Im Rahmen des Nordischen Klangs lud das Café Koeppen am 5. Mai zu einer Lesung des Romans „101 Reykjavik“ vom isländischen Autor Hallgrimur Helgason ein. Auf der Vulkaninsel besitzt das Buch seit langem Kultstatus – die vorgelesenen Auszüge lassen erahnen warum.
Trotz später Stunde, die Lesung begann erst gegen 22 Uhr, war das Café Koeppen randvoll gefüllt. Eifrig holte man sogar noch Stühle heran, so dass jeder Platz bekam. Als auch der Mittelgang vollständig zugebaut war, kam Christian Holm herein, jener der vorlesen sollte. Holm ist Schauspieler, seit 2002 gehört er zum Ensemble des Theaters Vorpommern. Kurze Zeit später: Licht abgedimmt und los ging es. Stop. Zwei Personen kommen von der Terrasse rein, biegen und krümmen sich pflichtschuldig überzeichnet leise stelzend durch den schmalen Gang Richtung Ausgang. Zweiter Anlauf.
Komödie eines Losers
Protagonist der Geschichte ist Hlynur Björn, der als Ich-Erzähler auftritt. Vorgestellt wurde noch Sarah, die neue Freundin von seinem Papa. Und Lolla, die neue Freundin seiner Mutter. Alles spielt in Reykjavik, genauer: in dessen Altstadt mit der Postleitzahl 101.
Björn nun ist etwas träge, eher langweilig, arbeitslos, weiß nichts so recht mit sich anzufangen. Er lebt immer noch bei seiner Mutter. Sein Alltag ist redundant. Erst spät wacht er auf, schnell surrt der Computer. Er unterhält sich – wie wohl so oft – sinnlos mit seinem Vater, der, weil verstört darüber dass seine Frau nun lesbisch ist, wieder mal sturzbetrunken ist. „Unterm Strich kommt heraus, dass ich sein Sohn und er mein Vater ist“, liest Holm vor. Den Tag mit Computer und Pornos überwunden, verbringt Björn die Nächte meist mit Freunden in Kneipen und Clubs.
Ebenso karg wie sein tägliches Einerlei stellt sich auch sein Beziehungsleben dar. Das mag vielleicht auch daran liegen, dass Björn generell jede Frau zunächst danach bewertet, wie viel er für sie zahlen müsste um mit ihr zu schlafen. Denn meistens wäre der finanzielle Einsatz zu groß. Mit Hofy zumindest schläft er hin und wieder. Allerdings scheint sie weniger feste Freundin als vielmehr Partnerin für ein gemeinsames Schäferstündchen zu sein. Eines Silvesterabends schläft er schließlich mit Lolla, der lesbischen Freundin seiner Mutter. Beide, Hofy und Lolla, erklären ihm später, sie seien schwanger. „Mein Glied schrumpfte zusammen, als ob es jetzt noch nicht zu spät wäre“, so Björns´ Gefühlshaltung. Verantwortung zu tragen, sich binden zu müssen, das ist nicht seins.
Halbzeit. Pause. 10 Minuten später, Christian Holm mit leicht trockener Stimme: „Kann ich noch ein Becks haben?“ Bedienung: „Klar doch.“ Plop! Musik aus, Licht gedimmt – weiter geht´s.
Nun verdichtet sich die Geschichte zunehmend. War der Loser Björn bisher nur aus dem Subtext ersichtlich, so kommt nun zum Vorschein, dass auch er selbst sich als solchen sieht. Etwa wenn er in den Eisschrank schaut und danach konstatiert, dass dieser genau so kalt und leer wie er sei. „Versager. Ich verbrauche nicht mal ein Päckchen Pariser pro Jahr“ und „Ich bin ein Feigling“, bricht es aus ihm teils konsterniert, teils deprimiert heraus. Auch andere, wie etwa Lolla, sagen ihm offen: „Suche einen Sinn. Suche Arbeit. Versuche ein Leben zu finden.“
Ein Taugenichts mit Verständnisschwierigkeiten und oftmals abstrusen, aber allemal lustigen, Weltdeutungen. Ein Loser, der selbst wenn er in das Zimmer geht, wo zwei Menschen gerade Sex haben, sich in die Ecke in den Korbstuhl setzt und zusieht, geduldet wird. Gerade dieser Teil versinnbildlicht, wie gutmütig und ausdauernd die Menschen ihm gegenüber scheinen, ja geradezu nachgiebig – aus Mitleid. So ergeben sich tragisch-komische Situationen, bei denen sich der Leser nicht einer gewissen Sympathie für den Antiheld erwehren kann.
Der Roman wird auf erfrischende Art frech und dynamisch erzählt, gespickt mit Einfallsreichtum, vielen Wortneuschöpfungen und subtilen Wortwitz, unterlegt mit amüsanten Metaphern und Gesprächen im Stakkato-Stil. Dann und wann scheint auch Björns lebensgetränkter, herber Zynismus und Sarkasmus durch. Ansätze einer Gesellschaftsatire sind ebenfalls enthalten, wenn etwa Island als „windiges Arschloch“ beschrieben wird. Besonders vergnüglich aber sind Björns Monologe im Ecstasy-Rausch. „101 Reykjavik“ brilliert mit grandioser Erzählweise.
23:25 Uhr ist Schluss im Koeppen. Ende der Lesung. Ein heiter gestimmtes und oftmals laut lachendes Publikum spendet ausgiebigen Applaus. Denn, so gut die Textvorlage auch war, Christian Holm hat sie vorzüglich lebhaft vorgetragen.