Im Dezember 2011 kündigte die Universität Greifswald an, die systematische Aufzeichnung ihrer Geschichte während des Dritten Reiches in Angriff zu nehmen und hat dazu eine Internetseite eingerichtet. Universitätsarchivar Dr. Dirk Alvermann hielt im Juni 2012 einen Vortrag auf Einladung des Vereins zur Förderung der Wirtschaftswissenschaften in der Sparkasse Vorpommern, der sich mit der Universität Greifswald während des Dritten Reiches befasste.
Manchmal kann es etwas länger dauern, bis Artikel veröffentlicht werden. So wie hier, wo das Ereignis schon vor fast einem Jahr stattfand. Schuld daran war nicht etwa der Autor, sondern ein zerstreuter Chefredakteur. Doch endlich hat sich eine passende Gelegenheit ergeben, denn am Freitag und Samstag finden mehrere Vorträge statt, bei welchen die Universität Greifswald zur Zeit des Nationalsozialismus Thema sein wird.
Als Historiker glaube Alvermann an die Akzeptanz unumstößlicher Tatsachen. Das stehe in Konkurrenz zum gesellschaftlichen Konsens über das Geschehene. Es gehe um die Nachfolger, die eine Generation vom historischen Geschehen trenne. Die Nachfolger identifizierten Opfer und Täter, gehen auf Distanz oder Solidarität, um die eigene Position zu bestimmten. „Führt diese Sicht nicht dahin, dass man den Nationalsozialismus immer als die Geschichte der Anderen betrachtet, die uns zwar betroffen macht, aber nicht betrifft?“, fragte Alvermann.
Mehrheitsmeinung: Hochschulsystem nicht an NS-Verbrechen mitverantwortlich
Das Wissenschaftsentwicklung schreite voran, „sogar mit einer Geschwindigkeit, dass die Verstrickung von universitärer Forschung und Lehre in ein menschenverachtendes System, wie im Reagenzglas ausgefällt wird. Zurück bleibt ein gereinigtes akademisches Renommee und ein nazistischer Bodensatz. Das Ergebnis im Reagenzglas der Zeit macht einen schließlich glauben, dass ein an professionellen Standards orientiertes Hochschul- und Wissenschaftssystem nicht für NS-Verbrechen mitverantwortlich gemacht werden könne. Es unterstützt dabei das Bild von der unpolitischen Wissenschaft, die in einer Nische überdauerte. Es hilft daran zu glauben, dass die Idee der Universität als solche, in dieser Zeit unbeschädigt blieb“, was einer Mehrheitsmeinung entspreche.
„Nationalsozialistische Studentenschaft war Motor der Faschisierung der Universität.“
Die NSDAP habe „rassisch und politisch motivierte Säuberung des Lehrkörpers und der Studentenschaft“ gewollt. Die demokratischen Kräfte verloren den Rückhalt ihrer Kollegen und sahen sich schutzlos den Angriffen der überwiegend nationalsozialistischen Studentenschaft, die der Motor der Faschisierung der Universität gewesen seien, schon vor 1933 ausgesetzt. Mit dem Gesetz der Wiederherstellung des Berufsbeamtentums 1933 konnten „Nichtarier“ entlassen werden, gefolgt von einer zweiten Säuberungswelle mit den Nürnberger Gesetzen 1935. „Dieser Säuberung fielen etwa 16 Prozent des ganzen Lehrkörpers an Universitäten zum Opfer, in Greifswald waren es 11 Prozent oder 24 Hochschullehrer.“ Ein Hochschullehrer sei zum Arbeitslager verurteilt worden, ein anderer habe unter schweren Repressionen wie Beschlagnahmungen und Hausdurchsuchungen gelitten.
Einer von ihnen war Konrad Ziegler, der die Verleihung der Ehrendoktorwürde für einen jüdischen Theaterregisseurs 1928 mitbeantragt hatte, allerdings erfolglos. Der Altphiloge Ziegler hatte mit für die Entlassung des Rektors Theodor Vahlen (NSDAP) 1927 gesorgt. Danach folgten Auseinandersetzungen mit nationalsozialistischen Studenten. 1933 erhielt Ziegler seine Beurlaubung aufgrund „nationaler Unzuverlässigkeit“, habe sich aber nicht angepasst und sogar beim Verstecken oder der Flucht von Juden geholfen.
Profil der Hochschulen änderte sich durch NS-Forschungsförderung
Auch das Profil der Hochschule habe sich geändert. „Vor der Machtübernahme hatten nur eine Handvoll Dozenten der NSDAP angehört. 1937 waren es fast ein Drittel, in der Rechts- und Staatswissenschaftlichen Fakultät sogar 90 Prozent“, führte Alvermann aus. Von da an habe sich die NSDAP die Wissenschaft für ihre wirtschaftlichen und militärischen Programme zu nutze gemacht. „Man wollte lange nicht wahrhaben, in welch hohem Maße der Nationalsozialismus die Universitäten nicht nur personell, sondern auch ideell infiltriert und ihr Profil verändert hat“, so Alvermann. Ein typischer Funktionsmechanismus war die staatliche, militärisch und politisch verzwickte Forschungsförderung, die „insbesondere nach dem Beginn des zweiten Weltkrieges einen höheren Einfluss auf die Profilbildung der Universitäten genommen [hat], als die regulären Etats.“ Sie habe der Freiheit der Forschung den Boden entzogen.
Die Universität Greifswald sei zu unbedeutend und zu klein gewesen, um im größeren Umfang am System der NS-Auftragsforschung teilnehmen zu können, aber sie habe es beispielsweise mit rassenhygienischen Forschungen versucht. Oder mit der Neuausrichtung des Nordischen Instituts, welche nach Aufteilung in Landesinstitute „gezielte nationalsozialistische Aufbauarbeit gegenüber den sogenannten artverwandten Völkern“ zu propagandistischen oder nachrichtendienstlichen Zwecken geleistet hätten. 1936 wären die Naturwissenschaften und die Medizin in Greifswald mit wehrphysikalischen und wehrmedizinischen Schwerpunkten hinzugekommen. Andere Projekte seien gescheitert, beispielsweise ein „Südost-Institut“. Hierfür hätte die Universität sogar die Theologische Fakultät geopfert. Stattdessen sei das Institut mit den in Greifswald vorhandenen Wissenschaftlern als „Oder-Donau-Institut“ in Stettin errichtet worden, beispielsweise der Bevölkerungsforschung mit der Erschließung von Arbeitskräftereserven im Sinne der Kriegswirtschaft. Zu diesem Institut bestehe noch ein hoher Forschungsbedarf zur Aufklärung, so Alvermann.
Fazit
Abschließend fasste Alvermann zusammen: „Dieser Umstand und die Geschichte selbst verrät etwas über uns, unseren Umgang mit Geschichte und unsere Fähigkeit sie zu bewältigen. Letzten Endes wird uns das nur gelingen, wenn wir neugierig bleiben, wenn wir wirklich verstehen wollen, was da passiert ist, wenn wir Fragen stellen und nicht annehmen, dass ohnehin schon alles gesagt sei.“
Fotos: David Vössing
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