„Die Kinder Hurins“, ein posthum veröffentlichter Roman J.R.R. Tolkiens, von seinem Sohn Christopher Tolkien herausgegeben, erschien 2007 auf dem deutschen Markt. Können die Erwartungen der internationalen Tolkien-Gemeinschaft erfüllt werden?

Im 1980 veröffentlichten Buch „Nachrichten aus Mittelerde“ bekommt der Leser eine Vielzahl längerer oder kürzerer Geschichten aus dem Reich Mittelerdes zu lesen. Er erhält detaillierte Informationen zu Ilsidur, einer der tragischen Gestalten des „Herrn der Ringe“, der Sauron den Einen Ring abschlug und auf dem Gipfel des Schicksalsberges innerhalb einer Sekunde das Dritte Zeitalter einleitete. Der Leser erfährt, wie Geschichte, Stolz und Intrige ein Volk wie das der Numenor korrumpiert und zerstört. Der Leser bekommt eine Vielzahl knapper oder gediegener Fragmente vorgesetzt, die von der phantastischen Tragweite Tolkienscher Gedanken zeugen.
Von all diesen Geschichten sticht eine jedoch deutlich hervor: Die Geschichte Turin Turambars, Sohn Hurins. Dort, wo die Leser verzweifelt nach Luft gerangen haben, als sie die letzten Worte des Textes lasen; dort, wo sich das Schicksal Turins und seiner Familie zu überschlagen drohte, fand die Geschichte ein jähes Ende. Turin stand vor den Toren seiner Zukunft und die Geschichte hörte auf.

„Die Kinder Hurins“ beleuchtet diesen Teil des Buches genauer und lässt die Leser an den Geschehnissen rund um Hurin und seiner Familie teilhaben.

J.R.R. Tolkien hat in seinem Lebenswerk bereits eine Vielzahl nordischer Sagen und Mythen verwoben, um mit der Geschichte um den „Herrn der Ringe“ eine unermesslich große Welt zu schaffen. Eine Welt, in der Phantasie, Poesie und Epos vereint sind und sich zu einem Amalgam verbinden, dass seinesgleichen sucht. Aber bei all der Epik, die Tolkien beschreibt, besticht die Geschichte Hurins und seines Sohnes Turin durch ihre paradigmatische Natur. Kein anderes Werk Tolkiens zeigt so deutlich und bildreich, wie hoffnungslos schicksalsergeben Charaktere epischer Lyrik sind, wie viel Gewicht auf deren Taten liegt und wie schwer ihr eigenes familiäres Erbe wiegt.

Die Handlung des Buches, knapp gefasst, ist so dramatisch wie sie traurig ist: Hurin wird von seinem Widersacher Morgoth gefangengenommen und auf einem Berg angekettet, damit er sehen kann, wie sich die Geschichte seiner Familie entwickelt. Dessen Sohn, Turin Turambar, durchleidet in seinem Leben eine Vielzahl tragischer Erlebnisse, deren jeweiliger Ausgang bereits vorher prophezeit wird: Turin soll durch seine Handlungen sich und andere ins Unglück stürzen. Der Prophezeiung stets unbewusst folgend ist Turin Verursacher des Todes mehrerer Menschen, verliert im Kampf gegen einen Drachen sein Gedächtnis, schläft mit seiner Schwester und stößt sich letztlich in sein eigenes Schwert. Im Verlauf des Buches werden alle Personen, die Turin begegnen, seinem epischen Schicksal erliegen: Entweder sie sterben durch die Hand Turins, sie sterben durch ihre eigene Hand oder wirken massiv und unbewusst an der Spirale Turins Leben mit.
Keine der Personen ist in der Lage, diesem Kreislauf zu entrinnen oder ihn positiv zu verändern. Sie reflektieren ihre eigenen Handlungen nicht und das Verhältnis zwischen Wünschen und gottbestimmtem Schicksal ist unverrückbar.

Die von Christopher Tolkien zusammengefassten, erweiterten und kommentierten Fragmente seines Vaters beinhalten all jene Elemente, die die über lange Jahre angewachsene Tolkien-Leserschaft schätzen gelernt hat. Die Bildhaftigkeit des Epos, die Poesie der Fragmente und die Gewalt der Handlung übertrifft beinahe den „Herrn der Ringe“ und befriedigt vollkommen sämtliche Erwartungen, die man an dieses Buch stellen kann. Christopher Tolkien hat großartige Arbeit geleistet, als er die zahlreichen, jeweils knappen Fragmente des Vaters über Jahrzehnte geordnet und erweitert hat.
„Die Kinder Hurins“ ist kein Werk, das sich anbietet, in die Welt Tolkiens einzusteigen. Aber jene, die dessen phantastisches Werk bereits kennen- und schätzen gelernt haben, werden das Buch in Ehren halten: Als Ergänzung der tolkienschen Sagenwelt und als Abschluss des großen Fragments aus dem Buch „Geschichten aus Mittelerde“.

Geschrieben von tw