Wer war der Bruder, der 1943 auf einem Russland-Feldzug zunächst beide Beine und dann das Leben verlor? Warum hat er sich freiwillig zur SS-Totenkopfdivision gemeldet? Was waren seine Motive? Und wie hat letztlich die Familie mit der Gesinnung und dem frühen Tod des 19-jährigen Sohnes umzugehen gelernt? Diesen und anderen Fragen stellt sich Uwe Timm. Er macht sich auf die Suche nach seinem 16 Jahre älteren Bruder Karl-Heinz, der nicht zuletzt durch das trauernde Nicht-Vergessen-Wollen der Mutter und das zornige Nicht-Vergessen-Können des Vaters ab- und zugleich anwesend ist.
Dank des Kriegstagebuches des Bruders, weniger persönlicher Erinnerungen und den Erzählungen von Schwester und Eltern, weiß der Autor, sich dem fremden Bruder, der eigenen sowie der gesamtdeutschen Vergangenheit zu nähern. Darüber hinaus schildert Uwe Timm das Schicksal und den Zustand einer Familie in Zeiten des Krieges. Der Vater versucht als Soldat, Pelzmantelhersteller, Präparator und Familienvater glücklich zu werden, doch scheitert er letztlich an eigenen Ansprüchen und gesellschaftlichen Bedingungen. Die Mutter, stets treu und ergeben, unterstützt Vater und Sohn in allen Belangen. Obwohl sie an der Richtigkeit des Krieges zweifelt, fügt sie sich dem Schicksal stumm und kritiklos. Die wirklichen Ausmaße des nationalsozialistischen Terrors werden ihr schließlich erst durch den Tod des ältesten Sohnes bewusst. Schwester und Bruder des Verstorbenen wachsen indes mit einem Bild des Bruders auf, das zwischen Bewunderung und Verachtung, Fragwürdigkeit und Schuldzuweisung schwankt. Uwe Timm als einzig noch lebendes Mitglied dieser Familie hat es sich nun zur Aufgabe gemacht, diese Widersprüchlichkeit zu ergründen. Behutsam und zugleich schonungslos zeichnet Uwe Timm ein alltagsnahes Bild der Kriegs- und Nachkriegswirklichkeit in Deutschland und analysiert, ohne anzuklagen, Motive, menschliche Abgründe sowie die Frage nach Schuld und Verantwortung. Dem älteren Bruder hingegen blieben diese Worte einst verwehrt, denn er beendete seine Tagebucheinträge mit einem für seine Generation bezeichnenden Satz: „Hiermit schließe ich mein Tagebuch, da ich es für unsinnig halte, über so grausame Dinge, wie sie manchmal
geschehen, Buch zu führen.“
Geschrieben von Grit Preibisch