Die deutsche Geschichte nach dem Ersten Weltkrieg ist in der Öffentlichkeit vergleichsweise stark präsent. Die deutsche Kolonialzeit dagegen steht kaum im Diskurs, obwohl sie eigentlich nicht weniger bedeutsam und problematisch war.

Spät entstandenes und sehr kleines Kolonialreich

Im Vergleich zu vielen anderen europäischen Staaten begann Deutschland seine Kolonialpolitik sehr spät. Erst in den 1880er Jahren wurden einige Kolonien erworben. Hintergrund war die äußerst späte Entstehung eines deutschen Nationalstaats im Vergleich zu vielen anderen Staaten Europas, die 1871 mit der Gründung des Deutschen Kaiserreichs erfolgte. Daher wollte vor allem Reichskanzler Otto von Bismarck die etablierten Staaten nicht durch ein Kolonialreich weiter verunsichern. Durch das Drängen der Koloniallobby und vor allem des dritten deutschen Kaisers, Kaiser Friedrich Wilhelm II., König von Preußen, war er jedoch gezwungen, diese Haltung zu ändern und deutsche Kolonien zuzulassen. So erhielt das Deutsche Kaiserreich Kolonien in Afrika, Ostasien, dem südlichen Pazifik und der Karibik. Dennoch war das deutsche Kolonialreich sehr viel kleiner als die meisten anderen. Die vorhandenen Kolonien waren dem Deutschen Kaiserreich daher besonders wichtig, auch wenn sie wie bei allen Kolonialmächten zwar Prestige brachten, aber wirtschaftlich ein Verlust waren.

Verbrecherische Kolonialherrschaft

Die Kolonialisierung vor Ort verlief bei den Deutschen wie bei den anderen europäischen Kolonialmächten äußerst brutal. Die Kolonisator*innen betrogen oder erpressten die indigene Bevölkerung und konnten so Grundbesitz in den Kolonien erlangen. Die Europäer*innen sahen sich selbst als „Herrenmenschen“, die der „Rasse“ der Afrikaner*innen überlegen seien und die Ureinwohner*innen zu einem zivilisierten Leben erziehen müssten. So wurden die koloniale Herrschaft und das gewaltsame Niederschlagen von Protesten der Afrikaner*innnen moralisch legitimiert. Die deutschen beuteten die Ureinwohner*innen aus und zerstörten ihre Kultur. Ein versuchter Aufstand der Herero und Nama, zwei indigener Volksgruppen in Deutsch-Südwestafrika, dem heutigen Namibia, endete mit einem Genozid der Deutschen an den beiden Stämmen. Die deutschen trieben die aufständischen Volksstämme in eine Wüste, vergifteten deren Brunnen und erschossen diejenigen, die zu fliehen versuchten. Kaum jemand überlebte. Dieser Massenmord war einer der ersten Genozide des 20. Jahrhunderts. Die Deutschen errichteten in Deutschsüdwestafrika zudem Konzentrationslager, in denen die einheimische Bevölkerung zu Zwangsarbeit gezwungen wurde. Sie dienten als Vorbild für die Konzentrationslager des Nationalsozialismus.

Erste Aufarbeitungsversuche

Heute ist das Thema Kolonialismus in Deutschland, ebenso wie in den übrigen ehemaligen Kolonialmächten, kaum präsent. In den letzten Jahren sind jedoch erstmals Forderungen nach Aufklärung und nationaler Erinnerung in größerem Maße aufgekommen und publik geworden. Unter der letzten Bundesregierung wurde 2017 eine Aufarbeitung der deutschen Kolonialzeit erstmals in einem Koaltionsvertrag festgehalten.

Verhandlungen mit Namibia

Ein Jahr später waren die Verhandlungen der Bundesregierung mit Namibia über eine Entschädigung für den Genozid an den Herero und Nama die einzigen derartigen Verhandlungen zwischen ehemaligen europäischen Kolonialmächten und ehemaligen Kolonien überhaupt. Mittlerweile liegt hierzu ein Vertragsentwurf vor, der jedoch äußerst strittig ist. Er sieht eine offizielle Entschuldigung Deutschlands und 1,1 Millionen Euro Entwicklungshilfe als Entschädigung vor. Die namibische Regierung verlangt jedoch deutlich höhere Zahlungen, während die Bundesregierung nicht bereit ist, den Vertragsentwurf neu zu verhandeln. Lediglich eine Überarbeitung ist für sie diskutabel. Zudem klagen der namibische Oppositionspolitiker Bernadus Swartbooi und Vertretendenverbände der Herero und Nama in Namibia gegen den Vertragsentwurf, der dem namibischen Parlament nicht zur Abstimmung gegeben wurde. Im Entwurf ist nämlich außerdem verzeichnet, dass zusätzlich zu den 1,1 Millionen Euro Entwicklungshilfe keine weiteren Entschädigungen gefordert werden dürfen, sodass die Herero und Nama keine Zahlungen erhalten würden. Der Anwalt der Klagenden argumentiert, dass diese Entscheidung aufgrund ihrer weitreichenden Konsequenzen nicht ohne Zustimmung des Parlaments hätte getroffen werden dürfen.

Geraubte Kultur

Ein weiteres Diskussionsthema ist die Rückgabe in der Kolonialzeit geraubter afrikanischer Kulturgüter, die bis heute in deutschen Museen ausgestellt werden. Nach mehrjährigen Verhandlungen wurden 2022 20 Benin-Bronzen an Nigeria zurückgegeben, die von britischen Kolonisator*innen aus dem Königreich Benin im heutigen Nigeria geraubt und von Deutschen gekauft und bis vor kurzem in deutschen Museen ausgestellt worden waren. Forderungen nach Rückgabe solcher Gegenstände existieren in etlichen weiteren Fällen. Deutsche Museen stehen dem oft kritisch gegenüber und argumentieren, sie würden die Objekte seit Jahrzehnten sicher verwahren und hätten so dafür gesorgt, dass sie noch existieren würden. Der deutsche Historiker Jürgen Zimmerer entgegnet dem, dass ethnologische Museen von Anfang an politisch gewesen seien und ihre Entstehung mit dem Kolonialismus eng in Verbindung stünde. Der Kameruner Historiker und Philosoph Achille Mbembe kritisiert zudem im Hinblick auf die europäische Migrationspolitik, dass europäische Museen den Afrikaner*innen ihre Kulturgüter vorenthalten würden, wenn sie diese, wie momentan, in ihren Museen für die meisten Afrikaner*innen unerreichbar verwahren würden. Er erklärt jedoch auch, dass keine Rückgabe sämtlicher Raubgüter gefordert werde. Stattdessen plädiert er für eine Präsentation der Gegenstände an verschiedenen Orten in Europa und Afrika. Gerade für junge Afrikaner*innen sind ohnehin oft Zukunftsfragen wichtiger als die Rückgabe von Gegenständen aus der Vergangenheit. Auch virtuelle Rückgabe in Form von Digitalisierungen können sich viele vorstellen. Allerdings ist vielen auch wichtig, dass Deutschland und Europa anfangen, sich mit afrikanischen Kulturen zu beschäftigen und nicht nur mit der Rückgabe von Gegenständen. Hierbei sehen Expert*innen große Rückschritte seitens Europa.

Mangelnde Präsenz in Deutschland

In Deutschland ist das Thema Kolonialismus heute dennoch in vielerlei Hinsicht nur von marginaler Bedeutung. Es gibt keinen zentralen Gedenkort für die Opfer und Straßennamen und Gedenkstätten ehren weit häufiger die Täter*innen als sie. Auch in der schulischen Bildung wird das Thema nur kurz angerissen, während die Verbrechen des Nationalsozialismus und der SED-Diktatur deutlich intensiver behandelt werden. So ist das Thema auch in der Gesellschaft kaum relevanter Diskussionsgegenstand.

Fazit

In den letzten Jahren ist das Thema Kolonialismus und koloniale Aufarbeitung in Deutschland etwas präsenter geworden und es gibt erste Bemühungen für Wiedergutmachungen. Dennoch sehen Expert*innen und Opfer weiterhin großen Handlungsbedarf und Entschädigungen werden in Deutschland auch kritisch betrachtet.

Beitragsbild: Kevin Olson auf Unsplash