Deutschland versinkt im politischen Ausnahmezustand
Was hat die vorgezogene Bundestagswahl am 18. September uns nicht alles beschert – gleich zwei Regierungsaufträge mit Ansprüchen auf das Kanzleramt, drei kleine Parteien, die um fast jeden Preis in die Opposition gehen wollen, und mit tollen Neuwörtern wie Schwampel- („schwarze Ampel“) oder Jamaika-Koalition gleich auch noch ein paar Kandidaten für das Unwort des Jahres.
Dem geneigten Beobachter bietet sich ein spannendes und zugleich bizarres Bild eines politischen Ausnahmezustandes, mit dem vor dem 22. Mai dieses Jahres, dem Tag der nordrhein-westfälischen Landtagswahl, niemand gerechnet hätte. Seitdem haben sich die Ereignisse überschlagen. Der Kanzler und sein Parteivorsitzender Franz Müntefering kündigten nach einer weiteren Wahlschlappe für den Herbst Neuwahlen an, dann stellte Schröder am 1. Juli im Bundestag die Vertrauensfrage, um die Auflösung des Parlaments zu bewirken. Bundespräsident und Verfassungsgericht befanden dieses Vorgehen für rechtmäßig, und schon waren wir in der Endphase des Wahlkampfes.
So umstritten das Vorgehen bis hier auch gewesen sein mag – dadurch, dass das Sommerloch ausfiel und die Medien voll waren mit Meldungen über Parteiaufstellungen, Konzepte und politische Inhalte, hatten sicherlich einige Bürger ihr Interesse an der Politik wiederentdeckt. Aber alles, was danach kam, glich einer Mischung aus Seifenoper, Polemik und Kindern im Sandkasten: Es wurde gestritten, teilweise auf niedrigstem Niveau, Politiker präsentierten sich ungewohnt selbstgefällig in medialen Foren, die wie Pilze aus dem Boden schossen, Personen wurden verheizt, und vor allem wurden Absagen erteilt an fast alle möglichen Koalitionskonstellationen, frei nach der Devise „mit dem kann und will ich nicht spielen“.
Und hier ist der Punkt, an dem sich die politische Elite dieses Landes fast ausnahmslos an die Nase fassen und eingestehen kann, dass ihre Strategien nach hinten losgegangen sind. Man kann es den Menschen nicht übelnehmen, dass sie das Gerede nicht primär als Taktiererei zur Mehrheitsbeschaffung sondern auch als Arroganz auslegen und sich enttäuscht abwenden. Ein ehrlicher, fairer und darüber hinaus sachpolitischer Wahlkampf sieht anders aus.
Die Quittung bekamen die großen Parteien aber nicht nur von den Nichtwählern, sondern auch von jenen, die an die Urnen gingen, um ihre Stimme abzugeben. Die CDU/CSU wurde mit 35,2 Prozent stärkste Kraft im Parlament, gefolgt von der SPD mit 34,3 Prozent der Wählerstimmen. Für die vor der Wahl so vollmundig propagierte Wunsch- und eigentlich einzig mögliche Partnerschaft reicht es also bei keinem von beiden, und das scheitert nicht an den „Juniorpartnern“ FDP (9,8 Prozent) und B’90/Grüne (8,1 Prozent). Die lachende Dritte beziehungsweise Fünfte war am Wahlabend die Linkspartei mit 8,7 Prozent, ansonsten gab es eigentlich nur Verlierer in verschiedener Hinsicht, die sich als Gewinner feiern ließen.
Das alles wäre noch kein Drama gewesen, aber der Machtpoker ging auch nach der Wahl weiter. Die Sondierungsgespräche mit den kleinen Parteien gingen erwartungsgemäß ohne Ergebnis aus, da weder eine rote noch eine schwarze Ampel von FDP und Grünen gewünscht und eine Zusammenarbeit mit der Linken von vornherein ausgeschlossen wurde. Inwiefern hier tatsächlich sachpolitische Differenzen oder persönliche Antipathien ausschlaggebend waren, bleibt unklar und nur noch die große Koalition als Ausweg, wenn aus dieser Wahl eine Exekutive hervorgehen soll. Deswegen verwundert es umso mehr, dass die Bildung einer schwarz-roten Regierung jetzt so kompliziert wird, zumal diese Konstellation in drei Bundesländern regiert und faktisch auch auf Bundesebene die letzten Jahre tätig war, nämlich in Form des Vermittlungsausschusses von Bundestag und Bundesrat, der die großen Gesetzesvorhaben stets gemeinsam beriet und umsetzte.
Der Gedanke an eine Zusammenarbeit gefällt bisher keinem der beiden Großen besonders gut, am wenigsten den beiden Kanzlerkandidaten. Schröder tritt inzwischen zwar betont kompromissbereit auf und setzt sich für eine „Kanzlerrotation“ ein, befindet sich aber eigentlich in der schwächeren Position. Von Merkel hört man unterdessen wenig.
Innerparteilich wird derweil auf beiden Seiten fieberhaft über Möglichkeiten nachgedacht, den eigenen Bewerber zu inthronisieren; nach außen kämpft man vorsichtshalber weiter mit harten Bandagen. Das nervt, auch weil die dabei eingesetzte Rhetorik so scharf ist, dass eigentlich kein Ergebnis möglich ist, bei dem niemand sein Gesicht verliert, zumindest ein bisschen. Der im Vorfeld so viel beschworene Wähler schweigt jedenfalls und staunt, dass die Mächtigen eine völlig andere Wahrnehmung haben, nachdem er doch so klar geäußert hat, was er wünscht. Vielleicht sollte man einfach ein zweites Konklave 2005 in Erwägung ziehen.
Geschrieben von Katja Staack