Über einen Italiener in Pommern

In schmerzlichster Verzweiflung reißt eine Schwangere ihre Hände im Betgestus in den dramatisch kolorierten Himmel, während sich die Blicke zweier ihrer Kinder auf die offene See richten, in der sich ein gekentertes Schiff abzeichnet; peripher eilen weitere Leute herbei, die dem Geschehen vom Strand aus nur hilflos zusehen können. Der mögliche Verlust des geliebten Mannes und Vaters wird zur Offenbarung größter existenzieller Not. – Ein „realistisches“ Bild?

 „Der Schiffbruch“, von 1958, ist eines der eindringlichsten Werke des italienischen Künstlers Gabriele Mucchi, eines Mannes, der bereits in seinen Lebensdaten (1899 – 2002!) deutlich macht, was seine Werke reflektieren: das 20. Jahrhundert, mit all seinem Kriegsleid, seiner ideologischen Polarisierung und der Suche der Moderne nach einer besseren Gesellschaft.
In all den Wirrungen und Strömungen, die dieses Jahrhundert hervorbrachte bewegte sich Mucchi als „Wanderer zwischen den Welten“, wie er sich später selbst bezeichnete und wie seine bewegte Biographie verdeutlicht:
Bereits nach dem Ersten Weltkrieg begann sich Mucchi neben seinem Bauingenieursstudium in der Opposition gegen Mussolini zu engagieren. In den 1920er und 1930er Jahren kam er mit den herausragenden Vertretern der italienischen Moderne in Kontakt. Künstler wie Giorgio De Chirico gehörten zu seinen Freunden und Bekannten. Seine Mailänder Wohnung wurde ab 1934 Treffpunkt antifaschistischer Künstler und Intellektueller. Im Zweiten Weltkrieg engagiert er sich im Partisanenkampf und tritt 1945 in die Italienische Kommunistische Partei ein. Seine Ambitionen, die vor dem Krieg in begrenztem Maße auch der Architektur und dem Möbeldesign galten konzentrierten sich nun auf die Malerei, da er überzeugt war, so einer „zivilen und sozialen Verantwortung“ gerechter zu werden.
Mit Interesse verfolgte er die Herausbildung der beiden deutschen Staaten und setzte seine Hoffung in die sozialistischen Ideale, die die DDR versprach. 1956 bis 1961 war Mucchi Gastprofessor für Malerei an der Kunsthochschule Berlin-Weißensee. Sein Leben war von nun an durch das Pendeln zwischen Italien und der DDR, zwischen Kapitalismus und Kommunismus bestimmt.
Seinem besonderen Interesse für die norddeutsche Küstenlandschaft, die er der mediterranen Adria gegenüberstellte, konnte er intensiv nachgehen, als er von 1960 bis 1962 eine Gastprofessur am Institut für Kunsterziehung der Universität Greifswald (aus dem das heutige Caspar-David-Friedrich-Institut hervorgegangen ist) annahm.

Mehr als „schmückendes Beiwerk“

Diese Verbindung zu unserer Universität gab nun im Jubiläumsjahr Anlass, mit einer umfangreichen Werkschau das Leben und Schaffen Gabriele Mucchis zu würdigen.
Mit über 200 Gemälden und Graphiken, zu denen Buchillustrationen zu Werken Brechts ebenso gehören, wie Entwürfe für Wandgemälde in der Grenzkirche von Alt-Staaken bei Berlin und der Fischerkapelle in Vitt bei Kap Arkona, ist dies eine der größten Ausstellungen zum vielseitigen Oeuvre des Italieners.
In Zusammenarbeit mit dem Vineta-Museum in Barth waren es vor allem Studierende des Caspar-David-Friedrich-Instituts, die durch mehrere Seminare und praktische Einsätze/… – vom Verfassen wissenschaftlicher Katalogtexte, über die Gestaltung der Plakate und Flyer bis hin zu Transport und Hängung der Exponate – zu einer äußerst ansehnlichen und repräsentativen Ausstellung beigetragen haben.
Bei der Vernissage, die am 6. Juni Hof hinter dem Hauptgebäude stattfand, dessen Ungestaltung der Musiker Thomas Putensen in diesem Kontext mit dem Wandel von einem kleinen Arboretum zu einem Exerzierplatz verglich, lobte Rektor Prof. Dr. Rainer Westermann die interdisziplinäre Zusammenarbeit zwischen Institut, Universität und Museum. Gleichzeitig zeigte er sich betrübt darüber, das Prof. Dr. Matthias Müller, der viele Jahre als Dozent und Vertretungsprofessor dem Lehrstuhl für Kunstgeschichte innerhalb und außerhalb der Universität prägendes Ansehen verlieh, in diesem Semester einen Ruf zur Universität Mainz angenommen hat. Prof. Müller, der bereits 2004 zusammen mit seiner Frau Dr. Melanie Ehler, der Leiterin des Vineta-Museums, das viel beachtete Ausstellungsprojekt „Schinkel und seine Schüler“ geleitet hatte, kündigte aber an, sich auch vom Rhein aus weiterhin dafür einzusetzen, dass die Kunst an der Greifswalder Universität mehr als nur „schmückendes Beiwerk“ bleibt.
Mit der Ausstellung „Wirklich wahr – Gabriele Mucchi und die Malerei des Realismus“ ist dies definitiv gelungen.
Wie weit sich der „Realismus“ nun in den Bildern zeigt, kann man noch bis zum 28. Juli 2006 im Uni-Hauptgebäude am Rubenowplatz erfahren. Vom 4. August bis 29. Oktober 2006 wird die Ausstellung dann im Barther Vineta-Museum zu sehen sein.
Mit seinem charakteristischen Schmunzeln kommentiert ein älterer Professor das drastische Gemälde „Der Schiffbruch“: „Ja, die armen Fischerfrauen in den Fünfziger Jahren … Also ich weiß noch, Aal war damals Mangelwahre und für die Fischerfrauen war das ein guter Zuverdienst – so arm waren die damals nicht …“

Geschrieben von Arvid Hansmann