„Wir beurteilen die Welt nach der Ähnlichkeit, die sie mit ihren Bildern hat.“
(Hans Belting)
In der sternenklaren Nacht blickte ich in das weite Tal. Ein Meer von Lichtern tat sich vor mir auf. „Das ist wie in den Hollywoodfilmen, wo das Liebespärchen aus dem Auto auf L.A. runterschaut“, sagte ich zu der Kommilitonin neben mir. „Nein! Überhaupt nicht!“ sprach sie energisch. „Wir sind hier in Pamukkale in der Türkei und nirgendwo anders!“ Sie stampfte fast wütend mit ihrer Sandale auf den Boden.
Als ich den Vergleich mit dem Blick vom Montmartre auf Paris anführte, empfand sie das zwar als „schon besser“, aber dennoch in dieser Situation als völlig unangebracht. Was hatte ich falsch gemacht?
Ist es denn nicht die lebendige Phantasie, die einen kreativen Menschen auszeichnet? Doch wie „lebendig“ ist diese Phantasie? Von anderen Exkursionsteilnehmern fand ich Bestätigung, als ich den Hotelkomplex, in dem wir uns in dieser Nacht befanden mit Stanley Kubricks Stephen-King-Verfilmung „Shining“ in Verbindung brachte. Ich sah dieses „Ding“ im Schnee versinken und mich als einsamen Hausmeister durch die endlosen Flure schleichen. Doch gleichzeitig erschrak ich bei der Vorstellung, am Ende durch eine zerhackte Tür zu grinsen und zu rufen „Hi! Here’s Johnny!“.
An dieser Stelle kam mir nun die Frage, inwieweit dies die eigene Phantasie ist. Sollte dies nicht wieder zeigen, wie das multimediale Zeitalter in unsere persönliche Erlebniswelt eingreift? Hat es Kubrick nicht geschafft, einen sklavisch an die Introduktion des Films zu binden, wenn man das „Dies irae“ aus Hector Berlioz’ „Symphonie fantastique“ hört?
Dass solche „erworbenen“ Phantasien unser Bewusstsein bestimmen, ist sicher keine neue Erkenntnis. Dass die künstlich produzierten Bilder zunehmend eine solche Macht besitzen, dass sich selbst die Wirklichkeit nach ihnen richtet, gilt es doch zu bedenken.
Mit der Figur des Indiana Jones beispielsweise ist es George Lucas gelungen, ein Bild zu konstruieren, dem man unter den realen Umständen einer archäologischen Exkursion – in fast sehnsüchtiger Weise – meint nacheifern zu können. So kann ich auch nicht leugnen, meinen Strohhut über den funktionalen Aspekt hinaus in dieser konstruierten Tradition getragen zu haben, als wir in der sengenden Sonne abseits der Touristenströme durch die antiken Trümmerfelder marschiert sind. Es erfüllte einen mehr mit Forscherdrang, in mufflige Zisternen oder Grabmäler hineinzukriechen, als sachliche architektonische Rekonstruktionsversuche vorzunehmen.
Welch ein Assoziationsspektrum sich einem hier bieten könnte, zeigt, inwieweit die multimediale Reizaufnahme den Bogen auch überspannen kann. Als ich mir das ästhetisch zwar sehr innovative, aber faktisch extrem unappetitliche Machwerk „Sin City“ ansah, stellte ich mir die Frage, ob derartige Bilder wirklich notwendig sind, um eine Geschichte mit grotesker Ironie zu erzählen, die man auch noch für amüsant halten soll. Wenn sich Bruce Willis das Gehirn wegschießt, mag der abstrahierende Comiceffekt zwar vermeiden, dass man dem Kinobesucher in der Reihe vor sich in den Nacken kotzt, die dadurch produzierte Resignation wird einem aber auch so nicht genommen.
Wenn ich mir nun vorstelle, wie die gastfreundlichen anatolischen Bauern in dem (archäologisch zwar sehr interessanten, aber ansonsten im Niemandsland liegenden) Dorf Binbirkilise, die unsere ganze Exkursionsgruppe in ihrer kleinen Stube mit Fladenbrot, Honig und Tee bewirteten, auf diesen Film reagieren würden, ist es fast schon legitim, wenn der dortige Imam im Freitagsgebet gegen die „dekadente westliche Welt“ wettern würde. Die Bild-Zeitung könnte titeln: „’Sin City’ produziert Islamisten“.
Einer derartigen Pervertierung der Bilder lässt sich wohl nur durch entsprechende Askese entgegenwirken. Ein kompletter Entzug wird in unseren Tagen kaum möglich sein, jedoch sollte man sich darauf konzentrieren, die wirklichen Dinge in seinem Leben wahrzunehmen und daraus die eigene Fantasie zu schöpfen. Das war es wohl auch, was mir meine Kommilitonin sagen wollte: Genieße einfach den Augenblick! Das Lykostal liegt hier und jetzt in einer Weise vor uns, wie es nie wieder sein wird!
Geschrieben von Arvid Hansmann