das Portrait dieser Gegend, gezeichnet vom Leben“
Die Hinterlandgang sind Pablo Himmelspach (23) und Albert Münzberg (23) aus Siedenbüssow bei Jarmen. Die beiden kennen sich schon ein Leben lang und fangen mit 18 an zu rappen. Es geht steil bergauf: Vier Alben in vier Jahren. Konzerte, Releasepartys, Festivals, Support bei „Waving the Guns“ und „Feine Sahne Fischfilet“. In den Songs geht es vor allem um die Heimat Vorpommern, das Aufwachsen zwischen „Aufstand und Tristesse“, das Leben hinter grauen Fassaden. Sie thematisieren ihre Jugend in MV, innere und äußere Konflikte, sowie den Kampf gegen Faschismus. Die Familie und Freund*innen der Hinterlandgang spielen dabei eine wichtige Rolle und finden immer wieder einen Platz in den Texten.
Mit dem neuen Album „Cocaine for the Kids“ zeigt sich Hinterlandgang in einem anderen Licht. In den letzten Jahren hat das Rap-Duo beschrieben, wer es ist und wo es herkommt. Jetzt werden persönliche sowie politische Themen und Grenzen diskutiert. Klare Ansagen und konkrete Statements. Jedes Lied hat eine Botschaft und die Themen sind vielfältig. Es geht um Kritik an der Gesellschaft, am Kapitalismus und an der sozialen Kälte in Deutschland. Wer ist privilegiert? Was bedeutet Anerkennung? In Liedern wie „Der Himmel kann warten“ und „Ich denk an dich“ setzen sich Albert und Pablo mit diesen Fragen auseinander.
Der Titelsong „Cocaine for the Kids“ ist das Herz des Albums. Hinterlandgang rechnet hier mit der sogenannten deutschen Leitkultur ab. Ein Begriff, der oft im Zusammenhang mit den Themen Migration und Zuwanderung genannt wird, und vor allem von rechtskonservativen Politiker*innen aus der CDU/CSU oder AfD verwendet wird. In den Lines „Ihr seid die Rächer der Nation vor der Tagesschau, jemand der unserem Volk wieder Ordnung schenkt, ihr wartet drauf“ und „Wir hängen eure Kultur vom Balkon, lass sie zappeln“ richten sie sich kurz gesagt an Anzugträger. Sie verkörpern, was Hinterlandgang kritisiert: Eine Klassengesellschaft, in der Wirtschaft über allem steht und „die Würde des Menschen eingesperrt in einem Lager“ ist. Eine Kritik an der Identität und den Werten der Europäischen Union, in der sie selbst aufgewachsen sind.
„Jeder weiß, was passiert ist“
„Direkt in unserer Mitte liegt ein Stein mit deinem Namen, an dem Ort, wo du lagst, vor genau 20 Jahren“, rappt Pablo. In „Keiner von uns“ setzten sich Hinterlandgang mit dem rechtsextremistischen Mord an dem Obdachlosen Eckard Rütz auseinander. In der Nacht vom 24. zum 25. November 2000 wurde er von drei Neonazis in Greifswald auf brutalste Weise ermordet. Vor Gericht erklärten die Täter, dass Rütz dem deutschen Steuerzahler auf der Tasche gelegen hätte und dass man ihm eine Lektion erteilen wollte. Sein Gedenkstein steht auf der Wiese neben der Alten Mensa. Nazis und Rechtsextremismus in Vorpommern sind und bleiben zentrale Themen der Hinterlandgang.
„Wir sind nicht ein Blut, aber eine Familie“
Gegen Ende des Albums werden die Texte persönlicher, Freund*innen und Familie stehen im Vordergrund. Die Features mit Bella, Lewa109 und Schmidti109 zeigen die tiefe Verbundenheit der Gang und erzählen von gemeinsamen Erlebnissen und Träumen. In „Reich mir nicht deine Hand“ und „Vorpommern bleibt Kampfsport“ setzt sich Albert besonders mit der Beziehung zu seinem Vater auseinander. „Hatte nie ein Vater, nur ein Vater Staat“ und „Meine einzige Angst, so zu werden wie du“ sind Zeilen, die von der familiären Vergangenheit erzählen.
„Cocaine for the Kids“ ist ein selbstbewusstestes und politisches Album. Hinterlandgang setzt sich hier kritisch mit politischen Themen auseinander, bleibt aber Vorpommern und seinen Menschen treu.
Seit mehreren Monaten befindet sich die Stadt im Lockdown. Doch wie geht es den Greifswalder*innen eigentlich damit? Im Interview für das moritz.magazin Nr. 150 fragt Lena Elsa Droese je eine Stimme aus Kultur, Krankenhaus und Gastronomie.
Ein Lockdown-Interview mit Murat, Clubbesitzer ROSA
Lena: Wie heißt du und woher kommst du?
Ich heiße Murat und komme ursprünglich aus Hannover. Meistens kommt jetzt die Frage: »Und woher kommst du wirklich?«
Lena: Wie lange wohnst du schon in Greifswald?
Ich bin seit 13 Jahren in Greifswald.
Lena: Wie hat die Pandemie dein Leben beeinflusst?
Die Pandemie hat mich wie viele andere beeinflusst, nur mit dem Unterschied, dass wir mit dem Club von den Beschränkungen besonders betroffen sind. Ich bin erstens als Lehrer betroffen, durch das Homeschooling, und zweitens mit dem Club betroffen. Eigentlich bin ich sportlich sehr aktiv, ich geh boxen und mach Fitness, aber der Boxclub Greifswald hat gerade zu.
Lena: Was machst du aktuell im Alltag?
Ich bin jetzt viel in meiner Wohnküche, wo auch mein Arbeitsplatz eingerichtet ist. Und ja sonst, ich arbeite viel, ich lese, aber mir fällt auch langsam die Decke auf den Kopf. Meine überschüssige Energie entlädt sich jetzt bei Instagram, da mache ich mich zum Affen und Hampel ein bisschen rum.
Lena: Was siehst du als die größte Schwierigkeit während der Pandemie an?
Ich vermisse am meisten, dass ich mich nicht mehr wie ein kleiner Gott im Club fühlen kann und Leute rauswerfen kann. Ich vermisse, dass Oleg, das ist ein DJ von uns, besoffen hinter die Theke geht, während er auflegt, und sich ein Drink macht, obwohl er genau weiß, dass er das nicht darf. Und ich vermisse auch wie Stella die Bar regelt, wenn ihr ein Gast dumm kommt, dann sagt sie ihm das auch. Ich vermisse das Gewusel und Durcheinander. Achso und die schlechten Sprüche an der Tür.
Lena: Was findest du gut am Lockdown?
Was mir aber aufgefallen ist, ist, dass wir trotz Distanz näher zusammenrücken. Wir haben jetzt das Landesnetzwerk für Clubs und Live Spielstätten gegründet. Die Clubs brauchten jetzt eine Stimme und wir haben der Regierung ein Konzept zur langsamen Wiedereröffnung vorgelegt und die fanden das super! Altmaier will das Konzept sogar auf Bundesebene vorschlagen.
Lena: Was machst du als erstes, wenn die Pandemie/der Lockdown vorbei ist?
Einfach nur den Laden aufmachen und Party machen. Ich hoffe, dass wir es bis dahin durchhalten.
Ein Lockdown-Interview mit Felix, Medizinstudent
Lena: Wie heißt du und woher kommst du?
Ich bin Felix und bin in Neubrandenburg groß geworden.
Lena: Wie lange wohnst du schon in Greifswald?
Seit Oktober 2014 bin ich hier, also seitdem ich das Medizin Studium angefangen habe.
Lena: Wie hat die Pandemie dein Leben beeinflusst?
Das Ding ist, ich war schon im Januar scheinfrei und habe dann angefangen für mein Examen zu lernen. Ich habe also im Wesentlichen, so im Frühjahr, eigentlich gar nichts mitbekommen … außer, dass mein Pesto im Edeka leer war! Ich habe auch eh zu Hause gelernt und war viel beschäftigt. Im Februar habe ich noch eine Famulatur gemacht, also ein Praktikum im Krankenhaus, das ging bis zu dem Wochenende, wo dann auch alles in Greifswald losging. Der Sport, das Fitnessstudio, fehlt mir, und die Selbstverständlichkeit Leute zu treffen. Also es fehlt etwas aus dem Alltag, aber das ist nicht dramatisch.
Lena: Was machst du aktuell im Alltag?
Ich habe Glück, dass ich Hobbies habe, die von Natur aus mit Social Distancing einhergehen. Ich gehe gerne angeln und jagen. Da bin ich mit großer Freude allein unterwegs.
Lena: In welchem Raum verbringst du am meisten Zeit? Was ist dir dort wichtig?
Gerade jetzt bin ich viel im OP-Saal und nächste Woche dann auf Station. Das ist aber alles nicht so statisch, vielleicht bin ich auch in der Notaufnahme. Dort assistiere ich dann und lerne den Alltag kennen.
Lena: Was siehst du als die größte Schwierigkeit während der Pandemie an?
Es gab auf jeden Fall Momente, in denen ich genervt war, aber an so kleinen Dingen eben. Hier darf ich das nicht, woanders ist es erlaubt. Das ist alles nichts Weltbewegendes, es gab keinen konkreten Vorfall, nur dass der Alltag eben nicht so da ist, wie man ihn gewöhnt ist. Gewisse Dinge scheitern an Hürden, auf die man keinen Einfluss hat. Also zum Beispiel ein Schreiben vom Amt, einfach nur einem Zettel. So Sachen, die sonst gar kein Thema sind. Dinge, die einem als Bagatelle erscheinen, sind jetzt mit einem ziemlichen Nerv verbunden – so ein latentes Genervt-Sein. Aber kein Grund für mich auf die Straßen zu gehen.
Lena: Was findest du gut am Lockdown?
Was ich ganz angenehm fand, war die Ruhe im März/April. Die Fleischervorstadt ist ja eh ein ruhiges Viertel, das war wirklich nett. Man lernt aber natürlich seinen Alltag mit den Selbstverständlichkeiten nochmal anders kennen, wenn etwas fehlt. Alles was normal und selbstverständlich ist, schätzt man erst, wenn es nicht mehr da ist. Die Reisefreiheit zum Beispiel. Für unsere Generation ist es selbstverständlich sich in Europa ohne Grenzen zu bewegen. Da merkt: Ach wie geil war das, sich einfach in den Flieger zu setzen und dann kamst du wieder und es war alles gut.
Lena: Was machst du als erstes, wenn die Pandemie/der Lockdown vorbei ist?
Also mir hat ja nicht viel gefehlt, aber das Erste wäre endlich den Bulli in Portugal zu mieten und durch die Algarve zu fahren.
Ein Lockdown-Interview mit Philipp und Florian, Pizzeria Der Gestiefelte Kater
Lena: Hey! Wie heißt ihr und woher kommt ihr?
Hey wir sind Philipp und Florian aus Brandenburg, also geborene Eberswalder. Wir waren auf der Grundschule in Falkenberg und haben unsere Jugendzeit zusammen verbracht. Dann ist Flori irgendwann zum Studieren nach Greifswald gegangen und wir haben uns ein bisschen aus den Augen verloren, aber drei Jahre später bin ich dann nachgekommen zum Studieren und wir haben uns dann wiedergetroffen.
Lena: Wie lange wohnt ihr schon in Greifswald?
Philipp: Ich bin seit Oktober 2014 hier, also zum Wintersemester bin ich dann nach Greifswald gezogen.
Florian: Seit September 2010, schon etwas länger.
Lena: Wie hat die Pandemie euer Leben beeinflusst?
Philipp:Also privat, so in der Anfangszeit hat das für mich keinen großen Unterschied gemacht. Aber jetzt, rückblickend nach einem Jahr muss ich schon sagen, dass man sich wünschen würde, mal wieder mit der Frau essen zu gehen oder rauszugehen. Insgesamt trifft mich die Pandemie aber nicht so stark, ich vermisse den Sport ein bisschen! Ich vermisse auch nicht viele Leute, ich bin viel bei meiner Familie und hier auf der Arbeit, zum Beispiel hier Normi, unser Angestellter, zusammen mit Flori sind wir alle gute Kumpels und machen auch privat viel zusammen. Meine Freunde habe ich hier auf der Arbeit. Also im Vergleich zu anderen Gastronomien können wir uns wirklich sehr glücklich schätzen, das ist wirklich ein Privileg. Es kamen auch einige Neukunden dazu, zum Beispiel Familien, die zum Mittag mal ’ne Pizza bestellt haben, wenn die Eltern nach drei Wochen einfach keine Lust mehr haben zu kochen Eine Zeitlang hat man echt gemerkt, dass hier mittags mehr los war als sonst und auch größere Bestellungen kamen, so ab vier Pizzen aufwärts.
Florian: Bei mir ist es fast gleich, es hat sich kaum etwas verändert. Wir arbeiten viel, die Pizzeria durfte zum Glück offen bleiben, wir waren immer beschäftigt. Ein paar Sachen sind natürlich umständlicher geworden, zum Beispiel einkaufen oder zum Baumarkt gehen. Nach einem Jahr reicht es aber auch so gefühlt. Unsere Kunden würden auch gerne mal wieder reinkommen, damit wir uns unterhalten können. So dieses kurz an der Tür und Tschüss ist ja auch nix. Ich weiß auch nicht, wie das bei den Studenten gerade ist, aber ich sehe viele nicht mehr, ich denke, dass sie zu Hause in Berlin, München, Hamburg oder so sind und deshalb weniger Einzelbestellungen kommen. Oder das Geld sitzt nicht so locker, es sind ja auch viele Studentenjobs in Bars und so weggefallen. Das macht viel aus, das kennen wir ja auch von früher.
Lena: Was macht ihr aktuell im Alltag?
Zuhause und auf Arbeit! Das sind die einzigen beiden Orten, wo wir uns gerade bewegen. Und noch viel auf der Baustelle, wir planen gerade einen neuen Laden zu eröffnen. Also nicht wir selber, wir machen den Laden gerade für unsere beiden Frauen fertig und dort machen die beiden dann ihren eigenen Laden. In der Langen Reihe, es soll so Frühstück und Mittag bis 14 Uhr geben mit italienischen Baguettes und Bowls!
Lena: In welchem Raum verbringt ihr am meisten Zeit? Was ist euch dort wichtig?
Philipp:Für mich hat sich da gar nicht viel verändert, nur das Fitnessstudio fehlt, da war ich sonst so 2-3-mal in der Woche. Dadurch dass wir jetzt noch einen neuen Laden aufbauen, sind wir auch viel drüben und verbringen dort unsere Zeit und ansonsten habe ich ja zwei Kinder zu Hause und ich bin froh, wenn ich mit ihnen Zeit verbringen kann.
Florian:Genau, viel mehr Möglichkeiten gibt es ja auch gerade nicht. Ich spaziere noch viel draußen, wir haben einen kleinen Hund. Freunde kann man nicht besuchen, bei uns war sonst immer viel Besuch, auch im Laden. Mir fehlt schon der Austausch, was so geht, dafür macht man das ja auch, um nah am Kunden zu sein.
Lena: Was seht ihr als große Schwierigkeit während der Pandemie an?
Philipp: Also was ne Zeitlang echt schwierig war, war das Einkaufen. Es gab ja die Hamsterkäufe und wir haben in keinem Laden mehr Hefe bekommen. Das war echt schwer alle Zutaten zu bekommen.
Florian: Ja, wir sind dann nach zehn Tagen Sucherei und Telefoniererei echt beim Bäcker in einem Dorf gelandet und der hat uns dann ein paar Stücke Hefe verkauft. Ohne Hefe geht halt nix! Daran kann esecht scheitern, ohne Hefe kann man keine Pizza machen. Naja, und ein paar Produkte aus Italien kamen später, aber das ist wirklich meckern auf hohem Niveau. Wir haben halt uns können uns gegenseitig auffangen, ich denke oft auch an die Leute, die jetzt allein zu Hause sind. Viele verrennen sich glaube ich in der Zeit gerade.
Lena: Was findet ihr gut am Lockdown?
Philipp: In der Anfangszeit fand ich es sehr schön, dass wir als Familie viel Zeit hatten. Da war ein bisschen Entschleunigung. Und für die Natur ist das natürlich ’ne top Sache.
Florian: Die ersten Wochen waren beruhigend und gleichzeitig beunruhigend. Keiner wusste ja was kommt. Es wurde so von außen gebremst, da kam schon mehr Ruhe rein. Und das Schönste eben, dass unser Laden weiterläuft und dass alle gesund sind.
Lena: Was macht ihr als erstes, wenn der Lockdown vorbei ist?
Philipp: Für mich wäre es, etwas mit der Familie machen und rausfahren, Hansa Park oder so, einfach mal raus oder eine andere Stadt sehen.
Florian: Ja, rauskommen und nicht sich Gedanken zu machen, was man gerade darf und was nicht. Das braucht man in Greifswald auch. Wenn du ne Woche weg warst, dann freut man sich auch wieder herzukommen.
Mehr als vier Millionen Menschen verließen zwischen 1949 und 1989 die DDR, weil sie mit der Politik und dem Leben in dem SED-Staat unzufrieden waren. Ein Forschungsteam des Instituts für Politik- und Kommunikationswissenschaft untersucht seit Juli 2019 die Todesfälle bei Fluchtversuchen aus der DDR über die Ostsee. Eine Suche nach Zeitzeugen und Zeitzeuginnen hat begonnen …
„Als ich über die Ostsee wollte, war ich 16. Es ging uns ganz gut, wir hatten eigentlich alles, was wir brauchten für unsere Verhältnisse. Mein Vater führte einen Konsum und meine Familie hatte in Bergen auf Rügen ein Haus. Eine meiner Schwestern lebte schon seit einigen Jahren in Schweden. Mein Schwager besaß dort eine erfolgreiche Rennwerkstatt und war europaweit unterwegs. Das wollte ich auch, die Welt entdecken! Also haben meine beiden Kumpels und ich uns entschlossen zu dritt nach Schweden zu gehen. Unsere Flucht aus der DDR war sehr kurzfristig geplant, ein halbes Jahr vorher begannen die Vorbereitungen. Vom Darß über Gedser in Dänemark nach Schweden. Das war damals die kürzeste Strecke. Vom Hören und Sagen sind von dort aus auch schon viele mit Booten los.
Mitte September sollte es losgehen. Wir wollten rüber schwimmen. Ein Bruder von meinem Kumpel hatte Kontakte zu den Kampftauchern der DDR. Er wusste als einziger von unserem Vorhaben und hat uns Taucherflossen und Schwimmwesten besorgt. Das war nicht einfach, aber du hast ja alles bekommen, wenn du Kontakte hattest. So war das im Osten eben. Mit den Taucherflossen haben wir im Sommer am Strand von Binz trainiert. Dann kam der August und ein Kumpel sprang ab. Drei Tage vorher hat dann auch mein zweiter Kumpel abgesagt. Ich war allein, aber fest entschlossen es zu versuchen.
Am späten Nachmittag des 15. Septembers 1979 bin ich mit meiner Schwalbe von Rügen losgefahren und war gegen 23 Uhr auf dem Darß. In einer kleinen Strandstraße hielt ich an. Rechts waren ein paar Dünen und dann ging’s runter zum Wasser. Meine Schwalbe versteckte ich im Busch und schaute über die Dünen. Unten am Strand liefen zwei Grenzer, direkt vor mir! Sie rauchten und sprachen miteinander. Ich musste also noch eine Weile warten und zog mich derzeit im Gebüsch um. Später kam ich zurück und wartete bis die zwei Grenzer nicht mehr zu sehen waren. Schnell rutschte ich auf dem Bauch die Küste runter, legte mich im Wasser auf den Rücken und begann zu schwimmen. Ich musste sofort aus der 3 Meilen Zone raus! Um den Hals trug ich meinen Brustbeutel mit Papieren und einem kleinen Cognac. Wenn mir kalt wird, dann hilft der bestimmt. Es war eine klare Nacht. Über mir konnte ich den hellen Mond und die vielen Sterne am Himmel sehen. Die See war ruhig. Mit den Taucherflossen war ich sehr schnell unterwegs und schon bald weit entfernt vom Strand. Zuversichtlich und zielstrebig schwamm ich sogar an einigen großen Booten vorbei. Doch plötzlich verschwand der Mond und der Himmel wurde dunkler. Ein starker, kalter Wind brachte die See zum Toben und die Wellen wurden immer größer! Manchmal konnte ich noch Land sehen, doch dann sah ich nur noch schwarzes Wasser und verlor die Orientierung. Panische Angst durchdrang nun meinen Körper.
Ich muss hier raus, scheißegal! Ich kann nicht mehr! Mit all meiner Kraft schwamm ich weiter und wollte nur noch an Land. Nur noch an Land! Plötzlich wurde es flacher und ich habe Sand gespürt. Endlich, ein Strand! Ich war erschöpft, enttäuscht und wusste nicht, wo ich war. Es war eiskalt. All meine Klamotten zog ich aus und ließ sie genervt nach und nach fallen, als ich vom Strand wegging. Ich war am Ende und lief eine Weile gedankenversunken auf einem Feld entlang, bis ich eine Vogelscheuche entdeckte. In der Dunkelheit wäre ich da fast gegen gelaufen. Die hat ja Klamotten an! Eine Hose und eine Kunstlederjacke. Also habe ich die Vogelscheuche gekappt und mir die Sachen angezogen. Die viel zu große braune Hose musste ich irgendwie um meine Beine wickeln. Aber es war nicht mehr ganz so kalt. Eine Weile lief ich weiter, bis ich mich müde ins Stroh legte und einschlief. Doch schon bald weckte mich die Kälte wieder. Es dämmerte bereits, doch trotzdem wusste ich noch immer nicht wo ich war. Deshalb entschloss ich mich noch einmal Richtung Strand zu gehen und hörte lautes Hundegebell in der Ferne. Langsam und leise bin ich zur Küste gekrabbelt, um einen Blick auf den Strand zu riskieren. Da liefen sechs oder sieben Männer mit Hunden. Die müssen wohl irgendwas von mir am Strand gefunden haben. Da wusste ich wo ich bin. Ich bin wieder im Osten.“
Ein Bericht über den Fluchtversuch aus der DDR von Roland. Heute lebt er mit seiner Familie auf der Insel Rügen und arbeitet in Schweden.
Das Verbundprojekt „Grenzregime“ in Greifswald
Die Gründe für eine Flucht aus der DDR waren vielfältig. Viele Menschen hatten keine Möglichkeit, ihren Lebensweg frei zu gestalten. Neben der kaum vorhandenen Meinungs- und Reisefreiheit fehlte auch die Möglichkeit, die eigene berufliche Karriere selbstbestimmt zu verfolgen. Angehörige in der BRD, sogenannte Westverwandtschaft oder auch ein akademischer Hintergrund in der Familie wurden für viele zum Problem. So wurden manche Schüler*innen zum Beispiel nicht zum Studium zugelassen, oder es gab Unterdrückungsmaßnahmen von der FDJ oder der SED. War man nach deren Auffassung politisch nicht angepasst genug, dann kam es oft zu Repressionen sowohl unmittelbarer als auch mittelbarer Art. Doch der Wunsch nach Selbstbestimmung wurde oftmals mit dem Tod bestraft. Die SED als herrschende Staatspartei versuchte Fluchten gewaltsam zu verhindern bzw. die Menschen im Land zu halten. Somit endeten Fluchtversuche in den Westen oftmals tödlich. Viele Todesfälle von DDR-Bürger*innen wurden bereits aufgeklärt, jedoch gibt es bislang einige Lücken in der Forschung.
Um diese Lücke zu schließen, wurde das Forschungsprojekt „Todesfälle bei Fluchtversuchen über die Ostsee“ an der Universität Greifswald ins Leben gerufen. Es ist Teil des durch das Bundesministerium für Bildung und Forschung geförderten Verbundprojektes „Grenzregime“ und erfolgt in Kooperation mit Forschungsteams der Universität Potsdam und der Freien Universität Berlin von 2019 bis 2022. Das Potsdamer Forschungsteam untersucht die Funktion des DDR-Justizministeriums im SED-Staat und die Willkürjustiz gegen Ausreisewillige und Flüchtende, während die Freie Universität Berlin zur Aufklärung über Todesfälle von DDR-Bürger*innen bei Fluchtversuchen über Ostblockstaaten forscht. Das Teilprojekt an der Universität Greifswald unter der Leitung von Prof. Dr. Hubertus Buchstein führt Recherchen zu den Opfern des DDR-Grenzregimes an der Ostsee durch und rekonstruiert ihre Biografien. Über die Zahl der bei Fluchtversuchen in der Ostsee ertrunkenen DDR-Flüchtlinge liegen nämlich nur unvollständige Angaben vor.
Allerdings bringt die Auswertung von überliefertem Schriftgut in Archiven aus Ost- und Westdeutschland, Dänemark und Schweden viele Herausforderungen mit sich. Neben den großen Landesarchiven in MV und Berlin sind vor allem die kleinen Archive von Bedeutung, da diese die lokalen Unterlagen verwahren, die für die Rekonstruktionsarbeit von großer Bedeutung sind. Viele Reisen sind dafür notwendig und manchmal steht man aufgrund von beschränkten Öffnungszeiten oder Personalmangel vor verschlossenen Türen, was zu längeren Wartezeiten führt. Hinzukommt, dass jedes Archiv seine eigenen Regeln und Satzungen zu Fotogenehmigungen oder teilweise gebührenpflichtigen Reproduktionsaufträgen hat. Auch die Datenschutzauflagen sind für dieses sensible Material hoch, weshalb so einige Anträge gestellt werden müssen. Eine weitere, eher methodische Herausforderung ist die Zuordnung der Opfer. Es gibt viele ungeklärte Todesfälle, aber nicht jeder ist ein Fluchtfall. Schon im Archiv muss dann entschieden werden, dass diese Personen nicht mit aufgenommen werden, da sie sich zum Beispiel eindeutig als Badeunfall identifizieren lassen.
Nach dem bisherigen Kenntnisstand handelt es sich um ca. 5.600 Menschen, die eine Flucht über die Ostsee, entlang der stark kontrollierten Küstenabschnitte, wagten. Die bisher ausführlichste Analyse von Christine Voigt-Müller geht davon aus, dass nur 16% der Menschen die Flucht gelang, während 174 Flüchtlinge in der Ostsee starben. Ihre Leichen wurden an Land gespült oder in Fischernetzen gefunden. Diese Zahlen sind jedoch noch nicht vollständig, weshalb sich das Greifswalder Forschungsteam dieser Thematik nun wissenschaftlich widmet.
Häufig beschäftigen sie sich mit sehr tragischen Schicksalen, die zum Nachdenken anregen. Es waren nicht immer Einzelpersonen, die diese gefährliche Flucht bestritten, sondern auch Familien und Freundesgruppen. Es gibt zum Beispiel eine Familie, bei der zwei Personen überlebten und mit ansehen mussten, wie die anderen im kalten Wasser erfroren und untergingen. Oder auch die Tatsache, dass es sehr viele junge Menschen waren, die loszogen und verunglückten. Die meisten waren unter 25. Diese Tatsache zeigt jedoch, dass trotz all des wissenschaftlichen Interesses immer noch die Menschen und ihre Individualität dahinter sichtbar sind. Die Forschungsergebnisse finden Eingang in eine an der Freien Universität entwickelte Internetplattform und in regionalspezifische Multimediapräsentationen. Von der Universität Potsdam wird es eine Monographie geben. Die Biografien der Todesopfer werden in einem biografischen Handbuch veröffentlicht.
Hilf mit!
Du kennst Zeitzeug*innen oder Angehörige, die Auskunft zu Fluchten aus der DDR über die Ostsee geben können? Oder bist im Besitz von Dokumenten und Material? Dann melde dich beim Forschungsteam! Allen Hinweisen wird nachgegangen. Mailadresse: merete.peetz@uni-greifswald.de
Der Artikel erscheint in der neuen Ausgabe des moritz.magazins, mm146.