Vor 50 Jahren rebellierten Studenten gegen den Staat

Wem ist nicht schon einmal die Gedenktafel im Audimax aufgefallen, auf der zu einer ?lebendigen Erinnerung? an mutige Studenten aufgerufen wird? Das Ereignis, an das hier erinnert wird, jährte sich dieser Tage zum fünfzigsten Mal.

Am 30. März 1955 herrschte in Greifswald Ausnahmezustand. Studenten zogen mit Sprechchören durch die Innenstadt, 211 von ihnen wurden wenig später verhaftet und einen Tag darauf brannte der Turm der Jakobikirche. Doch was war passiert? Am 22. März hatte das Politbüro der SED beschlossen, Militärärzte für die kasernierte Volks-polizei, den Vorläufer der Nationalen Volksarmee (NVA), auszubilden.
Auch in Greifswald sollte eine Militärmedizin installiert und die bisherige Ausbildung ziviler Mediziner in diese umgewandelt werden. Schnell verbreitete sich die Nachricht in der Stadt und da von der Universitätsleitung niemand eine Auskunft gab, ob die Medizinstudenten ihre Ausbildung zu zivilen Ärzten noch zu Ende bringen könnten, vereinbarten die Kommilitonen für den 30. März einen Vorlesungsboykott. Da auch dieser keine Ergebnisse brachte, zog man abends vom Klinikgelände in der Loefflerstraße zum Hauptgebäude, wo zu dieser Zeit die Fakultätsleitung mit dem verantwortlichen Staatssekretär zusammentraf. Da es in der Folge zu einem Gedränge kam, griffen die anwesenden Ordnungskräfte ein. Mit Schlagstöcken sollen sie auf die Studierenden eingeschlagen haben, 211 von ihnen wurden verhaftet. Die meisten kamen bereits einen Tag später wieder auf freien Fuß, nicht jedoch ohne sich verpflichtet zu haben, Stillschweigen über die Vorfälle zu wahren und sich nicht wieder an solchen Aktionen zu beteiligen. Die so genannten Rädelsführer zahlten einen höheren Preis.
Die damals sechsundzwanzigjährige Eva-Brigitte Winde wurde mit sieben Kommilitonen nach Rostock gebracht und dort eingesperrt. Vier Monate saß sie dort in Haft. ?Ich wusste gar nicht, wo ich war?, erinnert sie sich heute. Alle zwei Tage sei sie verhört worden, habe ansonsten nur alleine und ohne Beschäftigung in ihrer Zelle gehockt.
?Ich habe mich nicht klug benommen damals?, sagt sie über die Gründe ihrer langen Haft. So habe sie auf die Frage, wer ihr vom Studentenstreik erzählt habe, geantwortet: ?Und wenn ich es wüsste, würde ich es ihnen nicht sagen.? Auch die Tatsache, dass sie einigen Kommilitonen vom geplanten Vorlesungsboykott erzählte, habe die Haft für sie sicher verlängert. ?Damit war ich Agitator.?
Im Rückblick kommt der heute Sechsundsiebzigjährigen, die lange Zeit in der Studentengemeinde engagiert gewesen war, noch eine andere Vermutung. ?Vielleicht war das für die Stasi eine gute Gelegenheit, der Studentengemeinde etwas anzulasten?, meint sie heute.
Nach vier Monaten war die Haft in Rostock dann vorbei – und das ohne Gerichtsverhandlung. Eva-Brigitte Winde kehrte nach Greifswald zurück und konnte all ihre Prüfungen zu Ende bringen. ?Danach durfte ich mir sogar aussuchen, wo ich mein Studium beenden wollte? – eine Tatsache, die eher ungewöhnlich ist, denn damals war es üblich, dass die Studienorte zugewiesen wurden.
Frau Winde ging nach Jena – und wurde weiter von der Staatssicherheit beobachtet. ?Davon habe ich jedoch nie etwas gemerkt.? Erst vor einigen Monaten habe sie dies aus einer Akte erfahren.
Nein, stolz sei sie nicht auf das, was sie damals getan hätte. Jedoch: ?Es war eine wichtige Zeit in meinem Leben, die mich sicher geprägt hat.?

Geschrieben von Kai Doering