Jeden Montag ist der Marktplatz voll. Zwischen 400 und 700 Menschen versammeln sich und stehen sich in zwei Lagern mehr oder weniger unversöhnlich gegenüber. Es geht um die Frage: Sollen wir (noch mehr) Flüchtlinge aufnehmen, oder nicht?
Die Gruppe, die mit den Montagsdemonstrationen begonnen hat und sich ursprünglich „Greifswald wehrt sich“ nannte, heißt inzwischen „Frieden, Freiheit, Demokratie, Gerechtigkeit“ (FFDG) und demonstriert in erster Linie gegen „Die da oben“. Dem steht „Greifswald für alle“ gegenüber.
„Da schreien sie schon wieder, diese Jammerlappen“ höhnt ein Demonstrant auf dem Weg zur FFDG-Demo, die sich dieses Mal zum Ziel gesetzt hat, Obdachlosen zu helfen, weil der Staat das nicht tut. Er trägt zusammen mit seinen Mitstreitern ein Banner mit der Aufschrift: „Ehrliche Nachrichten, friedliche Zusammenarbeit mit Russland und Rüstungsabbau“.
Die meisten Menschen, die sich ansammeln, wirken eher wie jene, die nach Antworten auf sich immer mehr aufzudrängenden gesellschaftlichen Fragen zu suchen scheinen. Menschen, die Vertrauen in die Regierung und Medien verloren haben.
In der ersten Reihe vor dem Rednerpult gruppieren sich allerdings auch etwa zehn junge Männer mit Glatze, die sich ganz gut in das Klischeebild vorpommerscher Neonazis einordnen lassen würden. Auch jenseits dieser Gruppe mischt sich unter den etwa 150 Anwesenden noch der eine oder Andere, der eher den Eindruck erweckt, bei Wahlen sein Kreuz ganz woanders zu machen, als bei einer demokratischen Partei.
Strippenzieher im Hintergrund
Doch für den Hauptredner der Versammlung, Norbert Kühl, spielt das keine Rolle. „Der Feind steht nicht rechts und auch nicht links! Der Feind sind die Strippenzieher im Hintergrund!“ ruft Kühl von den Freien Wählern in die Menge. Außerdem gäbe es keine „Rechten“. Vielmehr solle das Volk durch die Einteilung in die politischen Lager „links und rechts“ gegeneinander aufgewiegelt werden, was man auf dem Greifswalder Marktplatz besonders eindrucksvoll sehen könne. „Wenn man einen von denen da drüben fragt: ‚Wie definieren Sie rechts?‘ finden sie keine Antwort darauf. Weil es keine Antwort gibt.“ Schließlich sei es ganz normal, dass der eine eben eine „nationale Einordnung“ habe, das sei Teil unserer „bunten Gesellschaft“. „Der andere hat vielleicht mal in der Jugend einen Fehler gemacht und wird deshalb jetzt als Nazi bezeichnet“, wird sich gegen den Vorwurf, es seien Nazis in den eigenen Reihen auszumachen, gewehrt.
Und obwohl es kein „rechts und links“ aus Sicht des Redners gäbe, wendet er sich immer wieder gegen „die Linken da drüben“. Also gibt es nur keine „Rechten“ und dafür aber „die Linken“?. Und „Die Linken da drüben“ würden schließlich beweisen, dass es „keine Demokratie gäbe.“ „Sie kommen hier her, fangen an zu studieren und leben in einer Traumwelt“, wendet sich jener mit den Worten an sein – wie er vermutet – vorwiegend nicht akademisches Publikum.
Auf den ersten Blick mag es merkwürdig erscheinen, dass ein Mensch derart redlich bemüht ist, zu leugnen, dass es Menschen gibt, die menschenverachtende Vorstellungen vertreten und als rechtsradikal angesehen werden. Doch unter der illustren Runde besorgter Bürger wurde webmoritz-Informationen zu Folge der verurteilte Neonazi und ehemalige NPD- Kreisvorsitzende Maik Spiegelmacher gesehen.
Flüchtlingsfrage ist Kernstück der Demo
Während auf den Plakaten und Bannern Losungen wie „Frieden, Freiheit, Demokratie, Gerechtigkeit“ oder „Merkel muss weg“ ebenso zu lesen ist, wie „US-Atomwaffen raus aus Deutschland“, scheint die derzeitige Flüchtlingsfrage wohl das drängenste Problem zu sein.
„Ich bin wegen den Ausländern hier“, sagt eine alte Dame selbstbewusst ins Mikrofon. „Ich bin dafür, dass die Deutschen die Mehrheit im Volk bleiben!“ – Tosender Beifall vor allem von den glatzköpfigen Patrioten. „Ich bin für meine Enkel hier“, erklärt sich eine Großmutter. „Ich will, dass in Deutschland auch in Zukunft noch Deutsch gesprochen wird!“, sorgt sie sich um den Verlust des Deutschen in Deutschland. Sie ist nicht die Einzige mit solchen Sorgen. Auch die NPD trägt seit Beginn ihrer Gründung diese Sorge um den Verlust des Deutschtums mit sich.
Naumann unternimmt in Anbetracht derart klarer Worte einen vorsichtigen Versuch der Distanzierung und meint, jeder könne auf dieser Demo seine Meinung frei äußern und es handele sich hierbei um eine Einzelmeinung. Dennoch scheinen seine übrigen Redebeiträge an die Aussage der beiden alten Damen anzuknüpfen. Zwar wird sich zunächst über die „verräterische Regierung“ aufgeregt, es wird auch „Amis go home“ gefordert und postuliert, die Bundesrepublik würde in ein „totalitäreres Regime“ schlittern, als es die DDR gewesen sei.
Dennoch spielt das, ebenso wie die US-Atomwaffen nur zu Beginn eine Rolle. Zwischendurch gehen einige Menschen der FFDG-Gruppe mit einer Spendendose für Obdachlose umher und sammeln. Schließlich würde der Staat nichts für jene tun. In Anbetracht der Tatsache, dass man sich dennoch hauptsächlich mit der Flüchtlingsfrage auseinandersetzte, drängt sich schon fast der unausgesprochene Satz: „Aber den Flüchtlingen, denen wird geholfen“, auf.
Zumal der Hauptredner die Diskussion um Flüchtlinge ohnehin ganz anders sieht. Die meisten „Asylanten“ kämen aus „sicheren Drittländern“: „Wir haben kein Asylantenproblem, sondern ein Migrationsproblem.“ Dass nach ARD-Informationen etwa 2,9 Millionen Syrer zur Zeit vor dem Bürgerkrieg fliehen und der Flüchtlingsstrom nach Europa hauptsächlich aus Syrern besteht, also aus Menschen, die vor einem Bürgerkrieg auf der Flucht sind, darüber wird indes kein Wort verloren. Unter den im Laufe des vergangenen Tages in Greifswald eingetroffenen Flüchtlingen befinden sich übrigens derzeit unbestätigten Informationen zu Folge bis auf Ausnahme einer einzigen Person Syrer. Jene Einzelperson kommt aus der Ukraine. Ein Land, das gewiss auch nicht als „sicheres Drittland“ angesehen werden kann.
Neue Verfassung gefordert
Zur Frage nach der Deklaration der Bundesrepublik Deutschland als „Einwanderungsland“ wird gemeint, dass auf Grundlage von Artikel 146 des Grundgesetzes das Volk der Bundesrepublik Deutschland zu entscheiden habe, ob Deutschland ein Einwanderungsland sein soll, oder nicht.
Artikel 146 des Grundgesetzes besagt:
„Dieses Grundgesetz, das nach Vollendung der Einheit und Freiheit Deutschlands für das gesamte deutsche Volk gilt, verliert seine Gültigkeit an dem Tage, an dem eine Verfassung in Kraft tritt, die von dem deutschen Volke in freier Entscheidung beschlossen worden ist.“
Kernstück ist folglich die Forderung nach einer neuen Verfassung, bei der jedoch eindeutig geregelt sein solle, ob Deutschland sich Einwanderung öffnet, oder nicht. In Richtung der „Greifswald für Alle“-Demo, denen die FFDG „faschistoides Denken“ und „Demokratiefeindlichkeit“ vorwirft, wird ein Banner aufgehängt, auf dem geschrieben steht: „Gruß derHGW-Patrioten zum Jahrestag in DD und Köln“, eine Grußbotschaft an die rechtspopulistische Pegida-Bewegung.
Die große patriotische Walze
Nicht alle Demonstranten sind „rechts“, oder gar „Neonazis“. Die meisten vermutlich nicht. Doch sie setzen sich jeden Montag rechtspopulistischen Parolen aus und fühlen sich damit in ihren Ängsten bestätigt. Ihre Ängste werden weiter geschürt. Und somit die Angst vor „Fremden“. Je größer die Angst wird, desto mehr kann Angst in Hass umschlagen. Und je kleiner Berührungsängste gegenüber Rassisten werden, desto eher ist man bereit, sich mit ihnen anzufreunden.
Die Demonstration begann mit den Worten Heinrich Heines: „Denke ich an Deutschland in der Nacht, bin ich um den Schlaf gebracht.“ Insgesamt erweckt die Veranstaltung den Eindruck, als würden Sorgen und Ängste innerhalb der Bevölkerung in eine Richtung kanalisiert, die den gesamtgesellschaftlichen Frieden und vor allem Menschlichkeit und Nächstenliebe mehr ins Wanken bringen könnte, als die derzeitige Überforderung mit der gegenwärtigen Flüchtlingssituation, welchem sich die Regierung ausgesetzt fühlt.
Mit Pegida, FFDG, MVGida, Legida und wie die als „besorgte Bürger“ bezeichneten rechtspopulistischen Bewegungen genannt werden, wurde die „große patriotische Walze“, wie es der Schriftsteller Erich Mühsam wohl ausdrücken würde, erneut ins Rollen gebracht. Und Heinrich Heine würde in Anbetracht einer solchen Entwicklung wohl sagen: „Denke ich an Deutschland in der Nacht, bin ich um den Schlaf gebracht.“ Seine Bücher wurden unter Anderem von den Vorgängern jener zehn Patrioten verbrannt, die „eben eine nationale Einordnung“ haben oder in der „Jugend vielleicht einmal einen Fehler gemacht haben und deshalb jetzt als Nazis bezeichnet werden.“
Auf der Demonstration der Gruppe „Frieden, Freiheit, Demokratie, Gerechtigkeit“ wurden auf einem Banner „ehrlichen Nachrichten“ gefordert. „Ehrliche Nachrichten“ sind leider immer subjektiv. Denn wer „objektiv“ ist, oder „neutral“ bleiben will, bezieht keine Position, bleibt also immer ohne Rückgrat. Der Autor möchte hiermit der Forderung nach „ehrlichen Nachrichten“ nachkommen, also mit Nachrichten, die der Auffassung der Wahrheit des Autors entspricht, auch wenn der Inhalt den Bannerträgern mit Sicherheit nicht gefallen wird.
"„Greifswald grüßt Dresden und Köln" ist wie der Autor richtig erkennt, einerseits eine Grußbotschaft an die rechtspopulistische Pegida-Bewegung, andererseits — und dieser Punkt ist viel zu relevant, als dass man ihn unter den Tisch kehren sollte, ist es auch eine eindeutige Grußbotschaft an die islamophoben Hooligans der HoGeSa, die im Oktober 2014 mit einer gewalttätigen Demonstration auf sich aufmerksam machte. https://de.wikipedia.org/wiki/Hooligans_gegen_Sal…
Denn wer „objektiv“ ist, oder „neutral“ bleiben will, bezieht keine Position, bleibt also immer ohne Rückgrat.
So erklärst du die hier meist nicht mehr vorhandene Trennung zwischen Bericht und Kommentar?
Ja; für diese Form des Schreibens gibt es sogar einen Begriff: "New Journalism" oder – wenn er absolut subjektiv, also mit einem "Ich-Erzähler" ausgestattet wird und der Unterschied zwischen Journalismus und Literatur kaum noch erkennbar wird, wird es auch als "Gonzo" bezeichnet (Hunter S. Thompson hatte den Begriff geprägt). In beiden Fällen wird die Auffassung vertreten, dass es keine "objektive Berichterstattung" geben kann; schon alleine deshalb nicht, weil man immer irgend etwas weglassen muss. Das Streben nach allzu großer Objektivität, das als "Objektivitätsdogma" bezeichnet wird, führt im Zeitungsjournalismus häufig dazu, dass bei gesellschaftlich relevanten Themen gar keine Position mehr bezogen wird.
Und ja, das meine ich mit "ohne Rückgrat". Im Übrigen handelt es sich hier um eine Reportage, d.h. eine subjektive Färbung ist in jedem Fall erlaubt. Diese ist tatsächlich sehr subjektiv. Doch wenn Du Dir die Sprechertexte in Fernsehreportagen durchliest, wirst du feststellen, dass hier ebenso stark gewertet, eingeordnet und analysiert wird, wie im obigen Text. Doch dadurch, dass Du in diesem Fall nicht nur auf den Text, sondern in erster Linie auf die Bilder achtest (die entsprechend gewertet, eingeordnet usw. werden), achtest du automatisch nicht mehr so stark darauf und es fällt dir eher weniger auf, als bei obigen Text.