Studieren und Feiern im wilden Nordosten
Im äußersten Nordosten der EU, südlich von Finnland, östlich von Schweden und nördlich von Lettland. Wir befinden uns auf einem Streifzug durch das ebenso kleine wie begeisternde Estland.
Während die Hauptstadt Reval (estnisch Tallinn, 400.000 Einwohner) das wirtschaftlich-politsche Zentrum Estlands ist, bildet Dorpat (estnisch Tartu, 100.000 Einwohner) mit seinen etwa 20.000 Studenten das geistig-intellektuelle Herz des Landes, in dem ich mich acht Monate als Austauschstudent aufhalte. Universität und Studenten prägen wie in Greifswald das Stadtbild. Es gibt viele Kneipen und Cafés und die Universität bekommt jedes Jahr mehr Geld vom Staat.
Ein kleiner Ausflug in die Geschichte ist im Baltikum Pflicht: Die 1632 vom Schwedenkönig Gustav II. Adolph als „Academia Gustaviana Dorpatensis“ gegründete Alma Mater wurde später wegen des Nordischen Krieges nach Pernau verlegt und 1802 als „Kaiserliche Universität zu Dorpat“ von den baltendeutschen Ritterschaften mithilfe des russischen Zaren wiedereröffnet.
Weltweite Bekanntheit erlangte sie vor allem im 19. Jahrhundert. In ihrem „goldenen Zeitalter“ brachte sie unter anderem Wilhelm Ostwald (Nobelpreis für Chemie 1909) oder Karl Ernst von Baer (Zoologe, Embryologe, Evolutionstheoretiker) und viele bedeutende Größen der Wissenschaft mehr hervor. Teilweise waren über 90 Prozent der Professoren und Studenten deutschsprechend.
Russisch-nationalistische Tendenzen und „Russifizierung“ führten 1919 als Abwehrreaktion zur ersten estnischen Unäbhangigkeitserklärung und der Neueröffnung als seitdem einzige estnischsprachige Volluniversität der Welt. Ein Faktum, auf das die etwa eine Million Esten mit Recht stolz sind. Auch die heutige schwarz-blau-weiße estnische Flagge entstammt einer hiesigen Studentenverbindung.
Seit der Wende hat sich viel getan, die Universität erneuerte viele alte Gebäude und baute neue, schloß Partnerschaftsverträge und ist in die „Coimbra-Group“ – einen Zusammenschluss alt-ehrwührdiger, europäischer Universitäten – aufgenommen worden.
Das wichtigste Thema für den studentischen Leser: Das Nachtleben. Drei altstadtnahe Diskotheken haben sechs mal die Woche geöffnet. Traditionelle Kneipen, in denen man auch gut essen kann, (vergleichbar mit dem „Alten Fritz“ oder der „Domburg“) gibt es zuhauf und der Preis von 40 Kronen (circa 2,55 Euro) für einen Liter zünftiges Bier kann durchaus animieren. Kneipenknüller sind ein umgebauter Pulverfaßkeller „Püssirohukelder“, das legendäre „Zavood“, das „Krooks“, der wilde Irish Pub oder das „Suudlevad Tudengid“ („küssende Studenten“) am Rathausplatz.
Dorpat ist ein idealer Ausgangspunkt für Ausflüge durch Estland sowie nach Lettland, Finnland, Litauen, Königsberg und allgemein Rußland. Jedoch sind gerade die kleinen Ausflüge in die estnische Landschaft, an die vielen Seen, auf die rund 2000 Inseln, den großen Peipussee im Osten und in die kleinen Dörfer die erlebnisreichsten und schönsten. Busse fahren fast überall hin und sind äußerst preiswert. Am besten ist es, mit dem Auto abseits der großen Fahrströme die estnische Wirklichkeit zu erkunden. Besondere Leckerbissen sind die vielen alten Herrenhäuser, zum Beispiel das nach schottischem Vorbild von Baltendeutschen errichtete Schloß in Alatskivi nordöstlich von Dorpat und die alten Ordensburgen. Letzter Tipp: Vom 30. Juni bis 07. Juli finden hier die internationalen Hansetage statt.
Fazit: Wer sich mit gemütlichen Esten einfach mal zehn Minuten anschweigen, morgens um drei von einem angeheiterten, rudimentär Deutsch sprechenden Russen eine halbleere Wodkaflasche spendiert bekommen oder einen amerikanischen Mormonen in der Disko begeistert tanzen und hüpfen sehen will, der sollte ein Auslandssemester in Tartu machen.
Nägemiseni („Auf Wiedersehen!“, „Bis bald!“)
Geschrieben von Jörg Weber