Buch-Lesungen in Deutschland – das ist ein Thema für sich. Nichts ist schlimmer als ein krampfhaftes Lesen, bei dem die Betonungsversuche denen einer Drehorgel ähneln. Immer und immer wieder wird geleiert und geleiert. Irgendwer wird schon die Bücher kaufen. Spätestens die müde Diskussion im Anschluss bestätigt die Fragwürdigkeit. Da liegt der Knackpunkt. Es geht um den Verkauf. Schaut man sich um, so verstehen andere Länder unter einer Lesung das begeisterte Zitieren aus bekannten Werken der Freude und des Nachdenkens wegen. Das krasse Bild einer sehr gelungenen Lesung gelang heute an diesem Mittwoch dem emeritierten Professor Walter Baumgartner.
Aus den staubigen Tiefen des Uni-Archivs zauberte der Professor für neuere skandinavische Literatur barocke Dichtkunst hervor. 300 Jahre schlummerte sie dort wie Dornröschen, welche aber nicht so lange auf ihr Erwachen warten musste. Diese Gedichte stellte er in einer Anthologie zusammen, die nun als Weihnachtsgeschenk zu haben ist. Nach einer musikalischen Einleitung, in der Werke von pommerschen Komponisten präsentiert wurden, beschrieb er den Inhalt seiner dichterischen Schatztruhe. Wie kostbare Perlen zeigte er dabei ein paar Kostproben. Es dreht sich hier um Hochzeitgedichte. Dabei ist es heute eigentlich kaum mehr vorstellbar, dass man bei Hochzeiten das Brautpaar mit Gedichten beschenkt. Barocke Lieder kennen wir alle. Im 16. Und 17. Jahrhundert entstanden Weihnachtslieder, die heute noch gesungen werden. Aber Hochzeitsgedichte? Baumgartner erwähnt, dass die praktisch nicht vorhandene Orthographie und die gotische Schrift das Lesen dieser Zeilen doch stark erschweren. Heute benötigt man außerdem biblisches Wissen, und man muss mit diversen Götternamen etwas anfangen können. Im Buch werden aber alle unbekannten Sachen erläutert, da das Buch nicht nur für Fachleute geschrieben worden ist. Es ist für alle, die pommersche Kultur und Geschichte im Sinn haben. Es sind Texte zum Schmunzeln und Lachen. Anstößigkeiten gibt es ebenso. Unter den Autoren befinden sich übrigens auch die Greifswalder Sibylla Schwarz und Ludwig Gotthard Kosegarten. Die anderen Zeilen stammen aus unbekannten Federn von Dozenten. Damals war es noch üblich, dass Lehrende an der Uni dichten konnte. Welch eine Tugend! Wir reden hier von einer Zeit, der die Gräueltaten des Dreißigjährigen Kriegs noch in schmerzhafter Erinnerungen. So lustig die Werke auch sein mögen, sie enthalten auch die Vanitas-Motive. Die Vergänglichkeit und der Tod spielten in der Barock-Literatur und Dichtung eine große Rolle. Darüber hinaus reden wir hier von einer Zeit, in der es nicht üblich war, seine Geliebte heiraten zu dürfen. Zweckehen prägten das Bild. Daher kommt auch die Widersprüchlichkeit, die bewusst im Text aufgenommen wurde. Keusche Liebesbrunst – es ist ein Oxymoron. Es steht für echte Hochzeitsgedichte – aber für falsche Liebeshochzeiten. Es geht um Gedichte über den Eifer der Lust, obwohl alles unter der Gürtellinie zwar nicht tabu, aber jede Auseinandersetzung mit dem Thema in der Öffentlichkeit nicht erwünscht war. Zur Veranschaulichung trugen anschließend Schauspieler vom Studententheater „StuThe“ mit einer kleinen Inszenierung noch Gedichte aus dem Buch Baumgartners vor. Danach gab es noch einmal schönste Barock-Dichtung in musikalischer Form, bevor der Run auf den Verkaufsstand begann.