von Archiv | 17.05.2005
Ein Bericht von der Star Wars Episode-III-Pressevorführung
10.10 Uhr – Ankunft am Haupteingang „UCI Zoo Palast“ Berlin. Das Foyer voller diskutierender Menschen. Einige „Sturmtruppen“ und andere „Extremisten“ bewegen sich pseudomilitärisch durch den Raum.
10.25 Uhr – Suche mir im Kinosaal einen Platz und warte auf einen pünktlichen Beginn.
10:30 Uhr – Eine Verzögerung ist abzusehen. Der große Saal füllt sich nur langsam. Lausche den klugen Journalisten hinter mir. „…dieser Orlando Bloom…“ Ziehen über ihn her.
11:10 Uhr – Der Film beginnt. „Es war einmal…“ Ein bedächtiges Raunen geht durch die Reihen. Die gelbe Schrift bewegt sich ins All. „Ist da nicht ein Kommafehler?“ fragt mein Sitznachbar. „Orthographie ist nicht so meine Stärke.“ Die einleitende Weltraumschlacht nimmt einen gefangen.
Ca. 11:45 Uhr – Erstes Zusammentreffen von Anakin und Padmé. Eigenwillige Frisur. Die Dialoge erregen offenes Gelächter. „Etwas Wunderbares ist geschehen. Ich bin schwanger.“ Anakins Reaktion: „Was? Von wem denn…“ Ein Blick in ihre dunklen Augen.
Circa 12.30 Uhr – Die Handlung fließt dahin, wie der Tee in meinem Körper. Muss mich die Treppe runter zum WC begeben. Genau bei der Rückkehr: „Wollt ihr mir etwa drohen, Jedi-Meister?“ Mitten im entscheidenden Gefecht bleibt das digitale Bild hängen aber der Ton läuft weiter. Unruhe kommt auf. Das Licht geht an und etliche begeben sich zum Ausgang, erreichen ihn jedoch nicht, bevor es weitergeht.
Sie verpassen einen erstandenen Darth Vader mit gehemmter Feinmotorik, einen ergreifenden Trauerzug und ein Baby das der aufgehenden Sonne von Tatooine entgegengehalten wird.
Geschrieben von Arvid Hansmann
von Archiv | 17.05.2005
Ein Filmgenre zwischen Träumerei und Wirklichkeit
Science-Fiction – der Traum einer besseren Zukunft und wohl einer der ersten und meistgenutzten Anglizismen überhaupt, erlebte seine Geburtsstunde inmitten der „goldenen Zwanziger“ im Jahr 1926.
Dem deutschen Regisseur Fritz Lang gelang mit seinem Film „Metropolis“ die Revolution des noch in den Kinderschuhen steckenden Mediums Film. Die Story denkbar einfach und oft kopiert: Im Jahre 2026 findet man eine kalte, mechanische Welt der Industrie vor. Kurze Zeit nach der Industrialisierung spiegelte Lang die Ängste und Ressentiments der Bevölkerung wieder. Metropolis ist eine Stadt voll Hektik und Lebensgeist, in der man es entweder zur privilegierten Elite gebracht hat, oder Teil der unterdrückten, verarmten Unterschicht geworden ist. Eine schöne Scheinwelt an der Oberfläche, getragen von Maschinen im Untergrund. Arbeiter versorgen die Maschinen, Maschinen versorgen die Arbeiter, Matrix lässt grüßen.
Welche Bedeutung hat denn der Begriff „Science Fiction“ nun eigentlich? Ob Raumschiffschlachten im All, Außerirdische, die mal wieder die Menschheit auslöschen wollen oder einfach der simple technologische Fortschritt – jeder versteht unter Science-Fiction etwas anderes und der Fantasie sind nahezu keine Grenzen gesetzt. Zwei Dinge sind ihnen aber allen gemein: Zum ersten machen sie sich alle die menschlichen Emotionen zum Thema. Zum Beispiel die Hoffnung, wie in Gene Roddenberrys Utopie „Star Trek“, in der die Menschheit dem Geld entsagt und dem Frieden die Hand gereicht hat, oder die bloße animalische Angst, die 1979 mit „Alien“ die Kinos heimsuchte. Der Zuschauer wird zum Spielball seiner eigenen Emotionen.
Jeder will einen Teil der Faszination „seines“ persönlichen Films, seiner persönlichen Zukunftsvision, seiner persönlichen Emotion. Tausende „Trekkies“ säumen jährlich die engen Gänge der Star-Trek-Conventions. Um George Lucas’ „Krieg der Sterne“ zu sehen, standen die Fans bis zu mehreren Blocks an und kreierten so unwissentlich den Begriff des „Blockbusters“. Sie alle vereint die gemeinsame Teilhabe an ihren eigenen Emotionen, ein gemeinsam gelebter Traum, der scheinbar nie aufhört und so viel beinhaltet.
Das haben die Filmproduzenten in einem ganz anderen Sinn sehr schnell für sich erkannt: Bis an den Rand der Geschmacklosigkeit wurden „Star Wars“ und danach viele andere Filme Teil eines umfassenden Merchandisings. Allein das Videospiel zur Matrix-Trilogie machte Film-Nebendarstellerin Jada Pinkett Smith zur Multimillionärin.
Die zweite Gemeinsamkeit ist die Konzentration auf die Zukunft. „Was war” und „was ist” werden unbedeutend, nur das Morgen zählt. Wer werden wir sein, wo werden wir sein und was werden wir tun? Werden wir Verbrechen vorhersagen können („Minority Report“), werden wir Menschen unendlich klonen können („The 6th Day“) oder noch wichtiger: Werden Raumschiffe in die Tiefen des Alls fliegen können, „dahin, wo noch nie zuvor ein Mensch gewesen ist“ („Star Trek – The Next Generation“)? Man weiß es nicht, aber träumen wird ja wohl noch erlaubt sein. Solche erzählende Kultur sollte immer ein wenig visionär sein. Bei Thomas Manns Vision von Hitler in „Mario und der Zauberer“ wird einem fast unheimlich zumute.
Es wird also klar, Science-Fiction spricht die Urinstinkte des Menschen an: Hoffnung, Neugier, Entdeckerdrang, Furcht, Gut gegen Böse – der Kampf den wir tagtäglich auch in uns austragen. Man instrumentalisiert diese Instinkthaftigkeit nahezu, allein die Titel verraten es: „Trek” = Weg, „Voyager“ = Entdecker, „Enterprise“ = Unternehmung, „Stargate” = Sternentor.
Filme brauchen Motive, sei es explizit durch Namen oder implizit durch Prinzipien. Während in Kriegsfilmen das „Leave-no-man-behind“-Prinzip dominiert, ist es bei Science-Fiction die Erforschung der „Great Barrier“. Motive müssen aber bekannt sein, um sie zu erkennen – die schönste Metapher ist bedeutungslos, wenn sie niemand versteht. Die Motive des Science-Fiction-Films sind nicht neu, Amerika kennt sie längst durch seine Geschichte und soll sie nie vergessen. Einst war der mittlere Westen selbst die „Great Barrier” und konnte überschritten werden, so wie es uns der Film auch für das All und alles andere verspricht.
Widmet man sich der Science-Fiction, kommt man vor allem an deren drei Urvätern nicht vorbei: Fritz Lang, Gene Roddenberry und George Lucas. Letzterer, der 1969 mit dem Sci-Fi-Thriller „THX 1138“ seine Karriere begann – daher übrigens auch der Name seines Tonformats – wird in diesem Mai versuchen, die Geschichte seiner Science-Fiction-Saga „Star Wars“ fortzuschreiben, wenn er mit Episode III den Bogen zu den drei Klassikern schlägt.
Doch was macht die Magie von Science-Fiction und von „Krieg der Sterne“ im speziellen aus? Dass unsere Träume und Hoffnungen beflügelt werden, ist das eine, doch vor allem vereinen Filme wie „Star Wars“ viele Genres. Ein Sci-Fi-Film bietet Western, Liebesfilm, Märchen und vieles mehr in einem. Gut gegen Böse, unsere innere und äußere Welt wird uns mit einer seltenen Klarheit präsentiert und in allen Facetten bebildert. Man erinnert uns stets an unsere eigenen kleinen Aufgaben im Alltag, denn Filme wollen Menschen beflügeln. „Pretty Woman“ zeigt, dass jeder alles erreichen kann, „E.T.“ lehrt, dass wir nicht allein sind und „The Day after Tomorrow“ hält uns an, die Natur zu respektieren. Ethische Grundlagen vermittelt bekommen und Lebensentwürfe für das eigene Handeln finden – so lautet die Devise. Luke Skywalker zerstört den Todesstern, wir helfen einer alten Dame, ihre Tasche zu tragen. Der Maßstab ist egal, die Gestik zählt.
Wenn einen dann irgendwann die wirkliche Welt wieder einholt, mag sie einem klein und fern erscheinen und doch ist es genau das, worum es bei Science-Fiction geht. Ein bisschen Träumen mitzunehmen oder vielleicht sogar den Mut zu sammeln und sich etwas von alle dem selbst erfüllen. Zukunft und Emotionen sind der „Stoff aus dem die Träume“ sind – Träumer dieser Welt vereinigt euch.
Geschrieben von Joel Kaczmarek
von Archiv | 17.05.2005
Ein Blick hinter die Kulissen eines Deutsch-Thailändischen Hilfsprojekts
Bang Sak war ein Dorf der Morgans. Sieben Kilometer nördlich von Khao Lak gelegen, wurde es am 26. Dezember 2004 so gut wie vollständig zerstört. Von der unvorstellbaren Kraft des Tsunamis ist in den westlichen Medien nur noch wenig zu finden.
Wiradech „Willi“ Kothny landete am 27. Dezember in Phuket. Zunächst half er als Übersetzer in verschiedenen Krankenhäusern, was ihm bald aber sinnlos erschien.
Die Morgans sind ehemalige Seezigeuner, die sich vor ungefähr 100 Jahren in Bang Sak niedergelassen haben. Sie werden von der thailändischen Regierung eher geduldet als geachtet, gelten als New-Thais, eine Minderheit. Am 05. Januar kam Willi Kothny ins Dorf, redete mit dem Dorfältesten und um 18 Uhr stand das „Project“.
Womit fängt man an, wenn man vor riesigen Bergen angeschwemmter Trümmer steht? Selbst in Katastrophenzeiten geht nichts ohne eine Baugenehmigung, alle Behörden sind denkbar ausgelastet, große Hilfsorganisationen verwenden gespendete Gelder für organisatorischen Krimskrams. Überall Chaos, Wirrwarr, Durcheinander – und es ist nicht die Rede von unaufgeräumten Schreibtischen, sondern von Autorwracks, Baumstämmen und Schlimmerem.
Das „Project“ wuchs aus sich selbst heraus. Nicht von oben herab, sondern zusammen mit den Morgans entwickelte sich ein Konzept, das seinesgleichen sucht. Die Baupläne eines Architekten der Universität Bangkok kosteten nichts, wurden ohne den Behördenumweg abgestempelt und entsprachen den Wünschen der Dorfbewohner. Der „Willi hilft e.V.“ wurde gemeinnütziger Verein innerhalb weniger Tage gegründet und kommt mit einer Verwaltungsstruktur von ehrenamtlichen Helfern aus. Das kostet praktisch nichts, wodurch die kompletten Spendengelder – derzeitiger Stand: 450.000 Euro – direkt den Menschen und der Region zukommen.
Andere offizielle Organisationen benötigen einen großen und damit teuren Verwaltungsapparat. Sie müssen ihre Projekte über Umwege gestalten, es gibt immer irgendwelche Vermittler oder Behörden. Dadurch ist Korruption durch Dorfälteste, Landlords und thailändische Beamte gegeben. Geld versickert, bleibt stecken und keiner will es gewesen sein.
Ungefähr 70 Morgans waren in Bang Sak am Bau ihrer eigenen Häuser beteiligt und erhielten dafür den üblichen Tageslohn – finanziert aus dem Spendentopf. So wurde ihnen, die zumeist bis auf das eigene Leben nichts retten konnten, gleich doppelt geholfen. Helfen mochten aber auch andere. Insgesamt 14 Nationen versammelten sich, um dem „Project“ mit Fachwissen und Ausdauer zur Seite zu stehen. Vor allem aus Deutschland reisten Maurer, Zimmerleute, Feuerwehrmänner, Kriminalbeamte und Studenten auf eigene Kosten an. Familienväter, die ihren Jahresurlaub opferten und Selbstständige, die ihren Betrieb einfach mal für einen Monat schlossen. Mit dem Risiko Kunden, Aufträge und damit die eigene Existenzgrundlage zu verlieren. Sie riskierten sogar Leib und Leben. Seit Dezember gab es immer wieder neue Seebeben mit Tsunami-Warnungen, das Dorf musste mehrmals evakuiert werden.
Frauen wie Männer arbeiteten zusammen mit den Morgans über zehn Stunden täglich, sechs Tage die Woche, mit dem Ziel, den Dorfbewohner den Auszug aus den fensterlosen Holzbaracken zu ermöglichen. Dabei lernten sie gegenseitig voneinander: Wakkeligen Gerüsten mit „Thai-TÜV“ wurden Querverstrebungen hinzugefügt und als Metermaß reichte zur Not ein einfacher Strick mit zwei Knoten.
Ohnehin beschränkte sich das technische Arsenal auf ein Minimum. Eine größere Bohrmaschine, zwei Flexgeräte und eine Kreissäge. Hierzulande kaum denkbar, damit 30 Häuser zu bauen. Aus dem Trümmerfeld wurde wieder das Dorf Bang Sak. Es wurde viel improvisiert, aber nirgends geschludert. Immer wieder kamen neue Menschen mit neuen Ideen. „Die Leute fühlten, dass in diesem Projekt viel Herz steckt, auch wenn viele die Baustelle als das am besten organisierte Chaos ansehen“, so Willi Kothny.
Alles wurde darauf ausgelegt, nach Abschluss des Projektes möglichst selbstständig zu funktionieren. So bekam jedes Haus ein komplettes Abwassersystem anstelle eines einfachen Tanks. Das dauerte zwar länger und war aufwendiger, aber später wird es nicht nötig sein, die Anlagen leerzupumpen und es entstehen keine Folgekosten.
Auch wurde ein Wasserturm aufgestellt, der genügend Druck erzeugt, um die gesamte Region mit frischem Trinkwasser aus 30 Metern Tiefe zu versorgen. Bisher schöpften die Einheimischen aus zwei Meter tiefen Brunnen trübes Brauchwasser.
Am 9. April war es dann endlich soweit. Um die bösen Geister zu vertreiben, wurde das Dorf mit einem ohrenbetäubenden Knallfeuerwerk seinen Bewohnern übergeben. Gerade einmal drei Monate nach dem Tsunami und damit das erste fertiggestellte Projekt.
Die Häuser sind fertig, weiter geht es mit der Arbeit. Da es genügend Schulen gibt, die finanziell getragen werden, haben sich die Dorfbewohner für eine Nachhilfeschule entschieden. Mit dem Bau sieben weiterer Häuser außerhalb des Dorfes für soziale Härtefälle ist begonnen worden. Backpacker sollen die Gelegenheit haben, mit den Einheimischen auf Fischfang und Dschungeltour zu gehen, übernachten werden sie im geplanten Ressort. Ein Tsunami Tower wird Blickfang, Aussichtspunkt, Gaststätte und vor allem Rettungsmöglichkeit werden. 20 Boote werden auf Kiel gelegt. Es bleibt also spannend.
Nach und nach gehen alle Aufgaben in die Verantwortung der Morgans über. „Viele von den Dorfbewohnern haben sich inzwischen eine Existenz aufgebaut. Einer betreibt eine Möbelschreinerei, ein zweiter bekommt ein Zertifikat als Bootsbauer, ein dritter wird mit der Putzmaschine auf anderen Baustellen aushelfen. Schließlich wird es in Schule und Ressort weitere Jobs geben“, berichtet Eric Kothny, der Vater von Willi. Eigenverantwortung und Selbstständigkeit wiederherzustellen ist jetzt das Wichtigste. Das Hilfsprojekt selbst wird sich in den Hintergrund zurückziehen, ohne die Dorfbewohner alleine zu lassen.
Mit Blumen geschmückte Erdhügel zeugen davon, dass der Tsunami am 26. Dezember viel fortgerissen und Unheil gebracht hat. Er hat aber auch gezeigt, dass Menschen zusammenarbeiten und mit den einfachsten Mitteln etwas bewegen können. Für alle die daran teilhaben durften, ist es eine unvergessliche Erfahrung, die sich auf ihr weiteres Leben auswirken wird. Für alle anderen ist es ein Aufruf: Es gibt noch viel zu tun, an vielen Orten.
Mit Säberl und Schaufel
Wiradech „Willi“ Kothny. Als Säbelfechter zweifacher Bronzemedaillengewinner von Sydney. Welt-, Asien- und Europameister. Als Aufbauhelfer 30 Wohnhäuser in drei Monaten, Nachhilfeschule, Infrastukturgebäude und Boote im Bau, Tsunami-Tower und Ressort geplant.
Und sonst: Deutsch-/Thailänder, 25 Jahre, Studium der Kommunikationswissenschaft an der Bangkok International University – für Hilfsaktion unterbrochen. Übersetzter und Vermittler, mag die kleinen gelben Reclambändchen nicht.
Auf seiner Homepage www.kothny.de lassen sich neben aktuellen Berichten, weiteren Hintergründen und Aussichten auch Informationen zum Säbelfechten finden. In einem Archiv helfen Bilder, Briefe und Geschichten, einen tieferen Einblick in das „Project“ zu bekommen.
Geschrieben von Matthias Stiel
von Archiv | 17.05.2005
Eindrücke aus dem Südosten von Indien
Am Stadtstrand von Madras flattern die Planen im Wind, sie sind nur lose an Brettern befestigt. Vom Meer weht der Wind landeinwärts. Da liegt der Indische Ozean, der Golf von Bengalen, glitzernd in der Morgensonne, die Dünung legt die Wellen ganz sanft ans Ufer. Von hier aus kann man die St. Thomé Church sehen, dort sollen die sterblichen Überreste des Heiligen Thomas aufbewahrt sein.
Der Papst hat dort gebetet in der Krypta irgendwann in den Achtzigern. Die Kirche liegt leicht erhöht etwas weiter landeinwärts.
Ich stehe inmitten von Trümmern am Strand. Mit Ziegelsteinen doppelt gemauerte Wände liegen in faustgroßen Stücken vor mir –Häuser haben hier gestanden, für indische Verhältnisse sehr stabil gebaut. Davon ist nicht mehr viel übrig. Soweit man sehen kann, nur Ruinen. Weiter hinten steht ein einzelnes Haus, das den Wellen getrotzt hat, die hier am 26. Dezember 2004 auf Land getroffen sind.
Gebückte Gestalten zwischen diesen Steinen graben in den Trümmern noch immer nach etwas Verwertbarem. Mir kommen diese Bilder seltsam bekannt vor, aus Dokumentationen über den Zweiten Weltkrieg, über die Trümmerfrauen. Und auch wenn hier keine kriegerische Auseinandersetzung stattgefunden hat, diese Menschen in den Trümmern kämpfen – ums Überleben.
Die Planen flattern im Wind, sie sind ihr neues Zuhause, auf der anderen Straßenseite liegen die Überreste ihrer Häuser und hinter den Planen rauscht das Meer.
Und auch wenn hier keine kriegerische Auseinandersetzung stattgefunden hat, diese Menschen in den Trümmern kämpfen – ums Überleben.
Zwischen diesen Planen leben sie jetzt. Entlang der Küstenstraße bauen sie Slums. Sie, denen nun nur noch die Trümmer gehören. „Wir können nirgendwo anders hin, überall in der Stadt schickt man uns weg“, sagt mir ein Mann. Und da sie niemand auf seinem Grundstück weiter landeinwärts duldet, müssen sie am Strand bleiben. Ob sie Angst haben, frage ich, Angst, dass noch einmal etwas Ähnliches passiert. Der Mann schlenkert langsam mit dem Kopf – das heißt in Indien „Ja“. „Manche schlafen nicht mehr“, sagt er noch. Und wer schläft, der wacht unter dem Rauschen der Wellen morgens auf.
Lothar Kleipaß ist Entwicklungshelfer für den Internationalen Landvolkdienst Bad Honnef. Er betreut Projekte rund um die Welt und steht jetzt auf dieser Straße und schüttelt den Kopf: „Wenn hier in der Landeshauptstadt von Tamil Nadu die Versorgung nicht funktioniert, wie soll das dann auf dem Land aussehen?“
Der Staat hat Hilfe versprochen, hat auch versprochen, die Menschen umzusiedeln. Manche haben auch Soforthilfe bekommen – Fischerfamilien zuerst – sie haben bei der indischen Regierung Priorität. Sie haben sich davon Kochgeschirr gekauft und Lebensmittel. Was sie aber wirklich brauchen, ist eine Perspektive: Ein Boot, Netze. Vielleicht für die, die sich noch trauen, wieder raus zu fahren. Manche Frauen halten ihre Männer davon ab, wieder fischen zu gehen. Sie haben Angst, Witwen zu werden und sie kennen schon so viele andere Witwen.
Ein paar Tage später stehe ich auf einer Bühne in Mangalapuram und gen. Sie stammen von hier und sind in der Hoffnung auf einen Job in die Städte gegangen, nach Pondicherry oder Cuddalore. Jetzt kommen sie zurück. Anders als die Menschen am Stadtstrand in Madras haben sie Dörfer, Verwandte und eine Organisation, die sie aufnimmt. Es ist ein seltsames Gefühl, Hilfsgüter zu verteilen. Zwei Kamerateams sind da und Fotografen und sie sagen, ich solle in die Kamera schauen.
Meine Mitreisenden haben 16.000 Euro an Spendengeldern gesammelt. 168 Familien wird damit das Nötigste zum Bestreiten des Alltags finanziert. Ich verteile Eimer und Aluminiumtöpfe, Seife, Binden, Reis und Zucker und ich sehe diese Menschen und ich habe dieses Gefühl wie am Strand in Madras. Das Gefühl, dies alles wahrzunehmen und zu wissen, was hier passiert ist, aber ich kann es nicht wirklich verstehen, ich kann es nicht nachfühlen.
Es ist kein großartiges Gefühl, Hilfsgüter auszuteilen, es ist eher bedrückend. Vielleicht schämen sich diese Menschen auch. Menschen, die sonst gewohnt sind, selbst in den schlimmsten Notlagen eigene Lösungen zu finden, zu improvisieren, ihrem Karma entsprechend die Herausforderungen des Lebens zu ertragen und nicht aufzugeben.
Shiva ist der Gott, der nach indischem Glauben die Welt erschafft, zerstört und wieder neu erschafft. Er ist Zerstörer und Quelle der Erneuerung und Schöpfung zugleich. Vielleicht bedarf es einer solchen Gottheit für die Menschen in Tamil Nadu im Süden Indiens, um mit dieser unvorhersehbaren Katastrophe psychisch fertig zu werden und nicht an der Sinnlosigkeit zu verzweifeln.
Aber Shiva allein ist keine Stütze, es braucht Menschen und Geld, vor allem aber eine Perspektive für die Zukunft. Ein langfristiges Konzept, das die Betroffenen in vorhandene Strukturen integriert.
Lothar Kleipaß bemüht sich zum Beispiel um die Finanzierung von Nähmaschinen und Kühen, die durch ihre Milchproduktion für die Besitzer eine tägliche Einnahmequelle bedeuten. Kleinkredite zu guten Konditionen, um Geschädigten Straßenstände mit Lebensmitteln zu finanzieren.
Und bald darauf sitze ich im Flugzeug Richtung Frankfurt. Die Stewardess bringt das Essen und ich könnte auf zwölf verschiedenen Kanälen Unterhaltungsprogramme hören. Manchmal sehe ich noch die Bilder der Menschen an den Stränden, wo sie nun ausharren, monatelang, und ich habe mich kaum getraut, für die kurze Zeit, die ich dort war, dem Meer den Rücken zuzudrehen. Das alles ist so unwirklich – wie dieser Moment im Flugzeug, als ich über den Satz stolpere: „Schwimmweste unter ihrem Sitz“.
Geschrieben von Jonas Wipfler
von Archiv | 17.05.2005
Studieren und Feiern im wilden Nordosten
Im äußersten Nordosten der EU, südlich von Finnland, östlich von Schweden und nördlich von Lettland. Wir befinden uns auf einem Streifzug durch das ebenso kleine wie begeisternde Estland.
Während die Hauptstadt Reval (estnisch Tallinn, 400.000 Einwohner) das wirtschaftlich-politsche Zentrum Estlands ist, bildet Dorpat (estnisch Tartu, 100.000 Einwohner) mit seinen etwa 20.000 Studenten das geistig-intellektuelle Herz des Landes, in dem ich mich acht Monate als Austauschstudent aufhalte. Universität und Studenten prägen wie in Greifswald das Stadtbild. Es gibt viele Kneipen und Cafés und die Universität bekommt jedes Jahr mehr Geld vom Staat.
Ein kleiner Ausflug in die Geschichte ist im Baltikum Pflicht: Die 1632 vom Schwedenkönig Gustav II. Adolph als „Academia Gustaviana Dorpatensis“ gegründete Alma Mater wurde später wegen des Nordischen Krieges nach Pernau verlegt und 1802 als „Kaiserliche Universität zu Dorpat“ von den baltendeutschen Ritterschaften mithilfe des russischen Zaren wiedereröffnet.
Weltweite Bekanntheit erlangte sie vor allem im 19. Jahrhundert. In ihrem „goldenen Zeitalter“ brachte sie unter anderem Wilhelm Ostwald (Nobelpreis für Chemie 1909) oder Karl Ernst von Baer (Zoologe, Embryologe, Evolutionstheoretiker) und viele bedeutende Größen der Wissenschaft mehr hervor. Teilweise waren über 90 Prozent der Professoren und Studenten deutschsprechend.
Russisch-nationalistische Tendenzen und „Russifizierung“ führten 1919 als Abwehrreaktion zur ersten estnischen Unäbhangigkeitserklärung und der Neueröffnung als seitdem einzige estnischsprachige Volluniversität der Welt. Ein Faktum, auf das die etwa eine Million Esten mit Recht stolz sind. Auch die heutige schwarz-blau-weiße estnische Flagge entstammt einer hiesigen Studentenverbindung.
Seit der Wende hat sich viel getan, die Universität erneuerte viele alte Gebäude und baute neue, schloß Partnerschaftsverträge und ist in die „Coimbra-Group“ – einen Zusammenschluss alt-ehrwührdiger, europäischer Universitäten – aufgenommen worden.
Das wichtigste Thema für den studentischen Leser: Das Nachtleben. Drei altstadtnahe Diskotheken haben sechs mal die Woche geöffnet. Traditionelle Kneipen, in denen man auch gut essen kann, (vergleichbar mit dem „Alten Fritz“ oder der „Domburg“) gibt es zuhauf und der Preis von 40 Kronen (circa 2,55 Euro) für einen Liter zünftiges Bier kann durchaus animieren. Kneipenknüller sind ein umgebauter Pulverfaßkeller „Püssirohukelder“, das legendäre „Zavood“, das „Krooks“, der wilde Irish Pub oder das „Suudlevad Tudengid“ („küssende Studenten“) am Rathausplatz.
Dorpat ist ein idealer Ausgangspunkt für Ausflüge durch Estland sowie nach Lettland, Finnland, Litauen, Königsberg und allgemein Rußland. Jedoch sind gerade die kleinen Ausflüge in die estnische Landschaft, an die vielen Seen, auf die rund 2000 Inseln, den großen Peipussee im Osten und in die kleinen Dörfer die erlebnisreichsten und schönsten. Busse fahren fast überall hin und sind äußerst preiswert. Am besten ist es, mit dem Auto abseits der großen Fahrströme die estnische Wirklichkeit zu erkunden. Besondere Leckerbissen sind die vielen alten Herrenhäuser, zum Beispiel das nach schottischem Vorbild von Baltendeutschen errichtete Schloß in Alatskivi nordöstlich von Dorpat und die alten Ordensburgen. Letzter Tipp: Vom 30. Juni bis 07. Juli finden hier die internationalen Hansetage statt.
Fazit: Wer sich mit gemütlichen Esten einfach mal zehn Minuten anschweigen, morgens um drei von einem angeheiterten, rudimentär Deutsch sprechenden Russen eine halbleere Wodkaflasche spendiert bekommen oder einen amerikanischen Mormonen in der Disko begeistert tanzen und hüpfen sehen will, der sollte ein Auslandssemester in Tartu machen.
Nägemiseni („Auf Wiedersehen!“, „Bis bald!“)
Geschrieben von Jörg Weber