Kurt Tucholsky hatte unrecht: „Alle vier Jahre tun wir so als ob wir täten,“ schrieb er 1931 über die Wahlen. Dabei wurde der Reichstag zu Tucholskys Zeiten schon weit öfter gewählt als alle vier Jahre, und ab 1933 lange überhaupt nicht mehr richtig. Jetzt tun wir wieder häufiger als ob wir täten um über das reale Defizit an Politik und Beteiligung hinwegzutäuschen.
Weil der Kanzler nicht mehr regieren will, sollen wir wählen. Dabei sind Wahlen für alle Beteiligten eine qualvolle Angelegenheit. Kandidaten müssen einen Sommer lang kleine Kinder küssen und Versprechen machen ohne sich dabei zu versprechen. Die Wahlberechtigten versuchen, sich zwischen den fiktiven Geschenkpaketen zu entscheiden. Nur für die nicht Wahlberechtigten sind Wahlen eine gelungene Unterhaltungsveranstaltung.
Im Herbst 2000 war ich gerade zwei Monate in New York, als ich in vier Tagen Wahlkampf mit dem Zettelverteilen für eine pro-Hillary-Clinton-Lobbygruppe meine Monatsmiete einspielte. Die Kandidaten hatten auf dubiose Spenden verzichtet, so dass der Geldsegen auf von den Lobbygruppen angeheuerte Wahlkämpfer fiel. Zur Europawahl 2004 war ich in Argentinien. Zusammen mit meinem Gastgeber begutachtete ich die Parteien, die auf dem Briefwahlzettel bekundeten, mich im Europäischen Parlament vertreten wollten. Ein halbes Dutzend dieser Parteien wollte Deutschland zu seinen christlichen Wurzeln zurückführen oder die deutsche Umwelt vor Ausländern schützem – und das im EU-Parlament. Bevor ich ihm das erklären musste, fand Martin den Namen Daniel Cohn-Bendit auf der Liste der Grünen. Ich sollte doch Dany Le Rouge wählen, sagte er. Das machte ich auch. Soviel Einfluss habe er noch nie auf EU-Politik gehabt, meinte er. Das alles ging auf die Rechnung meiner EU-staatsbürgerlichen Verantwortung.
Wenn ich keine Verantwortung für das Wahlergebnis habe, machen auch mir Wahlen spaß. So die U.S.-Präsidentschaftswahl 2004. Ich kann nur sagen: Ich war’s nicht, und ich hätte es auch nicht gewesen sein können. Mich fragt keiner, ob ich an der Grenze meine Fingerabdrücke hinterlassen oder meinen Nachbarn in den Krieg schicken möchte. Wenn man nicht wählen darf, sind Wahlen wie Kino. Wer will schon bei einer Tragikomödie mitspielen, wenn man sie unbeteiligt im Fernsehen verfolgen kann? Am 2. November nachts um halb drei mit Ungewissheit ins Bett gehen und am 3. November mittags heulen, wenn John Kerry wie der edle und weniger skrupellose Cowboy die Wahl stilvoll verloren gibt. Bei den Bushs wedeln junge Mädels so eifrig mit rot-weiß-blauen Fähnchen wie sie das auch in Kuba für den Revolutionsführer tun.
Bei welcher Liste soll ich im September mein Kreuz machen, an meinem Küchentisch weit weg? „Es is so ein beruhjendes Jefiehl. Man tut wat for de Revolutzion, aber man weeß janz jenau: mit diese Partei kommt se nich.“ Und das ist wichtig. Das wusste schon Tucholsky. Let the games begin: Wer Preisrichter ist, muss auch abstimmen. Nur die anderen dürfen sich über das Ergebnis beschweren. Das sind die Regeln.
Geschrieben von Christiane Wilke